19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

Bemerkungen

Der Herr Karl trat ab

Er gehörte zu den großen Theatermachern Berlins und wurde 2002 aus der Stadt getrieben wie der letzte Spitzbube. Die Rede ist von Heribert Sasse, dem österreichischen Schauspieler und langjährigen Berliner Theaterintendanten. Von 1980 bis 1985 leitete er das Renaissance-Theater, wurde dann Generalintendant der Staatlichen Schauspielbühnen – neben dem kleinen Steglitzer Schlosspark-Theater gehörte das West-Berliner Theaterflaggschiff Schiller-Theater zum Verbund. Dass Letzteres am Ende jenes Jahrzehnts des Umbruches nicht nur aber vor allem dank der nun Gesamt-Berliner Theaterlandschaft ins Trudeln geriet, war nicht unbedingt Sasse anzulasten – einer „Viererbanden“-Intendanz (wie sie auch am Berliner Ensemble Schiffbruch erlitt) entzog er sich konsequent. 1993 wurde das Schiller-Theater abgewickelt, das Haus führt seither ein mehr oder weniger ungeliebtes  Dasein als „Ersatzspielstätte“.
Heribert Sasse versuchte nun sein Glück als Betreiber eines kleinen Privattheaters – eben jenes Schlosspark-Theaters, in dem unter Boleslav Barlog einmal Berliner Nachkriegs-Theatergeschichte geschrieben wurde. Sasse wollte mit qualitativ hochwertigen Darbietungen klassischer Schauspielkunst ein als bürgerlich geltendes Stammpublikum an das Haus binden und zugleich jüngere Publikumsschichten gewinnen. Das konnte aufgrund einer vollkommen unzureichenden Finanzausstattung nicht gelingen, der Prinzipal stürzte sich in die Verschuldung.
Heribert Sasse wusste, dass gutes Theater ohne Subventionen nicht zu machen ist. Der Berliner Senat ließ ihn trotz öffentlichen Schulterklopfens im Stich. Die gegebenen Finanzierungszusagen wurden nicht eingehalten, stattdessen tyrannisierten ihn landesbehördliche Kassenwarte. Sasse geriet zwischen alle politischen Mühlsteine, zwischen die man in Berlin geraten kann. 2002 kam dann das endgültige Aus: Ein unter hinterfragenswerten Umständen zustande gekommenes Gutachten senkte mit zweifelhaften Argumenten den Daumen. Der seinerzeitige Kultursenator folgte diesem in doppeltem Wortsinne anstandslos. Am 4. März 2002 hatte Sasse vor dem Berliner Kulturausschuss einen letzten, sehr verzweifelten Auftritt: „Ich bin nur aus Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern gekommen.“ Es nutzte ihm nichts. Er verließ mit gebrochenem Herzen die Stadt.
Wer ihn einmal unmittelbar erlebt hat, wird wohl den bohrenden Blick nie wieder los, mit dem er sein Gegenüber taxierte. Das enorme Potenzial an Wissen um die Abgründe, die sich in Menschen auftun können, das er so gewann, floss in seine Glanzrollen ein: Helmut Qualtingers „Herr Karl“ brachte er über 200 mal auf die Bühne, Brechts Arturo Ui (Sasse platzierte 1983 im Renaissance-Theater die erste Inszenierung des Stückes außerhalb des Berliner Ensembles in der Stadt) spielte er gute 300 mal. Unmenschlichkeit gegenüber konnte er gnadenlos sein – Figuren jedoch, die von so manchem um des billigen Applauses wegen nur als Karikatur geboten werden, vermochte er Szene um Szene ihr menschliches Angesicht wieder zu verleihen: So wenige Monate vor dem erzwungenen Ende seines Hauses als Argan in Molieres „Der eingebildete Kranke“. Ihm zur Seite eine grandiose Jenny Gröllmann als gewitzt-charmante Toinette, eine ihrer letzten großen Rollen auf einer Berliner Theaterbühne. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er der Gröllmann das ermöglichte.
Am 19. November trat Heribert Sasse endgültig von den Brettern dieser Welt ab. Irgendwie scheint mir, geschah dies mit leichter Verbeugung, das obligate rote Einstecktüchlein am Jackett – und für einen kurzen Moment wird jenes für ihn so typische Blitzen zwischen Taxieren und schelmischer Zustimmung im Auge aufgeleuchtet haben. Unseres ist gefüllt mit Tränen…

