19. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2016

Zurück auf Anfang!
Im Gespräch mit – Antje Vollmer

Das Jahr 1963 war ein Jahr scharfer Spannungen zwischen Ost und West: Die Welt war in der Kuba-Krise soeben knapp einem nuklearen Inferno entgangen. Konfrontation war der Takt der Stunde.
In dieser Situation, am 15. Juli 1963, hielt Egon Bahr, vorbereitet gemeinsam mit Willy Brandt, seine epochale Tutzinger Rede und entwickelte darin den Ansatz für eine neue, eine kooperative Ost-Politik.
Seinen strategischen Ausgangspunkt beschrieb Bahr folgendermaßen: „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjet-Union zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie.“ Davon leitete er, wie er selbst es nannte, „die Formel […]
Wandel durch Annäherung“ ab.
Spätestens seit 2014, dem offenen Ausbruch der Ukraine-Krise, haben sich die Ost-West-Spannungen erneut stark zugespitzt. Sie haben zwar das Niveau von 1963 noch nicht wieder erreicht, bewegen sich aber zügig in diese Richtung. Konfrontation beherrscht wieder die Szenerie.
Wäre es nicht hohe Zeit für eine erneute Tutzinger Rede?
Antje Vollmer: Von den Gegnern einer Entspannungspolitik gegenüber Russland wird heute ja behauptet, eine solche Politik sei mit dem aggressiven Putin gar nicht zu machen. Das Adjektiv „aggressiv“ mal unkommentiert stehengelassen – eine solche Sicht ist ziemlich geschichtsvergessen. Brandt und Bahr entwickelten ihre neue Ostpolitik, die zuvorderst Entspannungspolitik war, 1963, kurz nach dem Mauerbau, und voll entfaltet wurde sie nach dem Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag, also nach zwei extrem aggressiven Akten des Ostblocks. Die These, Russland müsse erst seinen guten Willen – und zwar nach den Vorstellungen des Westens – unter Beweis stellen, bevor man Entspannungspolitik betreiben könne, ist historisch also völlig falsch. Diese Politik wurde ja gerade entwickelt, weil Brandt und Bahr begriffen hatten, dass mit den alten Mitteln der Konfrontation, des Aufbauens von Drohkulissen und der gegenseitigen Abschreckung das Ziel eines einheitlichen Deutschlands und Europas sowie einer substantiellen Verminderung der Kriegsgefahr nicht zu erreichen war. Daran hat sich, was Frieden und Sicherheit in Europa anbetrifft, nichts geändert. Und deswegen besteht heute die Notwendigkeit, zum Entspannungskonzept zurückzukehren, seit langem schon.
Normalerweise wäre das die Stunde der Sozialdemokratie, der ja die Ehre zukommt, diese Politikform erfunden zu haben. Die Partei geht aber mit dieser Tradition schon seit 1990 viel zu wenig selbstbewusst um, sie hat sich in den 1990er Jahren von neoliberalem Denken infizieren lassen, unter Schröder eine entsprechende Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben und ist den Amerikanern militärisch auf den Balkan und nach Afghanistan gefolgt. In den Jahren der großen Koalition hat die SPD überdies auf allen wichtigen Politikfeldern weiter an Profil eingebüßt, und dann fehlt ihr auch noch charismatisches Führungspersonal. Erneuern wird sich die SPD wohl nur in der Opposition. Dass es eine solche derzeit praktisch im Bundestag nicht gibt – die Grünen sind in dieser Hinsicht gegenwärtig ein Totalausfall –, halte ich inzwischen für eines der größten politischen Defizite in Deutschland. Wir sind ein Land fast ohne Opposition geworden.

Egon Bahr vertrat bis zu seinem Lebensende die Auffassung, dass dauerhafte und stabile Sicherheit in Europa nicht ohne und schon gar nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland zu erreichen sei, also nur kooperativ, nicht konfrontativ. Bahr hatte Anfang der 1980er Jahre in der internationalen Palme-Kommission auch maßgeblich daran mitgewirkt, diese Erkenntnis dem Konzept der Gemeinsamen Sicherheit zugrunde zu legen.
