von Erhard Crome
„Je mehr Schwierigkeiten wir uns gegenübersehen, desto mehr Selbstvertrauen müssen wir haben.“ Dieser Satz des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, ausgesprochen auf dem siebenten Gipfeltreffen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) in der südwest-russischen Stadt Ufa am 9. Juli 2015, tauchte in verschiedenen Zeitungsberichten auf. Ermunterung oder Pfeifen im Walde? Bruce Jones, Direktor des außenpolitischen Programms der US-amerikanischen Denkfabrik „Brookings Institution“, wusste es bereits vorher – veröffentlicht am 7. Juli – ganz genau: Die BRICS seien nur noch ein Schatten ihrer selbst: Russlands Wirtschaft schrumpfe im Ergebnis der westlichen Sanktionen und sinkender Ölpreise, Brasilien habe dieses Jahr ein „Negativwachstum“, Chinas Wirtschaftswachstum verlangsame sich drastisch, Indien müsse endlich dringend „Reformen“ durchführen und Südafrika leide unter einer hohen Arbeitslosigkeit. Also nichts Neues unter der Sonne, die herrlich über den USA strahlt?
Im Verständnis der BRICS klingt das sehr anders. Sie kritisieren die westliche Wirtschaftspolitik, die weltweit Arbeitsplätze und Ökosysteme vernichtet, und betonen zugleich, dass es ihnen in den vergangenen Jahren gelungen ist, durch eine akzentuierte makroökonomische Politik, eine effektive Regulierung der eigenen Finanzmärkte und einen robusten Einsatz der eigenen Reserven mit den Risiken umzugehen und ein Überschwappen der weltwirtschaftlichen Probleme auf ihre Entwicklung zu verhindern. Dazu hat die enge Zusammenarbeit der nationalen Entwicklungsbanken ebenso beigetragen, wie das gegenseitige Ausreichen von Krediten in den eigenen Währungen. Damit wurde die Abkopplung vom US-Dollar als Leitwährung mit all seinen negativen geoökonomischen Effekten weiter vorangebracht.
Eines der wichtigsten Ergebnisse des Gipfels ist, dass nach langen Verhandlungen die „Neue Entwicklungsbank“ der BRICS-Staaten sowie ihr gemeinsamer Reservefonds, um Währungs- und Zahlungsprobleme auszugleichen, 2016 die Arbeit aufnehmen werden. Beide sind nach dem Vorbild von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) geformt. Letztere werden jedoch nach wie vor von den westlichen Mächten, den USA und der EU, kontrolliert. So stehen hier in Kürze Alternativinstitutionen zur Verfügung – für die BRICS-Länder selbst und alle Entwicklungs- sowie sogenannte Schwellenländer. Der Reservefonds ist auf 100 Milliarden US-Dollar vereinbart, in den die fünf Länder unterschiedlich einzahlen: China 42 Milliarden; Brasilien, Russland sowie Indien je 18 und Südafrika 5 Milliarden US-Dollar. Die Entwicklungsbank verfügt über ein Startkapital von 50 Milliarden US-Dollar, das die fünf Gründungsstaaten zu gleichen Teilen zur Verfügung stellen, und ein genehmigtes Volumen von 100 Milliarden.
Auf einer Sitzung des Bankvorstandes in Moskau im Vorfeld des Gipfeltreffens wurde K. V. Kamath zum Präsidenten der Bank ernannt. Der 67-jährige Inder hat vierzig Jahre im Bankwesen gearbeitet, darunter für die Asiatische Entwicklungsbank, die 1965 auf Initiative der UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Asien und den Pazifik gegründet wurde, und zuletzt als Vorstandsvorsitzender der indischen Bank ICICI. Über das Verhältnis der BRICS-Entwicklungsbank zur Weltbank und zur Asiatischen Entwicklungsbank sagte Kamath, sie seien Partner und nicht Feinde. „Weder die BRICS-Entwicklungsbank noch die anderen Finanzorganisationen können den Entwicklungsbedarf von allen Ländern und Regionen allein decken. Wir teilen einen Markt, der groß genug ist.“ Lou Jiwei, Finanzminister Chinas, betonte ebenfalls, die BRICS-Bank sei „eine Ergänzung zu den bestehenden multilateralen Entwicklungsorganisationen“ und „eine neue treibende Kraft zur Beschleunigung der Erholung der globalen Wirtschaft“. Der Sitz der Bank wird übrigens in Shanghai sein, mit einer Dependance in Johannesburg (Südafrika).