Wolfgang Brauer

Hilfe für Whistleblower

Aktivitäten für Whistleblower sind nicht sehr reich gesät, gute Nachrichten noch seltener – daher soll hier von der Initiative des gemeinnützigen Whistleblower-Netzwerks e.V. (WBNW) berichtet werden. Das Netzwerk setzt sich für Whistleblower und ihren gesetzlichen Schutz ein, um jedem das freie Aufdecken von Missständen ohne Angst vor Repressalien zu ermöglichen. Dank einer Einlage des Dresdner Unternehmers Markwart Faussner wurde jetzt ein Rechtshilfefond mit einem Startkapital von 25.000 Euro gebildet.
Das ist ein Anfang. Der eigentlich für den Schutz von Hinweisgebern zuständige Staat lässt mit Hilfe und wirksamer Gesetzgebung weiter auf sich warten.
Die Beispiele Edward Snowden und Chelsea Manning haben einer großen Öffentlichkeit gezeigt, wie wenig das Tun der Whistleblower Schutz genießt, eher wie die gesamte persönliche Existenz bedroht wird. Es sind aber nicht nur diese bekannten Namen, zahlreiche Whistleblower haben zum Beispiel mit Kündigungsschutzklagen zu tun und können den Arbeitsplatz verlieren. Den Angestellten wird wegen der Aufdeckung von Missständen häufig mangelnde Loyalität vorgeworfen. Selten sehen die Richter, was wirklich vorgefallen ist. Dafür müssten zukünftig juristische Leitplanken errichtet werden, fordert das Whistleblower-Netzwerk. Die Whistleblower benötigen Unterstützung, die wirklichen Hintergründe vorzustellen, um nicht nach der ersten Klage aufgeben zu müssen.
Frank Wehrheim, ehemaliger Steuerfahnder, ist ein Beispiel. Gemeinsam mit vier Kollegen ermittelte er wegen Steuerhinterziehung. Deren Befugnisse sollten auf Weisung der Frankfurter Finanzbehörde dann plötzlich beschnitten werden. Als sie gegen die Amtsverfügung vorgingen, wurden sie mithilfe von psychiatrischen Gutachten zwangspensioniert oder versetzt. Irgendwann fehlte die Solidarität von allen Seiten, sowohl Kollegen als auch politische Entscheidungsträger wandten sich ab, die Prozesse laufen teilweise heute noch. Neben weiteren Fällen wie den der Altenpflegerin Brigitte Heinisch, der Veterinärin Dr. Margrit Herbst oder des Steuerfahnders Rudolf Schmenger gibt es zahlreiche anonyme Whistleblower, die einen wichtigen Dienst für die Gemeinschaft leisten und die Unterstützung benötigen.
Weitere Infos: Whistleblower-Netzwerk.

mvh

Zitiert

Michael Brie und Mario Candeias von der Rosa-Luxemburgstiftung haben ein Papier vorgestellt, das im nd vom 28.11. mit „Rückkehr der Hoffnung“ betitelt wurde. Dabei stellt es neben Strategievorschlägen für die LINKE vor allem den Ernst der Situation heraus:
„Wir müssen uns aber auch mit allem Nachdruck auf ein zweites Szenario, auf eine offene politische Krise einstellen, in der die herrschenden Eliten nicht mehr wie bisher weiter machen können, die bisherige Politik weder wirksam noch legitim erscheint, daher der Widerstand massiv zunimmt, auch unter der Fahne der Neuen Rechten. Jederzeit ist eine neue scharfe Finanzkrise und Wirtschaftskrise denkbar, die akute Verschärfung internationaler Konflikte (auch unter Großmächten) oder massive terroristische Attacken, akute Umweltkatastrophen, das schnelle Auseinanderbrechen der EU nach der Präsidentschaftswahl in Frankreich – solche Ergebnisse sind wieder möglich geworden. Die Barbarei kriecht nicht mehr auf uns zu, sie marschiert schon fast im Laufschritt. Auf dieses Szenario ist die Linke nicht vorbereitet – wie schon 2008.“