Im Willy-Brandt-Kreis, dem Sie angehören, werden diese Auffassungen geteilt. Sie widerspiegeln eine unveränderbare existenzielle Grundgegebenheit für Deutschland und das ganze restliche nichtrussische Europa: Russland ist der größte europäische Staat und eine nukleare Supermacht. Diese Gegebenheit spielt aber in der öffentlichen Debatte hierzulande oder schon gar im westlichen Bündnis praktisch keine handlungsleitende Rolle mehr. Wie konnte es dahin kommen?
Vollmer: Die Ursache dafür sehe ich vor allem darin, dass nach dem friedlichen Wandel in Osteuropa und dem Zusammenbruch erst des Warschauer Paktes, dann der Sowjetunion eine zunächst unbemerkte Revolution im Westen stattgefunden hat und zwar mit noch größerer Wirkungsmacht als jene im Osten – innenpolitisch in Gestalt des nahezu ungebremsten Sieges des Neoliberalismus und außenpolitisch in Gestalt der Denkschule der Neocons, die mit dem Untergang des östlichen Systems die Stunde des westlichen Gesellschaftsmodells weltweit für gekommen erachteten. Sie erkannten die Chance, den Vormarsch dieser politischen Denkschule auch aktiv voranzutreiben – bis hin zu einer „moralgestützten“ Sanktions- und Isolationspolitik gegenüber unbotmäßigen Staaten, ja bis zu offenem militärischen Interventionismus.
Der Übergang dahin hat ein paar Jahre gedauert und war mit solchen Entscheidungsträgern wie Kohl oder Genscher oder gar Brandt noch nicht so leicht zu machen. Unter deren Verantwortung kam 1990 noch die Charta von Paris für ein neues Europa zustande, von der heute niemand mehr spricht.
Zur nachfolgenden Revolution im Westen beigetragen hat dann nicht zuletzt, dass die westlichen Neoliberalen und Neocons sich auch auf die neuen Eliten in den ehemaligen Ostblockstaaten stützen konnten und können, etwa in Polen, in den baltischen Republiken und selbst in Russland zur Zeit Jelzins. Zu diesen Neoliberalen und Neokonservativen gehören bei uns, trotz aller camouflage, auch Gauck und Merkel (die nie ihre Aussage zurückgenommen hat, dass die Bundeswehr in den Irak eingefallen wäre, wenn sie damals an der Macht gewesen wäre).
Das sind im Übrigen die Kräfte, die sich nicht zuletzt die Deutungshoheit darüber verschafft haben, wie der Wandel von 1989/90 im Osten eigentlich abgelaufen ist. Dabei ist ausschließlich die Rede von oppositionellen Massen auf den Straßen und von deren Unterstützung durch den Westen, vor allem durch die USA. Ausgeblendet wird dabei, dass der entscheidende Schlüssel für den Erfolg dieser Entwicklung in Moskau lag, genau wie Egon Bahr in Tutzing festgestellt hatte. Ohne Gorbatschow und seine Mannschaft hätte die Entwicklung im Osten so – und das meint vor allem: so friedlich – nicht stattfinden können. Es gab aber diese neue Führung in Moskau mit ihrer Vision, wenn wir auf Gewalt verzichten und uns von tradierten stalinistischen Handlungsmustern frei machen, wird man uns auf Augenhöhe als Partner und Mitgestalter für eine neue Europa- und Sicherheitsordnung betrachten.
Letzteres war ein strategischer Irrtum, wie sich bereits in den 1990er Jahren zeigte. Für die Neocons war Russland der eindeutige Verlierer, der jetzt unter „ferner liefen“ rangierte, wozu die Jelzin-Ära ihren Teil beigetragen hat. Ausdruck dessen waren dann die raschen NATO-Erweiterungen ebenso wie das Übergehen Russland in internationalen Fragen. Immerhin hatte Moskau zum Beispiel vor dem Kosovo-Krieg angeboten, seine traditionell guten Beziehungen zu Serbien einzusetzen, um eine friedliche Lösung zu erreichen. Das wurde von den USA und vom Westen insgesamt ignoriert, teilweise in höhnischer Form.
