19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Quo vadis Polonia?

von Hannes Herbst, zz. Wrocław

Mit Polen ist erstmals gegen ein Mitgliedsland der EU durch deren Kommission ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit eröffnet worden, das am Ende eines mehrstufigen Verfahrens zu Sanktionen gegen Warschau führen könnte – bis hin zur Aberkennung des Stimmrechtes bei EU-Ministerratstagungen und -Gipfeln.
Maßgeblicher Grund dafür sind zwei vom Sejm kurz vor dem Jahreswechsel verabschiedete Gesetze. Das eine entmachtet das polnische Verfassungsgericht im Hinblick auf das Handeln der Regierung und die Gesetzgebungspraxis des Parlaments, das andere gibt der Regierung freie Hand, die Spitzenposten in den öffentlich-rechtlichen Medien jederzeit neu zu besetzen.
Ebenfalls bereits verabschiedet hat der Sejm ein Gesetz, das Polizei, Geheimdiensten und anderen Behörden auch ohne Gerichtsbeschluss praktisch uneingeschränkten Zugang auf die Internetdaten der Polen eröffnet. Ein weiterer Gesetzentwurf sieht vor, die erst 2010 hergestellte Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften wieder rückgängig zu machen.
Die Gesetzgebung liegt seit der Parlamentswahl vom Oktober 2015 praktisch allein in den Händen der Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“), in der Ex-Ministerpräsident Jarosław Kaczyński die Fäden zieht. Sie verfügt in beiden Kammern des Sejm‘ über die absolute Mehrheit. Auch der amtierende polnische Präsident Andrzej Duda stellt kein Korrektiv dar, er gilt als Mann von Kaczyńskis Gnaden, der ihm praktisch den Steigbügel ins Amt gehalten hat.
Als einen der ersten Schritte zur Machtkonsolidierung nach der Wahl hatte Kaczyński, der formal zwar nur einfacher Abgeordneter und Vorsitzender der PiS ist, aber de facto wie ein Alleinherrscher agieren kann, die Chefs der vier polnischen Geheimdienste durch eigene Gefolgsleute ersetzen lassen.
Die politische Gesamtentwicklung in Polen seit Herbst vergangenen Jahres trage Staatsstreich-Charakter, wie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagte, wobei er eine vom polnischen Ex-Verfassungsrichter Jerzy Stępień zuvor ins Spiel gebrachte Charakterisierung aufgriff.
Warschau weist die Vorwürfe seitens der EU pauschal zurück. Ministerpräsidentin Beata Szydło (PiS) sprach in diesem Zusammenhang von „Verleumdungen aus dem Ausland“: Und der polnische Außenminister Witold Waszcykowski – zur Erinnerung: das ist der, der unlängst geäußert hat, dass Vegetarier und Radfahrer keine richtigen Polen seien – polemisierte gegen EU-Vizekommissionschef Frans Timmermans, der die Kommissionsbedenken gegen die beiden eingangs genannten Gesetze gegenüber Warschau brieflich artikuliert hatte: „Da schreibt ein EU-Beamter, der durch politische Beziehungen ins Amt kam, einer demokratisch gewählten Regierung. Woher nimmt er das Recht dazu?“
Falls der Minister tatsächlich Nachhilfe benötigte: Das Recht der EU-Kommission beruht auf einem 2014 (auch mit polnischer Zustimmung) geschaffenen Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union, und gegebenenfalls Sanktionen würde nach Artikel 7 des Vertrages von Lissabon (ratifiziert auch von Polen) verhängt.
Unzufrieden ist Warschau aber derzeit nicht nur mit der EU, sondern auch mit der NATO. Öffentlicher Beschwerdeführer ist ebenfalls der Außenminister. Polen sei zwar seit 16 Jahren Mitglied der NATO, sein Sicherheitsstatus liege aber weit unter dem Westeuropas. „Wir möchten, dass die Nato Truppen in Polen stationiert […].“ Hier sitzt der Minister, was den westeuropäischen Sicherheitsstatus anbetrifft, zumindest einem Teilirrtum auf: Auch NATO-Staaten wie Frankreich, Großbritannien, Norwegen (trotz Grenze mit Russland!) und etliche weitere begnügen sich auf ihrem eigenen Territorium mit ihren eigenen Streitkräften. Außerdem würde die dauerhafte Dislozierung insbesondere substanzieller Kampftruppen die NATO-Russland-Grundakte von 1997 im Kern torpedieren, was nicht nur die deutsche Regierung bisher konsequent ablehnt. Das allerdings ist Waszcykowskis geringste Sorge: „[…] wir stellen politische Erklärungen infrage, laut denen auf dem Gebiet neuer Nato-Mitgliedsstaaten keine erheblichen Militär- oder Verteidigungskräfte stationiert werden sollen. Wir denken, dass solche Deklarationen nicht mehr aktuell sind, weil sie gegenüber einem anderen Russland abgegeben wurden, das damals noch nicht imperial auftrat und keine Auslandskriege führte“. Welche Indizien er dafür hat, dass Russland demnächst militärisch gegen ein NATO-Land wie Polen vorgehen könnte, verrät der Minister nicht. Experten meinen, es gäbe auch keine, der russische Präsident würde den Artikel 5 des NATO-Vertrages kennen und nicht zuletzt über die konventionelle Unterlegenheit Russlands gegenüber den verbündeten NATO-Armeen im Bilde sein. Daran würden auch die drei neuen Divisionen nichts Grundsätzliches ändern, deren Aufstellung in seinen westlichen Militärbezirken Russland gerade angekündigt hat.
Trotzdem wäre es interessant zu erfahren, in welchen Dimensionen der polnische Außenminister konkret denkt. Zu Hochzeiten des alten Ost-West-Konfliktes etwa waren in der damals territorial im Vergleich zu Polen deutlich kleineren BRD neben einer 500.000 Mann starken Bundeswehr mehrere Hunderttausend Mann aus den USA, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Belgien und den Niederladen stationiert. (In der DDR bestand eine vergleichbare Konzentration militärischer Kräfte.) Wäre das vielleicht ein möglicher Maßstab für Polen? Etwa seit Mitte der 1980er Jahre war man sich allerdings in beiden deutschen Staaten ziemlich einig, dass ein Einsatz dieser Kräfte gegeneinander nicht zur Verteidigung von irgendetwas geführt hätte, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Zerstörung all dessen, was hätte verteidigt werden sollen. Und dies umso mehr, als beide Seiten auch noch überreichlich nuklear armiert waren.
Apropos Kernwaffen: Am 6. Dezember vergangenen Jahres hat Tomasz Szatkowski, Staatssekretär im polnischen Verteidigungsministerium, dem Sender Polsat News 2 im Hinblick auf eine mögliche nukleare Teilhabe Polens gesagt: „Das ist eine der Optionen, die man sicherlich analysieren muss.“
Im Falle der Bundesrepublik sieht diese Teilhabe bekanntlich so aus, dass bis zu 20 US-Atombomben auf dem Fliegerhorst in Büchel in der Eifel lagern, die im Kriegsfall mit bundesdeutschen Tornado-Kampfbombern gegen Russland zum Einsatz kommen sollen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass Moskau über hinreichend Fernraketen verfügt, um solche Potenziale gegebenenfalls auszuschalten.

