18. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2015

Bemerkungen

Na endlich!!!

Diesmal ist Wien der Pionier, aber Berlins Bezirk Lichtenberg ist ihm dicht auf den Fersen. Zumindest wollen die dortigen Linken und Grünen, dass – analog zur österreichischen Hauptstadt – bald Ampeln installiert werden, die auf ihren Leuchtfeldern auch gleichgeschlechtliche Paare präsentieren und nicht nur die ewigen Ampelmännchen und -frauchen; soviel Gerechtigkeit muss sein! Noch sind nicht alle Details aus dem Antrag der BVVler durchgedrungen und so fragt sich unsereins an unverhandelbarer Gerechtigkeit ausgerichteter Ampelpassant gespannt, wie die geforderten Ampeln nun aussehen werden: Zwei Frauen, Hand in Hand oder Lippe an Lippe? Und: Dürfen dann nur Lesben über die Straße gehen? Oder zwei Guys – mit dann vergleichbarer Fragestellung? Oder werden besagte Schwampeln separat neben den ortsüblichen und leider den Menschen unabhängig seiner sexuellen Orientierung darbietenden Lichtsignalanlagen installiert? Und wenn ja: je eine für Frauen und für Männer? Fragen über Fragen stellen sich, wenn das Thema Gerechtigkeit einmal so relevant und brisant thematisiert wird wie in diesem Fall. Wie werden die Eltern auf solche Ampeln reagieren, die – im einen wie anderen Fall – das Abbild von Kindern außen vor lassen? Und was mag eine weiter anhaltende Ignorierung ihrer Straßenüberquerungs-Menschenrechte bei Transvestiten auslösen? Oder bei Hartz-IV-Empfängern, Diabetikern oder die in diversen Religionen Gebundenen? Wie die Haustierhalter, die sich fragen werden, wann ihr vierbeiniger Liebling auf diese Weise endlich als vollwertiger Mensch anerkannt wird? Wann kommen an öffentliche Toiletten neben der Bezeichnung Damen und Herren auch Separees für Lesben und Schwule zum gleichberechtigten Einsatz? Wann endlich ist die Modebranche gezwungen, in all ihren bunten Werbungen immer auch Angebote für Homosexuelle zu offerieren. Wien – wo das Ganze schon mal als Versuch läuft – mehr noch aber Berlin-Lichtenberg dürften durch ihr mutiges Vorpreschen eine Welle losgetreten haben, deren Konsequenzen noch gar nicht absehbar sind. Und gleich Goethe nach der Kanonade von Valmy können wir sagen: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“

Helge Jürgs

Piratenrepublik als kommunistische Utopie?

Seit langem wird in den Medien das Piraten-Bild entweder als das verbrecherischer Seeräuber oder als romantischer Abenteurer verklärt. Eine ganz andere Sichtweise ist bei Daniel Defoe zu entdecken. In der ihm zugeschriebenen „Allgemeinen Geschichte der Piraten“ (1724), wird von Piraten-Missionen im späten 17. und frühen 18.Jahrhundert berichtet, die radikaldemokratische Experimente in eigenen Gemeinschaften unternahmen. Eine, auf Madagaskar angesiedelt, soll sich vielsagend Libertalia genannt haben, so auch der Titel des Buches über diese utopische Piratenrepublik, angereichert von Piratensatzungen mehrerer Piraten-Kapitäne. Ob Daniel Defoe (1660-1731) der wirkliche Autor ist, bleibt umstritten. Die Erstausgabe der Piraten-Geschichte erschien unter einem Pseudonym, was aber den Wert des Buches nicht mindert, ebenso wenig wie die Frage, ob das kurzlebige Libertalia im „Goldenen Zeitalter der Piraterie“ von 1690 bis 1725 tatsächlich existierte. Die dort beschriebenen demokratischen Ideen und neue, fast urkommunistischen Modelle des Zusammenlebens ohne Staatgewalt als historisches Phänomen sind es wert, rezipiert und diskutiert zu werden. Das tut in einem sachkundig kommentierenden Nachwort Helge Meves, der Herausgeber der deutschen Erstausgabe. Es ist erstaunlich, welche Spuren die Piraten-Gemeinschaft als Sozialrebellen im kollektiven Gedächtnis der Menschheit hinterlassen haben, wenn sie auch in der bisherigen Geschichtsschreibung viel zu wenig berücksichtigt wurden. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre, die manche Frage aufwirft.