Nach nunmehr 25 Jahren, zu denen unter anderem auch der Finanzcrash und der erschreckend aggressive Umgang mit Griechenland gehören, ist es hohe Zeit, die Ergebnisse dieser Politik auf den Prüfstand zu stellen und nach der Messlatte zu beurteilen, ob damit mehr Stabilität in die Welt oder auch nur nach Europa gekommen ist, ob damit Kriegsgefahr und Kriege in den internationalen Beziehungen geringer geworden sind und ob damit auch nur wenigstens die agierenden westlichen Staaten ein mehr an innerem Frieden und Wohlstand gewonnen haben.

Wer sollte denn diese Revision auf dem Prüfstand veranlassen? Die im Westen derzeit herrschenden Eliten doch wohl kaum…
Vollmer: Nein, Eliten merken es ja sowieso immer erst ganz zum Schluss, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Das machen in der Regel die Wahlbevölkerungen, indem etwa spürbare Teile von ihnen die Gefolgschaft nicht mehr nur passiv, als politikverdrossene Nichtwähler, verweigern, sondern aktiv an die Wahlurnen treten, wie man es gerade in den USA erlebt hat und wie man das in Frankreich, in Großbritannien, bei uns und anderswo seit einiger Zeit ebenfalls sieht. Da wird der stillschweigende neoliberale und neokonservative Konsens in den betreffenden Ländern gerade aufgekündigt …
… und dabei unter Umständen der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben.

Der Westen setzt im Verhältnis zu Russland erneut primär auf Abschreckung, auch auf nukleare. Während Anfang der 1980er Jahre die Furcht vor einer atomaren Auseinandersetzung in Westeuropa Hunderttausende auf die Straße trieb, ist das heute offenbar kein Thema mehr in den Medien oder für die Öffentlichkeit.
Da schwadronieren US-Militärs wie Ex-SACEUR James Stavridis, noch Juli als Vizepräsidentenkandidat von Hillary Clinton gehandelt, vom Krieg mit Russland, „der schnell auch nuklear geführt werden kann“, und hier nimmt das praktisch niemand nur zur Kenntnis.
Die Umrüstung der letzten verbliebenen US-Kernwaffen in Westeuropa auf ein neues strategisches System ist jenseits des Atlantiks angelaufen und nach heutigem Stande von der Bundesregierung unter Angela Merkel, einer erklärten Verfechterin der sogenannten nuklearen Teilhabe, wahrscheinlich bereits durchgewunken worden, inklusive der Bereitstellung deutscher Trägersysteme auch für die neuen Waffen. Ebenfalls kein Thema.
Sind die Deutschen, die sich zumindest über Atomkraft vor einigen Jahren noch aufregen konnten, zu einer Art nuklearer Lemminge mutiert?
Vollmer: Ein grundsätzlicher Unterschied zur Zeit der Friedensbewegung der 1980er Jahre besteht darin, dass diejenigen großen Medien, die in diesen Fragen damals auch alternative Konzepte und regierungskritische Positionen vertraten, ob sie nun Spiegel, Zeit oder Süddeutsche heißen, heute vollständig auf entspannungsfeindlicher Linie gegenüber Russland liegen und mit anderen wie der FAZ oder der Springer-Presse, aber auch den Öffentlich-Rechtlichen, einen entsprechenden Dauertenor in der Beurteilung der Konflikte angestimmt haben. Auch in der Medienlandschaft sind wir fast zu einem Land ohne öffentlich vernehmbare Opposition geworden. Das Erstaunliche aber ist, dass dennoch stabile Mehrheiten in Umfragen unverändert gegen eine Verschärfung der Beziehungen zu Russland votieren.
Zu diesem russlandfeindlichen Dauerton gehört, dass ständig mit zweierlei Maß gemessen wird. Redlichkeit geböte ja die Feststellung, dass die ersten Völkerrechtsverletzungen nach 1990, die ersten Verletzungen der Charta von Paris, die die europäische Friedensordnung – die Kanzlerin bemüht diese heute, wenn es um die Ukraine und die Krim geht, – unterminiert haben, in den Nachfolgewirren der Zerstörung Jugoslawiens stattfanden und ausschließlich auf das Konto des Westens gehen. Die Bombardierung Belgrads erfolgte ohne UN-Mandat, und das Referendum über die Separation des Kosovo erfolgte ohne Zustimmung Serbiens, zu dessen Staatsgebiet das Kosovo damals gehörte. Es wurde aber umgehend am nächsten Tag schon von den meisten westlichen Staaten anerkannt. So entstand mit westlichem Segen ein Staat, der gar nicht überlebensfähig ist. Heute aber wird nur noch von den Verfehlungen Russlands gesprochen, und wer es bei uns noch wagt, an andere Sachverhalte zu erinnern, der wird als „Russland-Versteher“ verketzert.