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Exkurs – NATO-Ostflanke: Bevor hier jedoch möglicherweise der Eindruck entsteht, Polen werde vom westlichen Bündnis quasi im Regen stehengelassen, ein ebenso kurzes wie unvollständiges Resümee zur Aufrüstung der NATO an ihrer Ostflanke (Baltikum, Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien) seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts 2014.
Auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 wurde eine Aufstockung der Schnellen Eingreiftruppe der NATO (NATO Response Force) von zuvor 13.000 auf zunächst 30.000, später 40.000 Mann sowie deren Ergänzung um eine Very High Readiness Joint Task Force (VJTF/„Speerspitze“) in Stärke von 5.000 bis 7.000 Mann beschlossen. Letztere soll in zwei bis fünf Tagen nach Alarm zum Einsatz kommen und auch über See- und Luftstreitkräfte sowie Spezialeinheiten verfügen. Für diese „Speerspitze“ werden ständige Logistik- und Koordinierungszentren in Gestalt sogenannter NATO Force Integration Units (NFIUs) in Stärke von je 40 Mann in den drei baltischen Staaten, in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn sowie in der Slowakei eingerichtet.
Überdies entsteht ein neues NATO-Hauptquartier unter bundesdeutscher Federführung in Stettin.
Die NATO-Luftraumüberwachung im Baltikum wurde dauerhaft intensiviert.
Stark erhöht wurde die Manövertätigkeit des Paktes. Eine Verdoppelung auf 162 Übungen hatte bereits 2014 stattgefunden. Für 2015 waren 270 Übungen angekündigt, und auch wenn die größte von ihnen, „Trident Juncture 2015“ mit 36.000 Mann, 130 Flugzeugen und 60 Schiffen und U-Booten in Südwesteuropa stattfand, wurde sie doch als Aushängeschild für die Bekämpfung sogenannter hybrider Kriegführung inszeniert. Und wen hat die NATO vorzugsweise im Blick, wenn das Stichwort hybride Kriegführung fällt? Russland.
Im Juni 2015 hatten die USA überdies angekündigt, 250 Panzer und anderes schweres Gerät in sieben osteuropäischen Ländern (darunter Polen) voraus zu stationieren, jeweils ausreichend, um eine US-Kompanie oder ein -Bataillon auszurüsten. Und nicht zuletzt erhält die US-Flotte inzwischen eine ständige Präsenz im Schwarzen Meer aufrecht.