Hans Erxleben

Daniel Defoe: Libertalia. Die utopische Piratenrepublik, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015, 238 Seiten, 22,90 Euro.

Blätter aktuell

Seit Jahren befindet sich der Kapitalismus in einer tiefen Systemkrise: Ohne exponentielles Wachstum kann er nicht fortbestehen, doch neue, wachstumsfördernde Innovationen sind nicht in Sicht. Der Geograph und Globalisierungstheoretiker David Harvey sieht im immateriellen, digitalen Konsum ein letztes Aufbäumen des Kapitalismus. Doch dessen ökologische, soziale und ökonomische Widersprüche lassen sich nicht länger überspielen, das Ende des Kapitalismus ist nur mehr eine Frage der Zeit. In der Ukrainekrise scheinen die Rollen für den Westen klar verteilt: Ein säbelrasselnder Putin hindert die Demokraten aus Kiew daran, ihr Land zu regieren. So weit, so böse. Doch dieses manichäische Bild verdeckt laut Erhard Eppler, Bundesminister a.D., die Tatsache, dass Russlands Präsident eher maßvoll auf eine Reihe von Demütigungen reagierte. Wenn man sich nicht vom gedankenlosen russlandfeindlichen Konsens löse und zur Suche nach gemeinsamen Interessen zurückkehre, setze Europa die eigene selbstbestimmte Zukunft aufs Spiel. Wir erleben derzeit die tiefste Wirtschaftskrise seit 80 Jahren, doch speziell in Deutschland scheint es, als habe sich diese in merkelsches Wohlgefallen aufgelöst. Dabei fallen soziales Oben und Unten auch hierzulande dramatisch auseinander. Wollen linke Parteien wieder in die Offensive kommen, so konstatieren Peter Brandt, André und Michael Brie sowie Frieder Otto Wolf, müssen sie sich endlich wieder auf die sozial Benachteiligten konzentrieren. Nur ein demokratisches Unten-Mitte-Bündnis kann der vielfach beklagten Entpolitisierung ein Ende setzen. Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Schweinesystem. Ein Plädoyer für fleischlose Ernährung“, „Die Jagd nach dem blauen Gold. Der Kampf um die genetischen Meeresressourcen“ und „Nach dem Sepp ist vor dem Sepp: FIFA ohne Zukunft“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Juli 2015, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

WeltTrends aktuell

Wieder mal wurden Phantom-U-Boote in den schwedischen Schären gesichtet; auch in finnischen Gewässern gab es kürzlich eine ebenso aufgeregte wie erfolglose U-Boot-Jagd. Ist der Kalte Krieg nach Europa zurückgekehrt? Schon beschwören gewisse Kreise eine „russische Gefahr“ und denken an eine NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands. Für WeltTrends skizzieren Autoren aus diesen Ländern die sicherheitspolitische Debatte. In Schweden wird bereits seit Längerem über das Für und Wider eines NATO-Beitritts gestritten, wie Bo Pellnäs und Al Burke zeigen. Vor einigen Monaten flammte auch in Finnland Streit um eine mögliche NATO-Mitgliedschaft auf, der von Seppo Hentilä geschildert wird. Gregor Putensen (Greifswald) untersucht die Entwicklung der schwedischen Neutralitätspolitik.
In der Analyse beschäftigt sich Helga Haftendorn mit der Antarktis. Dort scheint derzeit die Kooperation zu überwiegen. Noch? Der WeltBlick greift weit über Europa hinaus: Untersucht werden die innenpolitische Entwicklung Indiens ein Jahr nach der Wahl von Präsident Modi und die derzeitigen Auseinandersetzungen in Brasilien. In Tunesien scheinen Traditionen hinsichtlich Verfassung und Bildungswesen Anlass zur Hoffnung zu geben. Der Streitplatz setzt das Thema Ukraine fort; Sergej Birjukov und Wulf Lapins bieten eine russische und eine deutsche Sicht. Mit Blick auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag beleuchtet Hans Misselwitz‘ Kommentar die historischen Ansprüche Griechenlands an Deutschland.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 104 / Juni 2015 (Schwerpunktthema: „Sicherheit in Skandinavien“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Voll im Trend

