von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Viele Flaschen Sekt von Lutter, Wegner, Offenbach, ein Löffel Gift aus Belgien und Frau Lunas Pulle Kindl-Bier …
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Bei den nächtlichen Gelagen des Herrenstammtischs um den berühmten und hinsichtlich seiner Eskapaden berüchtigten Dichter E.T.A. Hoffmann im Weinhaus Lutter & Wegner am Berliner Gendarmenmarkt (heute wieder an fast gleicher Stelle ein Edel-Restaurant), da ging es natürlicherweise vornehmlich um die beträchtliche Zufuhr von Alkohol. Doch der führende Alkoholiker war der Musiker, Zeichner und Schriftsteller mit den drei Großbuchstaben als besonderes Kennzeichen vorm Allerweltsnamen (1775–1822). Und der war ein begnadet dichtender Romantiker. Also jemand, der nicht bloß dem Diesseitigen heftig zugetan ist, sondern erst recht dem Abseitigen und Jenseitigen, den Träumen und Albträumen, dem Aberwitzigen und Absurden. Und weil E.T.A. ein geiler Kerl war, spielten in all seinen sagenhaften Poetereien drastische Männerfantasien mit.
Also Männer, Suff, Frauen. Was sich da alles zusammen spinnen und wünschen lässt. Und wie sich das seltsam vermischt, das sehnsuchtsvolle Leben und das feuchte Träumen, die Besessenheit und die Liebe. Und wie sich das Wirkliche verspiegelt in Kunst mit der gierig umschwärmten Weiblichkeit im Mittelpunkt, diesen Künstlerinnen, Diven, Stars, die nicht nur beim Gläserkippen in eins fallen mit dem angehimmelt einen, unberührten Püppchen. In dieser Figur mischen sich denn Kurtisane, Unschuldsengel, Opernstar. Da steigert sich die Runde der Schön- und Weingeister um den verrückten Macho-Märchenonkel Hoffmann beim Flaschenleeren in Berlins sagenhaftem Trink- und Fresskeller gar heftig hinein ins sexuelle Schwadronieren, groteske Aufschäumen, gruselige Erschauern.
Die Franzosen Jules Barbier und Michel Carré haben aus diesem Sex-Crime-Horror-Mix ein erotisch grell und zugleich gespenstisch grundiertes Schauspiel gemacht – die Vorlage fürs Libretto „Hoffmanns Erzählungen“. Und dieses höhere Stammtischgerede veroperte der frankophile Kölner Komponist Jacques Offenbach. Seine Fantastische Oper in fünf Akten „Les Contes d’ Hoffmann“ schwelgt in so dramatisch kompakten wie betörend lieblichen Melodeien; uraufgeführt anno 1881 in Paris.
Da gibt es die Damen Olympia, Antonia, Giuletta, das Trio der einen Begierde, dazu allerhand himmlisches oder höllisches Figuren-Gelichter, das da um den letztlich bedauernswerten Häuptling Hoffmann, um dessen Muse und Trinkgenossen kreist, wallt, wabert. Ein wie im Rausch hin erzähltes, ziemlich unübersichtliches Anekdotengespinst aus Fantasy und Psycho, Groteske und Tragik (doch Hollywood und Siegmund Freud kamen erst später).
Das ist für jeden Regisseur eine Herausforderung: Nämlich das Sinnige, Sinnliche und Aberwitzige in eins zu bringen, die anekdotischen Erzähl-Schnipsel triftig zusammenzufügen. An der Sächsischen Staatsoper zu Dresden instrumentierten Regisseur Johannes Erath und Bühnenbildnerin Heike Scheele den gigantischen Bühnenapparat vom Semper-Palast. Viel Video, viel parallel Erzähltes, Verspiegeltes – ein grandioses Vexierspiel, doch leider nicht durchweg kapierbar. Stattdessen überraschen immerzu optische Obsessionen aus Licht und Film. Dazu das Bewundern eines höchste Schneiderkunst feiernden Kostüm-Tsunamis (Gesine Völlm). Doch trotz all dieser hinreißenden Schönheiten: Die Regie verirrte sich immer wieder selbst im von ihr inszenierten fantastischen Irrgarten.
Also Genuss fürs Auge (schade, weniger für den Grips). Und, wie sichʼs ziemt im Operngehäuse, Genuss fürs Ohr: Solisten, Chor, Kapelle (Frédéric Chaslin) – bewundernswert alle zusammen! Dafür hätte Premierenjubel ausbrechen müssen. Er sei hiermit nachgeholt.
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Chris Dercon, designierter Chef der Berliner Volksbühne und als Nachfolger von Frank Castorf schon jetzt heftig angefeindet, dieser Mann aus Belgien, Jahrgang 1958 mit schöner grauer Löwenmähne und kluger schwarzer Brille, hatte kürzlich einen seiner so seltenen öffentlichen Auftritte in der Botschaft Belgiens. Also auf heimatlichem Boden im ihm offensichtlich noch immer fremden oder besser: befremdlichen Berlin.
Zunächst einmal stellt er sarkastisch klar, er komme aus London (Chef der Tate Modern), komme aus dem Kunstmarkt und sei folglich schuld am Brexit (und am Klimawandel) und werde beschimpft als Neoliberaler, stehe mithin für touristenkompatible Eventkultur (so der hauptsächliche Vorwurf). Dabei befinde er sich doch auf nichts weiter als gänzlich auf der Höhe der Zeit mit seinem enorm erweiterten Kulturbegriff, für den Berlin (die Volkbühne) scheinbar nicht bereit sei. Vor zwei Jahren noch, wettert Dercon, sei die Stadt kosmopolitisch; jetzt sei sie wie das Athen von heute – fünf Schritte vor und vier nach hinten. Dercons Berlin ist also nicht arm und sexy und auch kein intellektuelles Zentrum mehr, sondern rückschrittlich, nicht innovativ. Wow, das hat gesessen.
