18. Jahrgang | Nummer 2 | 19. Januar 2015

Unzeitgemäße Betrachtungen

von Peter Petras

„Wir sind im Krieg. Und diesen Krieg müssen wir gewinnen.“ Mit diesen Worten beginnt eine Talk-Runden-Moderatorin einen der allabendlichen Gesprächszirkel, in denen immer wieder dieselben Leute immer wieder dieselben Thesen verkünden. Es rieselt, und zielt darauf, die Kriegsertüchtigung der deutschen Bevölkerung zu befördern. Am Ende mag man es kaum noch hören, und es nistet sich dennoch im Unterbewusstsein ein. Man schaut in der U-Bahn genauer hin.
Zur „Sicherheitslage“ rät der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (Rheinland-Pfalz, SPD): „In diesen Zeiten lieber einmal zu viel die Polizei informieren als einmal zu wenig.“ Das ist der Appell an das „gesunde Volksempfinden“. Im Blick sind natürlich die Muslime, die Zugewanderten. Das öffnet dem allgegenwärtigen Denunziantentum Tür und Tor – wenn jeder seinen Nachbarn bespitzelt, braucht es keine Stasi und die Telefonkontrolle ist auch nicht so wichtig (deshalb erklärt sich Lewentz auch gegen die „Vorratsdatenspeicherung“). Bekanntlich war die Spitzeldichte bezogen auf die Bevölkerungsgröße bei der Gestapo viel geringer als bei der Stasi. Erstere bekam die meisten Informationen aus der Bevölkerung, freiwillig, während die zweite sie mühsam erspitzeln musste. Das soll jetzt wieder so werden. Diesmal dank SPD und qua Rechtsstaat.
Den will Heiner Geißler aber gerade kastrieren – vor kurzem war er noch der Lieblingskonservative der Linken, weil er als neu-gewonnenes Attac-Mitglied in Zeiten der Finanzkrise eine verhaltene Kapitalismus-Kritik äußerte. Die ging jedoch nie über das hinaus, was er bei den Jesuiten einst an Soziallehre gelernt hatte. Geißler fordert: „Radikale Islamisten schnell ausweisen!“ Was er meinte, hat er nicht erklärt. Aber es klingt gut und passt zur derzeitigen Stimmung. Deutsche Staatsbürger kann er nicht ausweisen, ob sie radikale Islamisten oder radikale Katholiken sind oder was auch immer. Dazu müsste das Staatsbürgerschaftsrecht verändert werden. Der NS-Staat hat sich dazu verstanden, deutschen Staatsbürgern die Staatsbürgerschaft zu entziehen, später auch die DDR; in der Bundesrepublik ist das bisher nicht vorgesehen.
In der erwähnten Talk-Runde widerspricht der dort hingesetzte Polizist: „Wir sind nicht im Krieg. Das sind gemeine Mörder.“ Damit wären wir wieder bei dem berühmten Fragenkomplex, was Soldaten, Söldner, Krieger und Mörder unterscheidet. Und wer ist ein „gemeiner Mörder“? Der besonders heimtückische oder der übliche, normale, einfache? Der unübliche, nicht normale aber dennoch heimtückische Mörder ist der Soldat, der am Bildschirm sitzt und eine Todesdrohne steuert. Wenn er aufpasst, trifft er vielleicht den beabsichtigten, vorgeblichen oder tatsächlichen „Terroristen“, der ihm befohlen wurde, und tötet ihn. Die den vielleicht umgebenden Menschen, die dem Grunde nach unschuldig sind und dennoch ums Leben kommen, sind der sogenannte Kollateralschaden. Rechtsstaatlich ist das nicht. Rechtsstaatlich wäre, den verdächtigen Mann zu fassen, ihn vor ein ordentliches Gericht zu stellen, nach Beweislage zu verurteilen und entsprechend zu bestrafen. Die Todesstrafe ist in Europa nicht mehr vorgesehen. Die Drohne vollzieht sie trotzdem.
Wenn der heimtückische Mörder, der ein Soldat ist, aber nicht aufmerksam ist, weil er bekifft ist oder übermüdet, wird schon mal ein falsches Ziel ausgewählt. Dann sterben alle Teilnehmer einer Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan oder eines Dorffestes im Jemen. Alle Toten sind dann „Kollateralschaden“. Hat sie im Westen schon jemand betrauert? Kam jemand auf die Idee, eine große Mahnwache vor dem Brandenburger Tor abzuhalten? Nein. Natürlich nicht. Waren sie weniger wert, als die Journalisten von Charlie Hebdo? Oder gilt die Trauer nur für EU-Bürger, während die dort, „hinten in der Türkei“, unsere Kreise nicht stören sollen? Wie selbstverständlich wurde von den Muslimen in Deutschland und in der EU verlangt, dass sie sich entschuldigen. Haben sich die Christen in Europa für die Kriegsopfer in Irak und Libyen entschuldigt, die „christliche“ Soldaten dort verübt haben?
Die Trauer und die Forderung nach Entschuldigung sind asymmetrisch wie der Krieg, der längst tobt. Ganze Bibliotheken sind zu dieser Art asymmetrischen Krieges geschrieben worden. Auf der einen Seite eine überwältigende Kriegsmaschinerie modernster Waffensysteme, gegen die jede „normale“ Feldarmee aus dem Nahen Osten keine Chance hätte. Daher auf der anderen Seite hoch-fanatisierte, klandestin militärisch, an Handfeuerwaffen und Sprengstoff ausgebildete Einzelkämpfer, abgerichtet, gezielt Personen zu ermorden – entweder exemplarisch ausgesuchte, wie die französischen Zeichner, die auch den Propheten karikiert hatten, wohl wissend, dass es im Islam ein Bilderverbot gibt und sich fromme Muslime dadurch in ihrem Glauben beleidigt fühlen können, oder beliebige Menschengruppen, nur um Angst und Schrecken zu verbreiten.
Da diese Kämpfer zu ihren Zielen in Westeuropa oder den USA vordringen müssen, ist es eine Polizeiaufgabe, sie auf diesem Wege dingfest zu machen und gezielt festzuhalten. Wenn der Befehl lautet, die Attentäter „zu neutralisieren“, heißt das, sie gezielt zu töten. Da ist auch der französische oder belgische Staat schon weiter als Marine Le Pen mit ihrer altmodischen Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe. Mit der breiten Unterstützung der verängstigten Bevölkerung ist dies eine lösbare Aufgabe. Das Aufhalten der Drohnen über Afghanistan, Pakistan oder Jemen für die dortigen Kräfte ist dagegen eine unlösbare Ausgabe.
Als zu Beginn des Afghanistankrieges die Losung ausgegeben wurde: „Deutsche Interessen werden am Hindukusch verteidigt“, lautete die Antwort schon damals: „Dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Taliban ihre Interessen in Deutschland verteidigen.“ Die waren und blieben gemeine Nationalisten und verließen ihren afghanischen Boden nicht, machten ihn aber den NATO-Truppen unerträglich heiß.
Die islamistischen Netzwerke des „Islamischen Staates“ und von al Qaida dagegen agieren international. Der asymmetrische Krieg findet fortan offensichtlicher als bisher nicht nur im Nahen und Mittleren Osten statt, sondern auch im Westen. Auf der einen Seite ein Oberster Kriegsherr in Washington, der Drohneneinsätze befiehlt. Auf der anderen Seite ein Oberster Kriegsherr auf der Arabischen Halbinsel, der Terroristeneinsätze in Europa befiehlt. Das schraubt sich gegenseitig hoch. Und es wird nicht aufhören, solange der Westen einen Siegfrieden herbeibomben will.