Trends, die offenkundig sind, sollte man entweder unterstützen oder aber bekämpfen – und beides lohnt sich eben nur, wenn besagte Trends mit einer gewissen Nachhaltigkeit versehen sind. Das in der Regel für Schüler, Lehrer und zuletzt meist auch den Attentäter tödliche Amoklaufen in den USA scheint im Land der unbegrenzten Möglichkeiten offenbar dergestalt als unumgänglicher Preis der (Waffen-)Freiheit anerkannt zu sein, dass der Staat nun zu geballter Gegenwehr greift. Nicht, dass er den privaten Waffenbesitz verbietet oder aber eben doch stark einschränkt – dies nun nicht, denn so viel Freiheit wie die des Waffenbesitzes muss sein. Nein, ShootSpotter heißt das Zauberwort, das künftig tiefen Frieden in den Schulgebäuden Einzug halten lassen soll. ShootSpotter ist ein hochsensibles elektronisches Warnsystem, das erkennt, ob und wo sich ein Amokläufer in einem Schulgebäude aufhält. „Das Sicherheitssystem besteht nach Informationen des Herstellers aus Mikrofonen und Sensoren, die in verschiedenen Teilen der Schule angebracht werden. Die Mikros nehmen auf, wo ein Schuss fällt, und die Sensoren leiten die Informationen an die Polizei, den Schulleiter und den Schulrat weiter. Einsatzkräfte können so schneller und gezielter als bisher eingreifen“, informiert Spiegel-online über diese ultimative Problemlösung. Bedenkt man dann noch, dass auch die Bewaffnung von Lehrern in US-amerikanischen Schulen längst auf einem guten Weg ist, steht einer friedvollen Ausbildung nichts mehr im Wege, nicht einmal der von ABC-Schützen.

Hella Jülich

Ein fast vergessener Schriftsteller

Er war ein Star der Aufklärung in Deutschland: Christian Fürchtegott Gellert. Zu Lebzeiten verehrt und bewundert ist der einst gefeierte Dichter heute allerdings nahezu aus dem literarischen Gedächtnis der deutschen Kultur verschwunden.
Am 4. Juli 1715 in einem ärmlichen Pfarrhaus im sächsischen Hainichen zur Welt gekommen, prägten ihn von Kindheit an Bescheidenheit und tiefe religiöse Frömmigkeit. Mit vierzehn Jahren besuchte er die elitäre Fürstenschule St. Afra in Meißen und studierte ab 1734 an der Leipziger Universität Theologie und Philosophie. Hier kam er mit den neuen fortschrittlichen Strömungen in Kontakt. So war einer seiner Professoren Johann Christoph Gottsched. Nach vier Jahren musste Gellert allerdings das Studium unterbrechen, da ihn sein Vater nicht weiter unterstützen konnte. Es folgten einige Jahre Hauslehrertätigkeit, ehe er sein Studium fortsetzen und 1744 mit einer Dissertation über Theorie und Geschichte der Fabel beenden konnte. Seit 1751 lehrte Gellert in Leipzig als außerordentlicher Professor Dichtkunst, Beredsamkeit und Moral; insbesondere seine „Moralischen Vorlesungen“, die er bis zu seinem Tod gehalten hatte, zogen eine große Hörerschaft an. In ihnen vermittelte der „Lehrer der ganzen Nation“ die wichtigsten Grundsätze der praktischen Ethik.
Als Schriftsteller wurde Gellert vor allem durch seine Fabeln und geistlichen Lieder (auch von Ludwig van Beethoven und Joseph Haydn vertont), bekannt. In den Fabeln stellte er auf freundliche und satirische Weise die alltäglichen Probleme des bürgerlichen Lebens dar. Mit wunderbarer Beobachtungsgabe und guter Erzählkunst fand er einen natürlichen Volkston und leistete damit einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung einer modernen deutschen Literatursprache. Angeblich wurde kein Buch zu jener Zeit öfter zur Hand genommen als seine „Fabeln und Erzählungen“ (1746/48), ausgenommen natürlich die Bibel. Grundlage für diesen Erfolg war, dass sich Gellert mit seiner Dichtung nicht an ein gelehrtes Publikum richtete, sondern eine einfache, für jedermann verständliche Poesie verfasste. Zu seinem Literaturverständnis äußerte er selbst: „Mein höchster Ehrgeiz besteht darin, dass ich den Vernünftigen dienen und gefallen will und nicht den Gelehrten im engen Verstande“. Selbst im europäischen Ausland fanden seine Fabeln breite Anerkennung – erstmals für einen deutschen Dichter. Mit seiner Sammlung vorbildlicher „Briefe nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ (1751) prägte Gellert außerdem den damaligen Briefstil, indem er Natürlichkeit, Bildung und Beherrschung der Regeln anmahnte.
Nach seinem vielbetrauerten Tod (am 13. Dezember 1769 in Leipzig) wurden seine Werke jedoch bald als seichte Literatur abgetan. Es war Gellerts Schicksal zwischen den Zeiten und den Epochen zu stehen, und so wurde er als Vertreter einer überholten Auffassung von Dichtkunst angesehen. Heute ist sein Werk fast vergessen und Gellert selbst im kulturellen Gedächtnis der Deutschen kaum noch präsent. Die Einfachheit und Natürlichkeit seines Werkes, aber auch seine gepredigte Vernunft und christlichen Moralvorstellungen wollen scheinbar nicht mehr in unsere Zeit passen. Das beweist auch ein Blick in den Buchhandel, wo es zu seinem 300. Geburtstag kaum eine Veröffentlichung gibt. Christian Fürchtegott Gellert verdiente es jedoch, von einem breiten Lesepublikum wiederentdeckt zu werden.