Wie überhaupt, so sein giftiger Rundumschlag, die deutsche Theaterszene regressiv sei. Und deren Hauptstadt nicht bereit sei für seinen besagt weiten Kulturbegriff, der, aufs Theater bezogen, die Mitwirkung aller Künste sowie des akut Politischen vorsieht (was freilich nichts Neues ist, schon gar nicht an Castorfs Volksbühne).
Und jetzt erst wisse er, es gebe gewisse Theaterkritiker und Theatermacher, die in Deutschland engstirnig nur deutsches Theater machen wollen für deutsche Städte und deutsche Kultur. Er hingegen sei nicht derartig identitätssüchtig und wisse nicht, ob er da Berlin noch helfen könne. Denn er stehe für das Motto „Think global and fuck local.“
Aha, ich begreife: Deutschland mitsamt seiner überreichen einzigartigen, alle Provinzen überspannenden Theaterlandschaft ist provinziell bis reaktionär. – Doch Chris Dercon sollte bitte begreifen, dass dieser flächendeckende, wesentlich vom Steuerzahler finanzierte und Identität stiftende Theaterbetrieb für eben diesen Zahlmeister da ist und für ihn spielt; die Vielfalt der „local” Spielpläne ist sichtlich enorm. Da steckt reichlich „global” drin.
Was also soll das ganze große, fundamentalistische Schmäh-Theater? Und was wird das Berliner Dercon-Global-Theater wirklich wollen in oder neben der Volksbühne (Dercon schwärmt von einer Extra-Arena-Bühne im still gelegten Flughafen Tempelhof)? Oder will er – fuck local – etwa nicht mehr? Vorhang zu und statt eines konkreten Konzepts noch immer alle Fragen offen.
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Alles was einigermaßen Rang und Namen hat im europäischen Entertainment-Betrieb muss sich mal im Tipi getummelt haben, dem kultigen Zelt fürs intime Show-Format dicht am Kanzleramt. Doch diesmal wollte man das feine kleine Glitzerkleid sprengen und deutlich höher und auch breiter hinaus mit Paul Linckes „Frau Luna“ als großem Knaller zum Jahresende. Denn immerhin: Die piefkehaft kalauernde Berlin-Burleske über fantasiebegabter kleiner Leute Mondfahrt warf der sagenhafte Paule mit seiner genialen Parade der (Berlin-)Hits in die Berliner Luft, Luft, Luft hinauf bis in die Unsterblichkeit.
Ohne Frage, dieses kompositorische Meisterwerk ist so unkaputtbar wie seine schlichte Story mit der immergrünen Daseinsregel, nach der es bei Muttern daheim in der Mietsmansarde allemal besser ist als bei einer schicken Lady weit draußen oben im Mond. Und so erfreut man sich denn an den komischen Fremdgeh-Versuchen und artig erotischen Abenteuerlichkeiten nebst Ballett-Einlagen, und die sind wahrlich ein Augenschmaus. Ansonsten hopst und trällert die gefühlt komplette Kreuzberg-Charlottenburger Kleinkunstszene was das Zeug hält in dieser wilhelminischen Fantasy-Klamotte. Und obendrein die Spitze der Szene; hier die VIP-Liste: Die Geschwister Pfister (Andreja Schneider echt klasse in der Titelrolle, Christoph Marti als mühselig kleinkarierte Tunte Pusebach und Johannes Roloff diesmal als exquisiter musikalischer Leiter); weiter Gustav Peter Wöhler, Benedikt Eichhorn, Thomas Pigor, Cora Frost, Gert Thumser, Max Gertsch, Sharon Brauner und Anna Maria Scholz. Und diese sächselnde Anna Maria aus Dresden ist eine echt umwerfende Komödiantin mit einer Riesenröhre zum kräftig Töne schmettern. Eine tolle Entdeckung für Berlin, dabei hat sie bereits drei Kunstpreise kassiert, einen davon in Salzburg. Barrie Kosky, Komische Oper, bitte hingeschaut und hingehört! – Ach, und dann gibt es noch die neun zauberischen, neun tollen, neun klassisch durchtrainierten sexy Mondelfen (Choreographie Christoper Toelle).
Inszeniert hat die Traumreise eines Kollektivs von arg holpernd Berlinernden (alles Zugereiste) auf des Weibes Mond Bernd Mottl, ein Großer der Brettl-Kunst. Handwerklich ist alles prima in Ordnung; aber doch: Andernorts hat mich dieser im eher Abwegigen so herrlich bewährte Regisseur schon mehr begeistert. Dafür prunkt die Ausstattung von Friedrich Eggert (Szene) und Heike Seidler (Kostüme) im Glamour. Und Heinz Bolten-Baeckers sorgt mit seiner unaufgeregt kalauernden Textfassung für ordentlich Lacher. Schade nur, dass die feine, geradezu elegante Orchestrierung immerzu überlappt wurde durchs Humptata-Geklatsche eines unentwegt enthusiasmierten Publikums. Trotzdem, die Chose geht durch als prima Weihnachtsgeschenk oder Jahresend-Rausschmeißer. Deftig bierschäumend; sozusagen Molle mit Korn. Und das gilt ja längst als cool originäres Berlin-Berlin. – So rufen wir denn launig und in Reichstagsnähe ein von Rülpsern freies Prosit (Weihnachtsmann und Neujahr) hinaus in die Welt sowie auf unser neues Urberliner Lincke-Luna-Kindl!
Schlagwörter: Berlin, Chris Dercon, Dresden, E.T.A. Hoffmann, Jacques Offenbach, Paul Lincke, Reinhard Wengierek, Theater