mvh

Medien-Mosaik

Der Zauber ist hin – im wirklichen und im übertragenen Sinn. In der zuständigen Redaktion des rbb hat man sich überlegt, frischen Wind in das Märchenrätsel der vier Adventssonntage zu bringen – und hat alles, was die Kinder liebten, abgeschafft. Zwar werden die Sendungen nach wie vor im Weihnachtsmann-Haus in Himmelpfort aufgezeichnet. Doch vom Weihnachtsmann keine Spur! Schon im vergangenen Jahr gab es einen modernisierten Weihnachtsmann, der dem von Coca-Cola erfundenen nicht ähnelte und trotzdem bei den Kindern ankam. Jetzt wurde er „wegrationalisiert“. Auch die erfahrene und phantasiereiche Regisseurin Renata Kaye durfte gehen. Moderatorin Madeleine Wehle, die sich immer mehr zur Allzweckwaffe entwickelt (einst durfte sie schon Hans-Joachim Wolfram bei „Außenseiter – Spitzenreiter“ ersetzen), führt jetzt mehr oder minder interessante Gespräche mit Prominenten und solchen, die es werden sollen darüber, wie sie über Weihnachten denken. Und bastelt.
Herzstück der Sendungen in den vergangenen 17 Jahren war die von Angelika Mann gespielte Märchenhexe Ratesumbria. Sie sollte nach dem neuen Konzept zu einer puren Ansagerin degradiert werden und schmiss den Bettel hin. Nach der ersten aufgefrischten Sendung kam es zu dem, was man neudeutsch „Shitstorm“ nennt. In den sozialen Netzwerken konnte man viel Wut und Enttäuschung feststellen. „Man kann Frau Mann nur gratulieren, sich dafür nicht hergegeben zu haben“, schrieb eine Zuschauerin. Und eine andere: „Wer will schon eine langweilige Tante sehen, die bastelt? Einfach lächerlich!“ Und Katrin Fischer schrieb über ihre Kinder: „Wie jedes Jahr haben sie für ihre Lieblingshexe selbstgebackene Kekse und eine Flasche ihres Lieblingskaba hingestellt, in der Hoffnung, dass sie doch noch auftaucht, weil sie es ja vielleicht riechen könnte.“ „Märchenrätsel ohne Fräulein Ratesumbria ist Weihnachten ohne Weihnachtsbaum“, schätzte Michael Dittmann ein. Hinzu kam, dass Madeleine Wehle andeutete, die Geschenke kämen nicht vom Weihnachtsmann sondern würden von den Eltern gekauft und versteckt. Irritierten Kleinen werden alle romantischen Illusionen vom Weihnachtsfest genommen. Vielleicht ist das ja auch gut so, in einer immer rauer werdenden Zeit!
Märchenrätsel im rbb, an allen Adventssonntagen am frühen Nachmittag.

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Die Kulturstaatsministerin Grütters hat durchgesetzt, dass Gelder für die digitale Restaurierung alter Filme locker gemacht werden. Das ist auch dringend nötig, denn Filmmaterial droht zu zerfallen. Dass überhaupt so viele deutsche Filme überliefert sind, ist zu einem nicht geringen Teil dem Staatlichen Filmarchiv der DDR (SFA) zu verdanken, das in den siebziger und achtziger Jahren zu den modernsten Europas zählte und 1990 im Bundesarchiv aufging. Die Geschichte des SFA wird mit vielen Zeitzeugenberichten in einem umfangreichen Band erzählt, den der langjährige Direktor Wolfgang Klaue anlässlich seines 80. Geburtstages im vergangenen Jahr zusammengestellt hat. Man erfährt viel Historie, auch über den Vorgänger des SFA, das Reichsfilmarchiv in Babelsberg, technische Details, aber auch persönliche Geschichten. Ein nicht unwichtiges Kapitel sind die Ost-West-Beziehungen, zu denen unter anderen Erika und Ulrich Gregor sowie Bert Hogenkamp Beiträge leisteten. Regisseure wie Winfried Junge und Kurt Tetzlaff geben ihre Erfahrungen in der Archivarbeit preis, Filmpublizisten wie Michael Hanisch, F.-B. Habel und Fred Gehler erinnern sich nicht nur an positive Erlebnisse mit dem SFA. Eine kuriose Geschichte um die verhinderte Urnenbeisetzung von Ufa-Star Conrad Veidt steuert Mitherausgeberin Eva Hahm bei. Für Filminteressierte eine kurzweilige Lektüre!
Wolfgang Klaue und andere (Herausgeber): Bilder des Jahrhunderts, Schriftenreihe der DEFA-Stiftung, Berlin 2015, 372 Seiten., 19,80 Euro.