Manfred Orlick

An die jungen Kollegen

Heutzutage pflegt der Autor von Welt oder jener, der es werden will, keine beruflichen Kontakte mehr; er netzwerkt. Anfänger tun sich mit diesem Teil der schriftstellerischen Berufsausübung schwer, weshalb an dieser Stelle das Prinzip des Netzwerkes grundlegend erläutert werden soll.
Erstens muss der angehende Autor ein abstraktes Bedürfnis an einer konkreten Person festmachen. Will er beispielsweise seinen ersten Roman veröffentlichen, sollte er seine Bemühungen auf einen Verleger konzentrieren.
Zweitens muss unser junger Freund ein zufälliges Aufeinandertreffen mit der Person seines Interesses – in unserem Fall dem Verleger – langfristig planen. Hierfür muss zunächst ein geeigneter Anlass gefunden werden: Gespräche am Rande der Buchmesse sind weniger ergiebig als ein Plausch zur Verlagsfeier. Mit einem gefälschten Presseausweis bekommt der junge Autor hierzu schnell Zutritt.
Drittens muss er nun die Sympathie der fraglichen Person gewinnen. Unabdingbar hierfür ist ein fundiertes Wissen über die Interessen des Mannes. Wenn er etwa gern angelt, muss sich der Autor einiges über die verschiedenen Fischarten der Region, Rutentypen und Fließgeschwindigkeiten aneignen. Dank Wikipedia ist das eine leichte Arbeit, der Rest ist Training. Wenn es drauf ankommt, muss er herrlich nostalgisch von Angeltouren mit dem Großvater, vom letzten großen Fang und der Stille des Seeufers schwärmen können. Und wiederum den Verleger zuhören, fleißig nicken und zustimmen und lachen. Alkohol dürfte darüber hinaus die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen.
Viertens muss sich der Autor nach diesem gelungenen Einstand in absehbarer Zeit in Erinnerung bringen. Vielleicht läuft er dem Verleger noch einmal zufällig über den Weg oder hat dem ersten Gespräch zufällig etwas hinzuzufügen. Wichtig ist, dass nichts dem Zufall überlassen wird.
Fünftens gilt die Faustregel, dass nach sieben harmlosen Begegnungen rein privater Natur der neue Kontakt erstmals genutzt werden kann. Unser Autor sollte bei einer zufälligen Begegnung mit dem Verleger wie nebenbei erwähnen, dass er schreibt und einen Verlag sucht. Der Verleger wird sich jetzt verpflichtet fühlen, sich das Manuskript wenigstens anzusehen. Wenn der Autor gute Vorarbeit geleistet hat, ist der Verleger schon aus Sympathie geradezu gezwungen, das Manuskript zu veröffentlichen. Erst dann, wenn das Buch tatsächlich im Laden liegt, dürfen die Kontaktdaten des Verlegers ins Adressbuch des Autors wandern: Der neue Kontakt wurde erfolgreich vernetzt!

