von Alfons Markuske
„Wahrlich ich sage dir:
In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht,
wirst du mich dreimal verleugnen.“
Jesus zu Petrus
beim letzten Abendmahl
Matthäus, 26,34
Wollte man die Quintessenz von Karlheinz Deschners quellengespicktem fast 800-Seiten-Wälzer „Abermals krähte der Hahn“ auf eine möglichst kurze Formel bringen, dann ließe sich sagen: Bis zum Ersterscheinen des Sachbuches im Jahre 1962 hatte der biblische Hahn nicht bloß abermals, sondern seit den Tagen des Frühchristentums so unzählbar häufig gekräht, dass die Unterscheidbarkeit zu quasi ununterbrochen allenfalls noch eine akademische war.
Ob es je einen historischen Jesus gegeben hat, der so etwas wie eine Lehre hinterließ und einen Kreuzestod starb, ist selbst unter Theologen unverändert nicht unumstritten. Dito, ob zumindest Kernbotschaften des Neuen Testaments, vor allem der Evangelien, wie etwa das Gebot der Nächstenliebe, Feinde inklusive, der Armut oder der absoluten Gewaltlosigkeit direkt auf einen solchen Jesus zurückgehen. Alle vier Evangelien, die die „Lebensgeschichte“ Jesu erzählen, tun dies bekanntlich auf zum Teil gegensätzliche, einander ausschließende Weise. Deschner seziert im Detail. Gemeinsam ist den Evangelien aber, dass sie überhaupt erst ein bis zwei Generationen nach der Jesuszeit, die die Jahre von ein oder zwei vor Christus bis 31 nach Christus umfasst, verschriftlicht wurden – von Autoren, die keine Zeitzeugen mehr kannten, noch gar selbst solche waren.
Keineswegs allerdings hätte ein historischer Jesus so etwas wie die Entstehung des Katholizismus und einer Amtskirche intendiert, wie sie sich ab dem vierten Jahrhundert massiv herauszubilden begann, als unter dem römischen Kaiser Theodosius I. das Christentum zur Staatsreligion wurde. Nach Markus 13,33 sprach Jesus vielmehr: „Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis dass dies alles (die Rede ist vom Jüngsten Gericht – A.M.) geschehe.“ Er prognostizierte also das Ende der Welt noch zu Lebzeiten seiner Zeitgenossen. Woher hätte da Bedarf für Priester, Mönche oder gar Bischöfe, Kardinäle und Päpste kommen sollen? (Ganz abgesehen davon, dass der Lebensstil amtskirchlicher Obrigkeiten aller christlichen Großkonfessionen bis in unsere Tage Christus‘ Armutsgebot – „Verkauft euren Besitz und gebt ihn den Armen.“ [Lukas, 12,33] – mehr als nur Hohn spricht. Allein die Vermögenswerte der katholischen Diözesen im Lande reihen vielen von ihnen unter die Superreichen ein.) Erst als die „eschatologische Naherwartung Jesu“ (Deschner) sich in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts immer noch nicht erfüllt hatte, nahm das Verhängnis seinen Lauf.