bebe

Berliner Weihnachtsmarkt

[…] Bekannt ist, dass Friedrich Wilhelm I. mit seinem Hofe den Christmarkt besuchte, bekannt, daß derselbe noch vor 50 Jahren das Rendez-Vous des vornehmen Berlin war. Heute besuchen wir den Markt nur noch unseren Kindern zu Gefallen. Gehen wir!
Die Püppchen sind hier liebenswerther, als die wächsernen bleichsüchtigen Schönen im Spitzenkleide bei Söhlke; und dem Knaben ist der ganze Haufen von Säbeln und Trommeln, Wiegepferdchen und Wippestertzen fast noch interessanter, als das vornehme Prachtexemplar im Schaufenster der großen Spielwarenhandlung.
Und wie schön ist das „Selbsteinkaufen“, denn keins der Berliner Kinder geht ohne einige Groschen von Papa und Mama auf den Weihnachtsmarkt und Jedes nimmt seinen ganzen kleinen Verstand zusammen, um sein Vermögen möglichst vortheilhaft und so erfreuend wie möglich zu verwerthen.
Vergessen ist das Weitergehen, vergessen sind die Puppen, Trommeln und Pfeifen, die Kinderaugen achten nur noch auf die nervösen Sprünge, die der bunte Hampelmann den Kleinen vormachen muß. Und lange wird’s gewiß nicht dauern, und der kleine Neugierige zieht die Hand aus der Tasche und ersteht mit dem Geldstückchen, das er krampfhaft und wohlverwahrt festhält, den Kunstspringer. Glückliche Kinderwelt mit deinen harmlosen Freuden.
Es ist manches Wort gegen den Weihnachtsmarkt, als eine veraltete unnöthige, den Verkehr hemmende Sache gesprochen worden. Wie ich meine, mit Unrecht. Können denn alle Läden der Leipziger und Friedrichstraße und von „Unter den Linden“ den ärmeren Kindern die Freude bieten, die ihnen ein Gang über den Weihnachtsmarkt schafft? Doch kaum. Und sollten wir wirklich das Recht haben, vielen tausenden fröhlichen Kinderherzen eine Freude zu nehmen – zu Gunsten eines oder des anderen Großladenbesitzers?
Doch wohl kaum.

Dieses menschenfreundliche Plädoyer für die auch heute – allerdings mit anderen Argumenten – umstrittenen Weihnachtsmärkte erschien im Dezember 1880 in Der Bär. Illustrierte + Berliner Wochenschrift. Der Autor zeichnete nur mit „D.“, vermutlich handelt es sich um Emil Dominik. Wir entnahmen den Text in gekürzter Fassung dem Band: Lieblingssterne. Berliner Weihnachtsgeschichten, Gedichte und Berichte, Verlag M, Berlin 2016, 268 Seiten, 22,00 Euro. Christine Friedrich hat eine liebenswerte Auswahl aus Texten von 40 Autoren von E.T.A. Hoffmann bis Mascha Kaléko und Horst Bosetzky („-ky“) zusammengestellt. Man findet natürlich den bekannten Nußknacker und eine berühmte Weihnachtsgans, begegnet aber auch liebenswertem Unbekannteren. Das Bindeglied: Berlin-Bezug und Herzenswärme.