Dieser doppelte Standard ist für die Russen unerträglich, denn die kennen die ganze europäische Geschichte seit 1990.
Dass all dies ausgerechnet in dem Deutschland passiert, dem Gorbatschow den Weg in die staatliche Einheit und zum Verbleib des ganzen Landes in der NATO geöffnet hat, ist für die Russen nach wie vor unfassbar, wie mir erst vor einigen Tagen bei einem Treffen des Deutsch-Russischen Forums in Moskau wieder deutlich wurde. Es ist doch nicht bestreitbar, dass damals weder die Engländer noch die Franzosen die Wiedervereinigung wollten, sie warteten alle nur darauf, dass Gorbatschow schon „Nein“ sagen würde. Es wurde ihm aber wenig gedankt. Die Russen haben außerdem eine Erinnerung, die länger zurück reicht: Immer hatten sie die Kriege im eigenen Land auszuhalten, die wesentlich von Deutschland ausgingen. Aber nach dessen Überfällen im ersten und im zweiten Weltkrieg haben russische Staatsmänner immer wieder die Hand nach Westen ausgestreckt, sich dahin orientiert. Wenn wir schon bei der Historie sind – diesem Deutschland hat Russland in entscheidendem Maße ja sogar den Bolschewismus überhaupt und damit die Wurzel zu dessen späterer Ausprägung zum Stalinismus zu verdanken. Es war ja nicht nur der plombierte Zug, mit dem Lenin durch Deutschland in Richtung Petersburg geschickt wurde. Er hatte auch 200.000 Goldmark des deutschen Generalstabes dabei, mit denen 1917, mitten im Krieg, der Aufstand hinter den feindlichen Linien angezettelt werden sollte, was auch gelang. Demgegenüber kann man die guten Taten der Deutschen gegenüber den Russen nur mühsam zählen, die Entspannungspolitik gehört dazu.

Insbesondere ehemalige Ostblockstaaten und neue NATO-Mitglieder wie die baltischen und Polen drängen auf einen immer härteren Kurs gegenüber Moskau. Aus historischen Gründen müsse man für deren sicherheitspolitische Ängste vor Russland Verständnis haben, sagt etwa der sozialdemokratische Sicherheitsexperte Karsten Voigt. Muss man tatsächlich?
Vollmer: Diese Ängste, die ich historisch aus der Zeit des Stalinismus heraus durchaus verstehe, sind heute nicht mehr begründet, weil diese Staaten Mitglieder der NATO sind. Einen größeren realpolitischen Schutz kann man gar nicht haben. Wenn Russland die Grenzen dieser Länder auch nur um Zentimeter überschritte, wäre das eine offene Konfrontation mit der NATO, und Putin wäre geistesgestört, wenn er das täte.
Die andere Frage ist, ob man gestatten muss, dass diese Staaten für die Heilung ihrer Traumata mehr erwarten dürfen, als sie real vor feindlichen Übergriffen zu sichern. Da wäre zunächst einmal daran zu erinnern, dass die Ursachen dieser Traumata im Stalinismus liegen. Das Phänomen des Stalinismus war aber nicht auf die Sowjetunion und besonders die Russen beschränkt. All diese Staaten hatten ihre eigenen stalinistischen Eliten – und ihre neuen Eliten rekrutieren sich bis heute zum Teil aus diesem Reservoir. Auch das Erleiden des Stalinismus war ja nicht auf die nichtrussischen Ostblockstaaten beschränkt, sondern vom Umfang her haben am meisten die Menschen in der Sowjetunion unter den brutalen Säuberungen gelitten, die Russen eingeschlossen. Wenn die baltischen Staaten und Polen für sich heute das Verdienst der Selbstbefreiung reklamieren, dann muss man dies fairerweise auch den Russen zubilligen. Will sagen, dass man die Traumata jener Zeit vielleicht besser gemeinsam behandeln und aufarbeiten sollte, als das man sie heute in neue Feindbilder, in die Reanimation alter Chauvinismen einfließen lässt. Der verschärfte Nationalismus ist für niemanden eine Lösung, für die Polen und Balten ebenso wenig wie für die Russen unter Putin.

