18. Jahrgang | Nummer 2 | 19. Januar 2015

Sprache beherrschen. Eine Erinnerung

von Erhard Weinholz

Bald fünfunddreißig Jahre ist es her, dass sich eines Abends gegen acht einige Freunde und Bekannte in meinem großen Zimmer zum Gespräch zusammenfanden. Im Frühjahr muss es gewesen sein oder im Herbst, denn der Himmel war schon dunkel, doch das Fenster stand offen. Jemand meinte, wir sollten es schließen, aber dann sagten wir uns: Wieso? Haben wir etwas zu verbergen? Auf alle Fälle trafen wir uns an einem Mittwoch, von daher hatte die Runde ihren Namen. Wir folgten damit, wie ich später sah, auch in der Hinsicht dem Brauch eines anderen Kreises: der Berliner Mittwochsgesellschaft von 1783. Kants Frage „Was ist Aufklärung?“ war dort erörtert worden. Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wie er es riet, empfand König Friedrich Wilhelm II. jedoch als bedrohlich, 1798 wurde die Gesellschaft verboten. Um Aufklärung in diesem Sinne ging es, ohne dass wir von Kants Schrift wussten, auch uns: Die manipulative Machart der hiesigen Zeitungen war an jenem Abend das Thema, ein paar Beispiele aus der Berliner und dem Neuen Deutschland hatte ich zu Anfang vorgestellt. Wenn da die Meldungen „Dieb gefasst“ und „Heym zu Geldstrafe verurteilt“ übereinander standen, war uns die Absicht klar.
Chiffren des Zeitungsdeutsch zu entschlüsseln war damals eine gängige Übung. Als mein Vater einmal im ND am Schluss eines Kommuniqués auf den Satz stieß: „Das Treffen fand in einer offenen und kameradschaftlichen Atmosphäre statt“, meinte er zu mir: „Da werden sie sich wohl wieder mal gehauen haben.“ Mein Interesse an Sprache, ihren Möglichkeiten im Guten wie im Bösen, verdanke ich aber vor allem einem Werk, dessen Autor sich ebenfalls der Aufklärung verschrieben hatte: Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen. Das Kürzel steht für Lingua Tertii Imperii, Die Sprache des Dritten Reiches.
Klemperers Buch ist in der DDR viel gelesen worden, erheblich mehr als im Westen. 1990 erschien bei Reclam in Leipzig die 10. Auflage, und diese Taschenbuch-Auflagen waren hoch. Mein Vater aber, Jahrgang 1921, besaß die Erstausgabe: Berlin (Aufbau-Verlag) 1947, in Pappe gebunden wie die meisten Bücher damals und auf grauem, an den Rändern jetzt schon gebräuntem Papier in jener mageren Antiqua gedruckt, die aus der Spätzeit des Nazireichs überkommen war. In dieser ursprünglichen Gestalt schien mir der Text besser als in jeder späteren aufgehoben zu sein, und so habe auch ich vor einigen Jahren ein Exemplar dieser Ausgabe erworben. Ich schlage es stets behutsam auf, denn allzu leicht platzt bei öfterem Gebrauch der Papprücken ab, bricht schließlich der Buchblock auseinander. Eben das war mit dem Band passiert, der bei uns zu Hause im Bücherschrank stand. Doch habe ich meinen Vater, einst Wehrmachtssoldat, später Geschichtslehrer, nie gefragt, was es für ihn bedeutet hat, habe ihn auch nie darin lesen sehen. Es stand seines lädierten Äußeren wegen in der zweiten Reihe, wo ich es mit vierzehn oder fünfzehn entdeckt habe.
LTI kennenzulernen war für mich eine Art Bildungsreise, eine Reise, deren Verlauf mich immer wieder überraschte. Klemperer (1881-1960) kannte sich im alten Griechenland ebenso aus wie im Frankreich der letzten Jahrhunderte; er analysierte Alltagsrede, amtliche Verlautbarungen, Lyrik und Prosa, das Kino, den Rundfunk. Aus Sprachdetails wie der Um- und Aufwertung des Wortes „fanatisch“ oder dem Übermaß an Superlativen in der Parteipropaganda erschloss er mir den Geist des Ganzen. Aber nicht in akademischer Manier, sondern unsystematisch, wie Notizen eben sind, und eingebettet in Erzählungen vom stets gefährdeten, mehr und mehr dem Naziterror ausgesetzten jüdischen Leben in jener Zeit. Manches in dem Buch habe ich erst lange nach dem ersten Lesen verstanden. Etwa, wenn er selbstkritisch anmerkt: Ganz gleich, wie das Sprachliche sich entwickelt habe, immer lasse sich im Nachhinein beweisen, dass es genau so habe kommen müssen. Was ja auch heißt, dass wir über das Wirklichkeit Gewordene die unverwirklichten Alternativen nicht vergessen sollten. Der eigenen Argumentation, so Klemperer weiter, sei stets zu misstrauen, wichtigstes aller Satzzeichen sei das Fragezeichen. Bei der SED-Führung war es weniger beliebt; in Honeckers letzter Parteitagsrede, April 1986, fehlt es völlig, fehlte selbst da, wo die Satzlogik es verlangte.