W.B.

Kurze Notiz zu Südliches Anhalt

Zwischen Bitterfeld und Köthen liegen etwa 50 Dörfer, die sich zumindest grammatikalisch keiner geltenden Regel beugen wollen: Man wohnt hier in Südliches Anhalt.
Aber das hat hier nicht viel zu bedeuten, denn die Stadt ist so künstlich und alltagsfremd wie ihr Name sperrig. Nur Radegast und Gröbzig waren vor der raumgreifenden Zusammenlegung Städte, alle anderen Orte von Quellendorf bis Meilendorf waren vor allem dies: Dörfer. Und so unterscheiden die Leute mehr, wer von Zehbitz und wer von Zehmitz kommt, als dass sie beides zum Südliches Anhalt zählten.
Und auch sonst geht es hier noch recht gestrig zu, etwa in Weißandt-Gölzau, dem einzigen Stadtteil mit Bahnanschluss – wobei das Dorf allerdings nie die drei Kilometer bis zu den beiden Gleisen gewachsen ist. Der Bahnhof, weit draußen hinter den Feldern, bildet einen eigenen Stadtteil, ganz offiziell mit eigenem Ortseingangsschild.
In Weißandt-Gölzau wurde so ziemlich alles saniert, was im Zuständigkeitsbereich der öffentlichen Hand liegt. Privat konnte das nicht ganz so konsequent nachvollzogen werden und so wächst hier und da eben auch Gesträuch aus dem verfallenden Dachgeschoss. In der Hauptstraße hängen noch die Lettern des Konsums an einer Hauswand und nicht nur die Luxemburg und die Zetkin, auch die Bodenreform haben hier noch ihre Straße.
Doch egal, ob nun in der Straße der Chemiearbeiter oder jener der Genossenschaftsbauern: Überall stehen die Häuser geduckt und der Horizont ist sehr weit. Imposante Wolkenmeere ziehen über das flache Ackerland, und wenn es hier gewittert, geht die Welt beinah unter. Und man muss nicht erst den Köter auf einen kilometerweiten Feldweg bis raus nach Riesdorf ausführen, um ein solches Naturspektakel zutiefst beeindruckend zu finden.

Thomas Zimmermann

Dreiteilige Ausstellung zum Aufbruch der Fotografie

Die 1970er Jahre standen im Zeichen des Umbruchs, der auch zu einer Neuordnung der Kunstszene führte. So fand auch ein unvergleichlicher Aufbruch in der Fotografie statt. Konzeptuelle Fotografie im weiteren Sinn entstand und das Medium wurde als eigenständige und gleichberechtigte Kunstform definiert. Farbfotografie, die lange Zeit verpönt war, erlebte einen Aufschwung. Das Einzelbild dagegen erhielt eine Absage, jetzt waren Bildfolgen angesagt.
Der vor zwei Jahren verstorbene Berliner Fotograf Michael Schmidt war ein Pionier dieser Entwicklung und gründete 1976 die Werkstatt für Photographie an der Volkshochschule Berlin-Kreuzberg. Sie gehörte Ende der 1970er Jahre zu den wenigen Orten für künstlerische Fotografie in Deutschland und wurde zu einer Schaltstelle des Austausches zwischen deutscher und US-amerikanischer Fotografie – gewissermaßen zu einer künstlerischen „Luftbrücke“. Als Experimentierfeld legte man den Schwerpunkt auf die inhaltliche Auseinandersetzung und vermittelte damit einen anderen Blick auf die Fotografie. Mit Ausstellungen, Workshops, Vorträgen und Kursen entstand ein Dialog auf internationaler Ebene.
1986 schloss die Werkstatt für Photographie ihre Pforten. Während ihres 10-jährigen Bestehens war sie eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für Fotografen gewesen, doch danach wurde es merkwürdig still um sie. Das seinerzeit hochgelobte programmatische Lehrangebot war ebenso verschwunden wie ihr einst legendärer Ruf. Anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Werkstatt für Photographie präsentieren das Museum Folkwang, Essen, C/O Berlin sowie das Sprengel Museum Hannover in einer städteübergreifenden Kooperation ein gemeinsames Ausstellungsprojekt, das erstmals die Geschichte, Einflüsse und Auswirkungen der legendären Berliner Fotografie-Institution und ihrer Akteure beschreibt.
Während im C/O Berlin mit dem Ausstellungsbeitrag „Kreuzberg – Amerika“ (10. Dezember 2016 – 12. Februar 2017) die Geschichte der Werkstatt für Photographie verdeutlicht wird, entdeckt das Museum Folkwang Essen unter dem Titel „Das rebellische Bild“ (9. Dezember 2016 – 19. Februar 2017) in der eigenen Geschichte die Widerspiegelung des allgemeinen Aufbruchs jener Jahre. Das Sprengel Museum Hannover ergänzt diese beide Ausstellungen um eine Perspektive, in deren Mittelpunkt Publikationen, Institutionen und Ausstellungen stehen, die den transatlantischen Austausch seit Mitte der 1960er Jahre beförderten. Anhand exemplarischer Beispiele erzählt die Exposition „Und plötzlich diese Weite“ (10. Dezember 2016 – 19. März 2017), auf welchen Wegen die US-amerikanische Fotografie nach Deutschland fand.
Zu dem Ausstellungsprojekt erscheint Ende Dezember in der Verlagsbuchhandlung Walther König die gemeinsame Publikation „Werkstatt für Photographie 1976–1986“. Neben Texten (deutsch & englisch) von renommierten Kunsthistorikern und Kuratoren steht die Bilddokumentation mit 225 (150 farbigen) Abbildungen im Mittelpunkt des Begleitkatalogs.