Außenminister Steinmeier hat im Juni angesichts eines multinationalen westlichen Großmanövers in Polen vor „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ gegenüber Russland gewarnt. Andererseits trägt Deutschland die zunehmende Aufrüstung der NATO entlang oder in der Nähe russischer Grenzen mit, gehört gar zu den federführenden Staaten bei der angelaufenen Stationierung von vier NATO-Kampf-Bataillonen an der sogenannten Ostflanke. Die Russen halten entsprechend dagegen, und wenn Kampfjets im Tiefflug über gegnerische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer oder in der Ostsee donnern, dann ist von einem Willen zur Deeskalation auch nichts zu spüren. Ist diese Spirale noch zu stoppen?
Vollmer: Mit immer neuen gegenseitigen Schuldzuweisungen und beiderseitigen durchaus brisanten militärischen Nadelstichen nach Machoart sicher nicht. Auf dem erwähnten Treffen in Moskau, an dem übrigens auch der russische Außenminister Lawrow teilgenommen hat, habe ich die Frage aufgeworfen, ob nicht die Forderung „Zurück zur Charta von Paris!“ eine hilfreiche Option sein könnte. Das schlösse die Rückkehr zu solchen Prinzipien wie der gegenseitigen Respektierung der Grenzen, der Interessen der anderen Seite, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und des Gewaltverbotes in den internationalen Beziehungen ebenso ein wie von Fall zu Fall das gemeinsame Herangehen an Sicherheitsfragen – wie etwa im Falle der syrischen Chemiewaffen und des iranischen Atomprogramms.
Meinem Vorschlag ist von russischer Seite mit Skepsis begegnet worden – und mit der Gegenfrage, wie das funktionieren sollte nach allem, was inzwischen passiert ist. Aber wir haben ja längst nicht die erste verfahrene Situation in der europäischen Geschichte. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges herrschten auch Feindschaft und tief sitzendes Misstrauen auf allen beteiligten Seiten, und doch fand man die Formel des Westfälischen Friedens, die mit Blick auf die Vergangenheit besagte: Passiert ist vieles, das tiefe Wunden geschlagen hat, aber gesündigt haben alle Seiten; wir versprechen für die Zukunft, die vereinbarten Regeln des friedlichen Zusammenlebens – damals waren es zum Teil neue, heute müsste man sagen: wieder – zu wahren und die Zukunft nicht länger mit Forderungen aus der Vergangenheit belasten zu lassen. Das war auch ungefähr diejenige Diplomatenformel, mit der wir seinerzeit die deutsch-tschechische Versöhnung ins Werk gesetzt haben.
Ich glaube, dass eine solche Formel ohne einseitige Schuldzuweisung, die anerkennt, dass es von beiden Seiten Völkerrechtsverletzungen gegeben hat, auch für Moskau akzeptabel sein könnte. Die Periode der letzten 25 Jahre zwischen 1990 und 2015 sollte mit einer solchen beiderseitigen Formel zum Abschluss gebracht werden. Nur so kommt man aus dem Teufelskreis wirkungsloser Agressionen und Vorwürfe heraus und kann einen gemeinsamen Neuanfang ermöglichen.
Putin hat zumindest eine russische Bereitschaft in dieser Richtung noch im Sommer 2015 durchblicken lassen – als er dem Westen eine gemeinsame Koalition gegen den IS anbot. Die USA stellten leider eine Vorbedingung: Erst müsse Assad weg. Und fegten das Angebot damit praktisch vom Tisch.
Eines der Essentials der Entspannungspolitik besagte, dass Vorbedingungen kein Transmissionsriemen für gemeinsame Lösungen sind, dafür jedoch ein effektives Mittel zur Verhinderung solcher Lösungen. Außerdem blockiert man sich damit völlig in seinen eigenen Handlungsmöglichkeiten. Jeder Terrorist hat es dann in der Hand, eine Wende zum Besseren durch Einzelaktionen zu verhindern. Auch anhand der Ukraine-Krise und ihrer bisherigen Nicht-Lösung ist das gut erkennbar.

Das Gespräch führte Wolfgang Schwarz am 11. November 2016.