Vielleicht hätte ich das Buch, wäre ich ihm mit dreißig begegnet, distanzierter beurteilt. Denn der „Schwerpunkt des geistigen Europäertums“, um nur eine von Klemperers anfechtbaren Äußerungen zu benennen, hatte sich eben – leider – nicht nach Moskau verlagert. So aber war es wie eine erste große Liebe; ich weiß gar nicht, wie oft ich die, Vor- und Nachwort eingerechnet, achtunddreißig Kapitel durchstudiert habe.
Kritisch untersucht hat man seit den ersten Nachkriegsjahren die neuere Entwicklung von Sprache und Sprachgebrauch hierzulande noch so manches Mal, auch in politischer Absicht. Von Sternberger, Storz und Süskind erschien, um ein frühes Beispiel zu nennen, 1957 in Hamburg der viel umstrittene Sammelband Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Ein Werk wie LTI aber hat es kein zweites Mal gegeben. Vielleicht, weil es kaum einem anderen Philologen so ergangen war wie Klemperer: Entlassung, Publikationsverbot, Verbot der Bibliotheksbenutzung und schließlich Zwangsarbeit drängten ihn zu jenem Material hin, das zur Grundlage seines mit Abstand erfolgreichsten Werkes werden sollte. 2010 erschien bei Reclam – nunmehr in Stuttgart – die 24. Auflage.
Sicherlich hat das erstarkte Interesse an jüdischen Schicksalen zu diesem Erfolg beigetragen. Aber vielleicht auch, dass Klemperers Art, Sprache zu betrachten und dabei nach dem Gehalt der Begriffe und den Absichten derer zu fragen, die sie verwenden, immer noch orientierend wirken kann: Als ich unlängst Rosa Luxemburgs Aufsatz Die Sozialisierung der Gesellschaft vom Dezember 1918 las, stolperte ich über die Wendung, diese Reform verlange ein entsprechendes „Menschenmaterial“. Das war doch die Sprache der Obersten Heeresleitung! „Material“, heißt es im Brockhaus von 1910, nenne man die „zu einer Arbeit nötigen Stoffe und Hilfsmittel“. Wie passte das zum Denken einer Sozialistin, für die die Revolution selbstbestimmtes Massenhandeln war und nicht das Ergebnis von ZK-Beschlüssen? Hatte nur ihre Sprachsensibilität versagt, oder kam hier eine unbewusste Instrumentalisierungs-, also Herrschaftssehnsucht zum Ausdruck, der Geist der Bolschewiki? Klemperer hatte in LTI solche Verdinglichung durch Sprache kritisch kommentiert, meinte aber, im Sport zum Beispiel sei eben dieser „Material“-Begriff womöglich anwendbar. Da setze ich gleich noch ein zweites Fragezeichen. Denn allzu leicht kommt man dahin, das Mittel Mensch zu opfern für den heiligen Zweck. 1916 äußerte Alt-Reichskanzler Fürst Bülow, angesichts des Vorgehens der Gegner sei der „rücksichtslose Einsatz aller Mittel“ geboten. „Ohne Rücksicht auf Verluste“, so hatte man einst anzugreifen oder die Stellung zu halten. Nicht ohne Grund war „rücksichtslos“ dann ein Lieblingswort der Nazis. Noch am 30. April 1945 befahl OKW-Chef Keitel, jeder „Versuch einer politischen oder militärischen Auflösung“ müsse „mit rücksichtsloser Gewalt niedergeschlagen werden“. Kontinuitäten und Brüche in der Geistesentwicklung zu verdeutlichen, zu erkennen, was etwa vom Wilhelminismus ins Nazitum eingeflossen war, das war auch Klemperer wichtig gewesen. Denn letztlich ging es ihm um die Frage, wie es zu diesem „Dritten Reich“ hatte kommen können.
Überwunden sind die Sprache und, so lässt sich folgern, das Denken jener Zeit noch immer nicht. Wenn es im Sommer 2011 in einem der Nachrufe auf Loriot hieß, er habe am „Russlandfeldzug“ teilgenommen, dann ist das LTI pur. Und im gleichen Blatt, ausgerechnet der FAZ, für die Sternberger einst geschrieben hatte, las ich unlängst in einer Gedenk-Anzeige, jemand sei 1941 im Osten „für Heimat und Vaterland“ gefallen. Zwei fast identische Begriffe in dieser verlogenen Formel – sonderbar…. Aber „für Führer und Vaterland“ kann man ja nun wirklich nicht mehr sagen.
Rückgriffe auf originäre Nazisprache sind indes die Ausnahme. Geblieben ist, unabhängig von der Staatsform, der Hang der Herrschenden, Problematisches zu verschleiern. So erklärte der jetzige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz bei seiner Amtseinführung, man wolle die Zusammenarbeit zwischen Bundesamt und Landesämtern „noch besser, noch effizienter“ gestalten. Hätte ich von der ganzen NSU-Affäre und der Rolle dieser Ämter dabei nichts gelesen, ich wäre wohl trotzdem stutzig geworden. Denn die Wendung war mir aus DDR-Zeiten bekannt: „Noch besser“ bedeutete, dass zuvor etwas gründlich schiefgelaufen war.

Aktuelle Analysen der bundesdeutschen Politiksprache finden sich im Blog neusprech.org.