Thomas Zimmermann

Medien-Mosaik

„Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der ich nicht sitzen muß, wenn ich nicht hinter ihr stehe.“ Der das in den fünfziger Jahren sagte, wusste, wovon er sprach. Der aus Görlitz stammende Werner Finck (1902-1978) war in den Jahren der Weimarer Republik nach Berlin gekommen und gründete hier 1929 das Cabaret „Die Katakombe“, das relativ unpolitisch begann, aber immer stärker gegen die braune Gefahr Stellung bezog. Hellsichtig unkte Finck schon 1931: „In den ersten Wochen des Dritten Reiches werden Paraden abgehalten, sollten diese Paraden durch Hagel, Regen oder Schnee verhindert werden, werden alle Juden in der Umgebung erschossen.“ Die „Katakombe“ konnte ab 1933 weiterspielen, aber Finck erlaubte sich immer wieder Anspielungen, etwa auf die mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit. Den „deutschen Gruß“ charakterisierte er als „aufgehobene Rechte“. Noch hatte er eine Art Narrenfreiheit, die er sogar in Gegenwart von Propagandaminister Goebbels ausnutzte und sich damit den Mann zum Erzfeind machte. Immer wieder schickte dieser mehr oder minder verdeckte Spitzel in die Programme der „Katakombe“, die sich Notizen machten. Finck sagte zu Ihnen von der Bühne herab: „Kommen Sie mit, meine Herren – oder soll ich mitkommen?“ In den Berichten hieß es dann beispielsweise: „Fink (sic!) ist der typische frühere Kultur-Bolschewist, der offenbar die neue Zeit nicht verstanden hat oder jedenfalls nicht verstehen will und der in der Art der früheren jüdischen Literaten versucht, die Ideen des Nationalsozialismus und alles das, was einem Nationalsozialisten heilig ist, in den Schmutz zu ziehen.“ Vor genau 80 Jahren war es soweit. „Die Katakombe“ wurde im Mai 1935 geschlossen und Finck sowie zwei Mitspieler ins KZ Esterwegen eingewiesen. Eine Intervention von Göring brachte ihn nach Monaten wieder in Freiheit, und nach einem Jahr durfte er sogar wieder öffentlich auftreten. Seine harmlos wirkenden Zweideutigkeiten unterließ Finck allerdings nicht. Anfang 1939 wurde er aus der Reichstheaterkammer ausgeschlossen und musste zur Wehrmacht. Ein weiterer neunmonatiger Aufenthalt in einem Gestapo-Gefängnis folgte 1942, weil er unter Verdacht stand, mit Verschwörern zusammengearbeitet zu haben. Es ließ sich nichts nachweisen.
Einige dieser Vorgänge, hat Werner Finck, der später einer der führenden BRD-Kabarettisten war, aus dem Gedächtnis rekonstruiert. Inzwischen sind Archiv-Recherchen möglich. Das hat die Historikerin Swantje Greve unternommen und daraus ein aufschlussreiches Büchlein veröffentlicht, das wichtige Details mitteilt, die helfen, die Nazi-Maschinerie besser zu verstehen.

Swantje Grev:, Werner Finck und die „Katakombe“, Hentrich & Hentrich, Berlin 2015, 88 Seiten, 9,90 Euro.

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An Kafka-Adaptionen haben sich schon berühmte Regisseure ihre Zähne mehr oder minder ausgebissen: Orson Welles (Der Prozeß, 1962), Zbynek Brynych (Amerika oder Der Verschollene, 1969), Michael Haneke (Das Schloß, 1997) – um nur wenige herauszugreifen. Es ist schwer, die klaustrophobische Atmosphäre, die Franz Kafka allein mit Worten schuf, in eine optische Entsprechung zu bringen. Jochen Alexander Freydank, einer der wenigen deutschen Oscar-Gewinner, hat sich nun an die erste Adaption von „Der Bau“ gewagt. Das ist kühn, denn Kafka erzählt hier von einem Tier in seinem verzweigten Bau. Freydank hat daraus den Büroangestellten Franz gemacht, der eine Wohnung in einem modernen, labyrinthartigen Hochhausbau der Gegenwart bezieht. Er nimmt die Umwelt als feindlich wahr und steigert sich nach seiner Entlassung in Phobien, während um ihn herum der Bau im Chaos versinkt. Zusammen mit Szenenbildner Tom Hornig und Kameramann Egon Werdin hat Freydank eine faszinierende Optik entwickelt, in der Realität und Psychose miteinander verschmelzen. Hauptdarsteller Axel Prahl ist nicht nur texttreu sondern kann den Paranoiker auch glaubhaft machen. Man sollte den Film im Kino sehen, und das bald, denn „schwierige Filme“ verschwinden oft schnell wieder von den Leinwänden.