Damit ist sowohl klar, dass die Schaffung der BRICS-Bank Teil der Entwicklung Shanghais zum Weltfinanzzentrum des 21. Jahrhunderts ist, als auch, wohin gegenwärtig die Blickrichtung geht. Wenn man davon ausgeht, dass der Westen Weltbank und IWF stets als Instrumente globaler Machtausübung angesehen hat, wird deutlich, dass die BRICS-Institutionen trotz aller freundlichen Worte eine Kampfansage sind, die übrigens auch in der Deklaration des Gipfels nachzulesen ist: Es geht um eine multipolare Welt, die auf friedlicher Koexistenz beruht. Das ist etwas anderes, als eine westlich dominierte Welt.
In dieses Bild passt, dass unmittelbar nach dem BRICS-Gipfel, am 9. und 10. Juli ebenfalls in Ufa, ein Gipfeltreffen der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) stattfand. Diese Organisation, 1996 gegründet, umfasste ursprünglich China, Russland sowie die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Tadshikistan und Usbekistan. Sie sollte nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Stabilisierung Zentralasiens beitragen. In den USA wurde sie von den Vordenkern einer „unipolaren“ Vorherrschaft als rein gegen die Vereinigten Staaten gerichtet angesehen. Ufa hat gezeigt: Sie ist – gleichsam in Ergänzung zum BRICS-Zusammenschluss – inzwischen eines der wichtigsten Instrumente zur Gestaltung der neuen Verhältnisse in Eurasien. Der Präsident Afghanistans, Ashraf Ghani, nahm am jetzigen Gipfeltreffen ebenso teil, wie der des Iran, Hassan Ruhani. Nachdem der Westen in Afghanistan gescheitert ist, wollen die asiatischen Mächte die notwendige Stabilität herstellen. Und der Iran, nachdem die Verhandlungen zu dessen Atomprogramm nicht ohne Zutun Russlands und Chinas zu einem positiven Ergebnis geführt wurden, wird aktiv in die regionale Machtbalance eingeordnet.
Im Westen werden BRICS und SOZ häufig unter einer russischen Perspektive betrachtet. Tatsächlich ist es komplizierter. Der chinesische Asienexperte Xia Yishan vom Chinesischen Institut für Internationale Studien meinte aus Anlass der Gipfelergebnisse, Russland habe der SOZ in der Vergangenheit verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt, sei im Gefolge der Sanktionen der EU und der USA aber nun gezwungen, die SOZ zur Entwicklung seiner Wirtschaft zu nutzen. Das biete die Chance, in praktischen Fragen der Wirtschaftsintegration und der Gewährleistung der Sicherheit einheitlicher zu agieren.
Das gilt in anderem Sinne ähnlich für Indien. Jones, der Brookings-Mann, meint, Indiens Engagement im BRICS-Rahmen sei nur halbherzig, habe Ministerpräsident Narendra Modi doch Indien und die USA zu „natürlichen Verbündeten“ erklärt und Präsident Obama zu dem historischen Staatsbesuch im Januar 2015 eingeladen. Tatsächlich aber hat Indien alles getan, um als Vollmitglied in die SOZ aufgenommen zu werden. Dies geschah nun in Ufa, und zwar zusammen mit Pakistan. Das trägt zur Entspannung der beiden Nachbarstaaten bei – in einem multilateralen Kontext lassen sich viele Streitfragen besser lösen als im rein bilateralen Gegenüber. Indien hat nicht zuletzt seit langem Interesse an der Nutzung iranischer Häfen und an einer Gaspipeline von Iran nach Indien; das geht nur durch Pakistan. Insofern bieten das Ende des Afghanistankrieges und die Neujustierung der Beziehungen zum Iran Chancen, die Indien ungern China und Russland allein überlassen möchte. Im Übrigen sind auch die Verbindungslinien zu Russland, durch Afghanistan und Zentralasien, für Indien von strategischer Bedeutung. Im inner-eurasischen Kräfteverhältnis hofft Indien, eine stärkere Rolle dadurch spielen zu können, dass es gute Beziehungen nicht nur in der BRICS-Gruppe und der SOZ hat, sondern auch zu den USA und zur EU, um gleichsam in Zeiten der Spannungen eine Brückenfunktion zu übernehmen und dadurch die eigenen Interessen deutlicher durchsetzen zu können. So machen nicht die USA Politik mit Indien, sondern Indien mit den USA. Das Pfeifen im Walde kommt eher aus Washington.
„Wir sollten uns gewärtig sein“, sagte Xi Jinping in der bereits zitierten Rede, „dass jeglicher Fortschritt nicht auf einer geraden Linie erreicht wird, sondern über Windungen und Wendungen.“ Vielleicht, in Anlehnung an den einstigen Großen Vorsitzenden Mao, Ausdruck des Bestrebens, dass auch seine Sprüche bald in einem kleinen roten Büchlein dargereicht werden.
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