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Ob diese Maßnahmen tatsächlich die Sicherheit an der NATO-Ostflanke erhöhen oder nicht vielmehr gegenteilig wirken, ist hier nicht das Thema. Fakt ist jedoch, dass all dies der jetzigen polnischen Regierung noch längst nicht genügt, wie die oben zitierten Forderungen und Überlegungen deutlich machen. Völlig ausgeblendet wird dabei offenbar der Sachverhalt, dass sich Polen allein aufgrund seiner Geographie heute in einer vergleichbaren Lage befindet wie die beiden Deutschlands im Kalten Krieg. Bei einem raumgreifenden militärischen Konflikt mit Russland wäre Polen das europäische Hauptaufmarschgebiet der NATO und würde, sollte ihre konventionelle Unterlegenheit die Russen in die Defensive zwingen, möglicherweise schnell zum Ziel ausgleichender russischer Kernwaffenschläge werden. Die geltende Moskauer Militärdoktrin sieht eine solche Kompensation jedenfalls expressis verbis vor.
Wenn Polen also ein Sicherheitsproblem mit Russland sieht, dann gibt es dafür, wie weiland im Falle der DDR und der BRD, keine militärische, sondern nur eine politische, keine konfrontative, sondern nur eine kooperative Lösung. Insofern ist die Haltung der Bundesregierung gegen eine zusätzliche substanzielle NATO-Präsenz in Polen keineswegs, wie der Warschauer Außenminister meint, Ausdruck dessen, „dass sich Deutschland mehr um die Interessen Russlands kümmert, als um die Sicherheitsinteressen Mittelosteuropas“. Eher könnte man ins Feld führen, dass die Bundesregierung aus eigener historischer Erfahrung diese Sicherheitsinteressen sehr gut kennt und nicht zuletzt deswegen so handelt, wie sie handelt.
Die erwähnten Erkenntnisse über ihre eigene militärische Nichtverteidigbarkeit in beiden Deutschländern im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges waren im Übrigen nicht vom Himmel gefallen, darum war über Jahre und systemübergreifend intensiv debattiert und gerungen worden, was man im Blättchen vor einiger Zeit in Teilen nachlesen konnte.

Nachbemerkung: Polen ist derzeit ein problematischer Partner. So weit gehen wie Jakob Augstein sollte man deswegen aber noch lange nicht: „Wir sollten […] überlegen, mit welchem unserer Nachbarn wir ein einiges Europa bauen wollen. Die Polen gehören eher nicht dazu.“ Solche Rhetorik schüttet das Kind mit dem Bade aus – die PiS-Mehrheiten im Sejm repräsentieren nicht einmal 40 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen vom Oktober 2015, bei einer Wahlbeteiligung, die auch nur bei 50 Prozent lag – und ignoriert den anwachsenden inneren Widerstand gegen den Kaczyński-Kurs, Polen auf Dauer ein stramm nationalistisches, erzkatholisches und antiwestliches Korsett zu verpassen.
Wie heißt es doch in der Nationalhymne unserer Nachbarn so schön trotzig-optimistisch? „Noch ist Polen nicht verloren.“