Kafka. Der Bau, Verleih Neue Visionen, ab 9.7. in ausgewählten Kinos.

bebe

Wer liest, ist klar im Vorteil

Harry Nutt – vielleicht Cineast und möglicherweise Nichtleser – lieferte in seiner Auslese-Kolumne in der Berliner Zeitung vom 30. Juni eine treffliche, aber wohl eher unfreiwilligen Pointe. Ihm ging es um Wolfram Schüttes Essay „Über die Zukunft des Lesens“ im Feuilleton-Portal Perlentaucher, der auch „eine Art besorgte Bestandsaufnahme der Literaturkritik“ sei. Er zitierte Schütte: „Die Kritik […] sorgt sich mittlerweile über ihren ‚Bedeutungsverlust‘ beim noch Zeitung lesenden Publikum. Was denken die Verlage mit ihren Presseabteilungen über diese Entwicklung, die einem kontinuierlichen Schrumpfungsprozess unterliegt? Wann wird es die Messe-, Urlaubs- & Weihnachts- Literaturbeilagen der großen deutschen Tages- & Wochenzeitungen nicht mehr geben? Ganz gewiss dann, wenn die Verlage keine Anzeigen mehr schalten, also nicht mehr inserieren.“ Diese wurstelten bisher allenfalls mit eigenen Blogs für sich allein im Web gegen den Trend – mit Blogs, auf die der Leser bestenfalls zufällig stoße und die demzufolge kaum einer kenne. Schüttes Therapie-Vorschlag an die Adresse der Verlage: „[…] eine digitale ‚Zeitung für Literatur & literarisches Leben‘. Sie könnte z.B. den Namen Fahrenheit 451 tragen.“
Letzteres erklärte Nutt dem Leser dann vorsichtshalber: „Das ist eine Anspielung auf François Truffauts gleichnamigen Film, in dem sich eine Gruppe von Widerstandskämpfern gegen […] Bücherverbrennung dadurch zur Wehr setzt, indem sie Weltliteratur kurzerhand auswendig lernt.“
Das vielleicht auch – zunächst einmal ist Schüttes Titelvorschlag aber eine Hommage an den gleichnamigen Roman von Ray Bradbury, der 13 Jahre vor Truffauts Film erschienen war und diesem als literarische Vorlage diente. Nicht unzweckmäßig, wenn dieser enzyklopädische Schlenker noch sein darf, wäre in diesem Kontext auch der Hinweis gewesen, dass Fahrenheit 451 die Selbstentzündungstemperatur von Papier ist.

Hannes Herbst

Pferdestärke

Wie die Leipziger Volkszeitung berichtet, hat Bundespräsident Gauck der englischen Königin bei ihrem Besuch ein Bild geschenkt. Das wurde von einer vierzigjährigen Malerin nach einer Fotografie gemalt, heißt „Pferd in Royalblau“ und „stellt Elisabeth als Kind auf einem Pony dar, das von ihrem Vater George VI. am Zügel gehalten wird“. Ein Kunstexperte wird mit dem Urteil zitiert, das Bild sei „einfach ein Stück grotesken Kitschs“. Der Autor des Berichtes aber meint: „So einfach ist es nicht“ und sieht Anklänge an moderne Kunstrichtungen. Vielleicht lässt sich die Lösung mit Ringelnatz finden: „Schenke mit Geist ohne List. – Sei eingedenk. – Dass dein Geschenk – Du selber bist.“