Manfred Orlick

Blätter aktuell

Der unerwartete Wahlsieg Donald Trumps stellt Beobachter weltweit vor die Frage: Wie konnte eine derart ungeeignete Persönlichkeit das Weiße Haus erobern? Der Politikwissenschaftler und Blätter-Mitherausgeber Claus Leggewie erklärt Trumps Erfolg mit der gezielten rassistischen Mobilisierung seiner männlich-weißen Anhängerschaft. Seine These: Mit Trump ist den USA ein Faschist nach europäischem Vorbild erwachsen – mit Ausstrahlungskraft weit über das Land hinaus. Nur eine transnationale Demokratiebewegung kann diese fatale Entwicklung langfristig aufhalten.
Die Wahl Donald Trumps wie auch der Brexit zeigen: Wir leben in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche größten Ausmaßes. In einer Situation um sich greifender Orientierungslosigkeit reüssiert derzeit vor allem die Rechte mit ihren Bindungs- und Vereinfachungsangeboten. Angesichts dessen müssen sich linke Parteien endlich wieder auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen, mahnt der Sozialphilosoph Oskar Negt. Nötig ist eine neue, große Erzählung der Linken – und eine Wiederbelebung der Gerechtigkeitsfrage.
Europa versteht sich als der Kontinent der Menschenrechte und Toleranz. Doch gegenwärtig grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt, wird die Freiheit des Individuums zunehmend von pseudo-religiösen und nationalistischen Bewegungen bedroht. In einem leidenschaftlichen Appell an die demokratische Zivilgesellschaft fordert die Publizistin Carolin Emcke, dieser Verrohung entgegenzutreten: Wir alle müssen Verantwortung auf uns nehmen, um die offene Gesellschaft zu verteidigen.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Mexiko: Zapatisten an die Macht?“, „Spanien: Das Harakiri der Sozialisten und „Gestiftete Wissenschaft: Geforscht wie bestellt“.