„Nirgends“, schreibt Deschner, „gab es so viele Fälschungen wie im Bereich der Religion“ und verweist auf Nietzsches Diktum, der das Christentum als die „Kunst, heilig zu lügen“, apostrophiert hatte. Bereits einer der erfolgreichsten Missionare des Frühchristentums und der erste Theologe dieser Religion, Paulus von Tarsus, hatte den frommen Betrug, „mit dem man Generationen und Zeiten täuscht“, gewissermaßen zum Programm erhoben, schrieb er doch: „Wenn aber Gottes Wahrhaftigkeit infolge meines Lügens (sic! – A.M.) um so stärker zu seiner Verherrlichung hervorgetreten ist, warum werde ich dann noch als Sünder gerichtet?“ (Römer, 3,7) Deschner widmet diesem entscheidenden Weichensteller für die weitere Entwicklungsrichtung des Christentums, auf den (im Gegensatz zum biblischen Jesus) zum Beispiel auch die Ungleichbehandlung, ja Verachtung der Frau in der christlichen Lehre zurückgeht, das gesamte zweite Buch seiner Abhandlung – und dies zu Recht: „Christentum“, so zitiert Deschner Wilhelm Nestle, den Verfasser des Werkes „Die Krisis des Christentums, ihre Ursache, ihr Werden und ihre Bedeutung“ (1947), „ist die durch Paulus begründete Religion, die an die Stelle des Evangeliums Jesu ein Evangelium von Jesus setzt.“
Als eine von zahllosen Fälschungen führt Deschner den Geburtstag Christi an, den 25. Dezember, eines der höchsten Feste der Christenheit: Als „Geburtstag galt um 200, nach Clemens von Alexandrien, den einen der 19. April, den anderen der 20. Mai, während Clemens selbst den 17. November für das richtige Datum hielt. […] Erst im Jahre 353 hat die Kirche den Geburtstag Christi auf den 25. Dezember, den Geburtstag des Mithras, des unbesiegbaren Sonnengottes verlegt, um diesen aus dem Volksbewußtsein zu verdrängen.“
Dass Jesus, wenn es ihn denn gab, kompromissloser Pazifist war, geht aus der Bibel hervor. Zwar ist zum Problem des Krieges, wie Deschner vermerkt, „kein ausdrückliches Wort von Jesus überliefert“, aber: Er verwarf „jede Form von Gewalt“.
Da ist zunächst jenes Gleichnis, mit dem Jesus selbst die Notwehr im Falle eines tätlichen Angriffs ausschließt: „Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, so biete den anderen auch dar.“ (Matthäus, 5,38 f.) Vor allem jedoch ist da sein: „Du sollst nicht töten […].“, das er bei Matthäus (19,18) sogar nicht erst an die fünfte Stelle setzt, wo es in dem Moses ausgehändigten Dekalog ursprünglich platziert war, sondern an die erste derjenigen Gebote, deren Einhaltung Voraussetzung für den Eingang ins Paradies ist. Dieses Gebot, so Deschner, „schließt die Ächtung eines Krieges für jedes objektive Denken ein“.
Die in diesem Zusammenhang vollzogene Perversion ist sicher die widerlichste und folgenschwerste auf dem ganzen, an Markierungen überreichen Kerbholz des Christentums. Karlheinz Deschner, der diese Entwicklung von den Zeiten Kaiser Konstantins,also seit dem frühen vierten Jahrhundert, bis in die Gegenwart minutiös belegt, fasst zusammen: „[…] die christliche Kirche […] ging von Jesu Pazifismus aus, behielt ihn, so lange sie schwach war, im wesentlichen bei, um dann, als sie den Staat an ihrer Seite hatte, zur verfolgungswütigsten Religion der Welt zu werden.“ Und ihre grundlegend veränderte Haltung zum Krieg machte bereits eine eher flapsige Einlassung des Heiligen Augustinus, eines der namhaftesten Kirchenväter der Spätantike, deutlich: „Was hat man denn gegen den Krieg? Etwa daß Menschen, die doch einmal sterben müssen, dabei umkommen?“ Auf ihn geht bekanntlich auch die Lehre vom „gerechten“ Krieg zurück. Zu dieser Kategorie zählten nach katholischer Lesart auch die maßgeblich von Päpsten angezettelten diversen Kreuzzüge im Mittelalter; sie wurden gar als „heilige“ Kriege geführt.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts galt im Übrigen jeder Krieg, solange er nur mit amtskirchlichem Segen von statten ging, als gottgefällig – selbst wenn dieser Segen, wie so häufig bei europäischen Kriegen, im Namen desselben Gottes auf allen verfeindeten Seiten gespendet wurde. Insofern war auch nur folgerichtig, was der Jesuit Gustav Gundlach, Professor und zeitweise Rektor an der Gregoriana, der päpstlichen Universität in Rom, 1959 als Resultat der Lehre des seinerzeit amtierenden katholischen Oberhauptes, Pius XII., zu Protokoll gab: „Die Anwendung des atomaren Krieges ist nicht absolut unsittlich.“
Karlheinz Deschner: Abermals krähte der Hahn, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2015, 720 Seiten, 44,00 Euro.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Armut, Augustinus, Christentum, Jesus Christus, Karlheinz Deschner, Katholizismus, Krieg, Paulus, Pazifismus, Religion