Günter Krone

Die Müllecke

„Franz-Carl-Achard-Grundschule droht einzustürzen“ titelte dieser Tage die Berliner Woche. Im Untertitel kam die Politik zu Wort: „Eine akute Gefahr besteht laut Bezirksamt jedoch nicht.“ Beunruhigte Eltern verlangten daraufhin Auskunft von Stefan Komoß, Bürgermeister des Bezirkes Marzahn-Hellersdorf. Der beruhigte mit den Worten, dass eine „unmittelbare Schließung der Schule nicht erforderlich“ sei. „Na dann ist ja gut“, pflegte die Räubertochter Ronja Katastrophenmeldungen zu kommentieren. Zudem: „unmittelbar“ ist so ähnlich wie „sofort“ oder „unverzüglich“. Komoß’ Partei- und Bürgermeisterkollege Michael Müller, der ist allerdings Chef von ganz Berlin, sagt gerne „zeitnah“, wenn er die Lösung eines Problems verspricht. Man kann sich dann zurücklehnen, das kann dauern…
Erfolge meldete das Berliner Staatsballett über dpa: Man habe in dieser Saison 85 Prozent Auslastung gehabt und sei beliebt wie nie zuvor… Das finden auch die Tänzerinnen und Tänzer. Sie haben inzwischen acht Vorstellungen bestreikt, um einen Tarifvertrag zu erzwingen. Einnahmeausfall: 250.000 Euro. Vom Feldherrenhügel sieht eine Schlacht eben immer etwas anders aus als aus der Sicht des sterbenden Soldaten – wusste schon Weltbühnen-Autor Roda Roda. Ein kleiner Hinweis für Ihren nächsten Ballett-Besuch: Wenn Sie bemerken, dass eine Tänzerin während des großen Auftrittes des Corps in der Seitenbühne verschwindet und nach kurzer Zeit wieder auftaucht, dann hatte sie einen Krampf. Um Weitertanzen zu können nahm sie ein krampflösendes Magnesiumpräparat. Bezahlen muss sie das seit einiger Zeit selbst. Die Oper muss sparen…
Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR im Kabinett de Maizière, schrieb kürzlich im ISOR-Magazin (Pfui Teufel, Herr Diestel!), „dass diejenigen, die Maschinengewehre und Maschinenpistolen hatten, diese zu keinem Zeitpunkt eingesetzt“ hätten – und dankte im gleichen Atemzuge der Volkspolizei für ihren Beitrag zur gewaltfreien Wende. Diestel wurde natürlich sofort durchschaut: Silke Gajek (Grünen-Abgeordnete im Schweriner Landtag) warf Diestel „unglaubliche Ignoranz“ vor. Stimmt, auch die NVA, das MfS und die Kampfgruppen hatten „Maschinengewehre und Maschinenpistolen“. Wie schön könnte man sich heute entrüsten, hätten die wirklich… wenigstens einmal.

Günter Hayn

Mein Dekalog

Wir haben Blättchen-Autoren und -Freunde befragt: Wenn Sie, aus welchen Gründen auch immer, für den Rest Ihres Lebens mit zehn Büchern auskommen müssten, welche wären dies? Und wir haben auch uns selbst befragt …

Die Redaktion

1. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
2. Heinrich Heine: Die Harzreise
3. Mark Twain: Bummel durch Europa
4. Thomas Mann: Der Zauberberg
5. Hermann Hesse: Unterm Rad
6. Simone de Beauvoir: In den besten Jahren
7. Anton Tschechow: Meistererzählungen
8. Vincent van Gogh: Als Mensch unter Menschen
9. Kurt Tucholsky: Ein Pyrenäenbuch
10. Karel Čapek: Das Jahr des Gärtners
11. Christian Morgenstern: Sämtliche Galgenlieder

Renate Hoffmann

1. Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter
2. Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein
3. Hermann Kant: Die Aula
4. Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum
5. Allan Sillitoe: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
6. Leonhard Frank: Die Jünger Jesu
7. Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker
8. Max Frisch: Homo Faber
9. Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer
10. Hermann Hesse: Peter Carmenzind