am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Dezember 2016, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Dass Rechtsprechung auch durch entsprechende Rechtsetzung be- oder gar verhindert werden kann, ist ein alter Hut. Zumal in Unrechtsstaaten. Aber auch Deutschland wird in Kürze aller Wahrscheinlichkeit nach wieder einmal einen solchen Schritt vollzogen haben: Am 1. Juni 2016 hat ein „Gesetz zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches“ in erster Lesung den Bundestag unbeanstandet passiert. Das Gesetz soll am 1. Januar 2017 in Kraft treten und wurde daher am 1. Dezember in zweiter und dritter Lesung (Dauer: circa 30 Minuten) durch den Bundestag manövriert, um am 16. Dezember den Segen des Bundesrates auf dessen abschließender Sitzung im Jahre 2016 zu erhalten. Das Gesetz droht für völkerrechtswidrige Aggression und für Angriffskrieg „mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren“. Allerdings in einer Art und Weise, die einheimischen Handelnden praktisch einen Freifahrtschein ausstellt. In der Diktion der Bundesregierung liest sich das so: „Rechtlich umstrittene Einsätze, wie im Rahmen humanitärer Interventionen, und Fälle von nicht hinreichender Intensität sollen […] gerade nicht erfasst werden und damit nicht als Aggressionsverbrechen strafbar sein.“ Im Klartext: Handlungen einheimischer Entscheidungsträger und Exekutoren wie etwa die Beteiligung an von der UNO nicht mandatierten Militärschlägen wie seinerzeit der NATO gegen Serbien blieben auch künftig straffrei. Arnold Schölzel und Ekkehard Sieker haben den Gesetzestext analysiert und gelangten zu dem Befund: „Die juristischen Schlupflöcher“ seien „so groß wie Scheunentore“.
Arnold Schölzel / Ekkehard Sieker: Scheunentorgroße Schlupflöcher,
junge Welt (online), 25.11.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„Als das Ausmaß der Überwachung durch die NSA öffentlich gemacht wurde“, konstatiert Mirjam Kay Kruecken, „waren die Reaktionen oft überraschend gleichmütig. Überwachung sei ihnen egal, man selbst sei für die NSA uninteressant, weil man ‚nichts zu verbergen‘ habe, sagten viele. Edward Snowden brachte […] die Problematik dieser Haltung auf den Punkt: ‚Zu behaupten, das Recht auf Privatsphäre sei nicht wichtig, weil man nichts zu verbergen hat, ist nichts anderes, als zu sagen, das Recht auf freie Meinungsäußerung sei nicht wichtig, weil man nichts zu sagen hat.‘ Demokratie muss auch im digitalen Raum wirken […].“
Mirjam Kay Kruecken: Big Data – Nichts zu verbergen, freitag (online), 23.11.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„In der postmodernen Demokratie […] herrscht universale Toleranz und ein Pluralismus der Meinungen, der längst auch Anti-Republikanismus, Demokratiefeindschaft und Intoleranz toleriert“, vermerkt Rüdiger Suchsland und fährt fort: „Natürlich kann man solche Diskussionen mit Systemfeinden, mit Rassisten oder religiösen Fanatikern aushalten. Die Frage ist eher, warum man es tun sollte? Warum man nicht einfach sagt, dass einem bestimmte Themen zu blöd sind? Was spricht dagegen, bestimmte Debatten einfach zu verweigern?“
Rüdiger Suchsland: Es herrscht universale Toleranz, heise.de, 08.11. 2016. Zum Volltext hier klicken.

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Einen dritten Kolonialismus des Westens gegenüber den Entwicklungsländern beobachten Wladislaw Inosemzew und Alexander Lebedew: Dieser sei „auf eine Infrastruktur angewiesen, zu der ein Heer von Anwälten und Beratern an Finanzplätzen wie London, Zürich oder Luxemburg gehört; des Weiteren Privatbanken und Consultingfirmen, die gestohlene Gelder verwalten, sowie staatliche Behörden, die korrupten Politikern und Bürokraten einen sicheren Aufenthaltsstatus verschaffen. […] Dieses neue Empire hat beeindruckende Dimensionen angenommen. Der Nettozufluss von Geldern aus der Dritten in die Erste Welt liegt heute – vorsichtig geschätzt – bei rund 1000 Milliarden Dollar pro Jahr; um die Jahrtausendwende waren es 200 Milliarden.“
Wladislaw Inosemzew / Alexander Lebedew: Der Dritte Kolonialismus, Le Monde diplomatique, 10.11.2016. Zum Volltext hier klicken.