Alfons Markuske

Aus anderen Quellen

„Egal welchen beschönigenden Ausdruck man verwendet – ‚high-value targeting‘ oder, wie die Israelis es nennen, ‚gezielte Prävention‘“, schreibt Andrew Cockburn, Washington-Redakteur von Harper’s Magazine, und fährt fort: „Für Washington sind Mordanschläge zur bevorzugten Strategie im 21. Jahrhundert geworden. Die Methoden mögen variieren, die Angriffe können mit Drohnen, Marschflugkörpern oder mit speziell ausgebildete Hunter-Killer-Teams erfolgen. Doch im Kern geht es immer darum, die Führungspersonen des Feindes direkt anzugreifen und auszuschalten.“ Allerdings sei diese sogenannte Kingpin-Strategie bereits im Antidrogenkrieg der USA in den 1990er Jahren komplett gescheitert und habe das Gegenteil der intendierten Ziele zur Folge gehabt, wie Cockburn faktenreich nachweist. „Auf ähnliche Weise, aber in weitaus größeren Dimensionen“ habe diese Strategie „auch […] in der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens versagt. Statt ihre erklärten Ziele zu erreichen, bewirkte sie lediglich, dass terroristische Gruppen immer mehr neue Leute rekrutieren und im Schatten der Drohnen bestens gedeihen konnten.“
Andrew Cockburn:
Gezieltes Töten. Le Monde diplomatique, 11.06.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Zum Zeithorizont des westlichen Engagements in Afghanistan meint Experte Thomas Ruttig, auch Blättchen-Autor: „Der Westen muss sich […] klar machen: Afghanistan wird in zehn Jahren nicht auf eigenen Beinen stehen, wird also weiter auf fremde Hilfe angewiesen bleiben. Viele der derzeitigen Probleme wurden durch den internationalen Einsatz verschärft. Deshalb darf sich der Westen nicht komplett aus Afghanistan zurückziehen.“ Und zur aktuellen Lage im Lande sowie zu den Zielen der Taliban: „Die Wiedererlangung der Macht ist grundsätzlich ihr Ziel. Ob sie das mit der Frühjahrsoffensive erreichen wollen und können, glaube ich eher nicht. Die Situation ist nicht am Kippen, es wird aber intensiver gekämpft.“
Andreas Schwarzkopf: „Sicherheit darf sich nicht auflösen“, fr-online, 25.06.2015. Zum Volltext hier klicken.

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„Als das Abkommen über die nordamerikanische Freihandelszone (Nafta) am 1. Januar 1993 in Kraft trat“, so ruft Lori M. Wallach, Direktorin der Verbraucherschutzorganisation Public Citizen’s Global Trade Watch, Washington, D. C., in Erinnerung, „wurde das Blaue vom Himmel herunter versprochen – in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht. Heute sind sich in den USA die meisten Leute – quer durch alle politischen Lager – einig, dass Nafta ihnen selbst und der Nation als Ganzes geschadet hat.“ Die Autorin wartet mit detaillierten Beispielen sauf: „Die Kaufkraft eines Mindestlohnbeziehers ist in Mexiko heute im Durchschnitt um 38 Prozent geringer als vor Inkrafttreten von Nafta. Anhaltende Landflucht, steigende Preisen und stagnierende Löhne haben dazu geführt, dass nach wie vor mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung und mehr als 60 Prozent der Landbevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Das versprochene Nafta-Paradies ist ausgeblieben.“ Trotzdem sind politisch und wirtschaftlich maßgebende Akteure nicht bereit, Lehren zu ziehen: „[…] je mehr Details über die streng vertraulichen Verhandlungen zur transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) bekannt werden, desto deutlicher wird, dass TTIP dieselben Konstruktionsfehler aufweist wie sein amerikanischer Vorgänger.“ Fazit: „Ein Blick auf die Bilanz der Nafta sollte uns motivieren, das TTIP-Projekt zu verhindern.“
Lori M. Wallach: Zwanzig Jahre Freihandel in Amerika, Le Monde diplomatique, 11.06.2015. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Intervention im Kosovo, die 1999 ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats erfolgte, diente zur Vorbereitung auf die neue Rolle der Nato – unter humanitärem Deckmantel“, konstatiert Gabriel Galice, Präsident des Internationalen Friedensforschungsinstituts (Gipri) in Genf, und fasst die nachfolgende Entwicklung . zusammen: „In einer gemeinsamen Erklärung vom 23. September 2008, die von der UNO zunächst geheim gehalten wurde, segneten Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den Umbau der UN-Sicherheitsarchitektur ab, der durch die Intervention der Allianz in Libyen im Jahre 2011 bekräftigt wurde.“ In diesen Kontext ordnet der Autor auch ein, dass nach „den traumatischen Ereignissen, die auf das Nichteingreifen der internationalen Staatengemeinschaft im bosnischen Srebrenica 1995 und beim Genozid an den Tutsi in Ruanda 1994 zurückgehen, […] beim UN-Weltgipfel 2005 der Begriff der „Schutzverantwortung“ eingeführt [wurde]. Damit hatten die Verfechter humanitärer Interven­tio­nen ihr Ziel nach jahrelangen Bemühungen erreicht. Was mit der Forderung begann, dass Hilfe für bedrohte Menschen nicht durch Staatsgrenzen gestoppt werden dürfe, endete damit, dass im Namen der Menschenrechte militärische Interventionen abgesegnet wurden.“
Gabriel Galice: Frieden schaffen. Neue Instrumente für die Vereinten Nationen, Le Monde diplomatique, 11.06.2015. Zum Volltext hier klicken.