18. Jahrgang | Nummer 3 | 2. Februar 2015

Putin – wie er die Welt sieht

von Wolfgang Kubiczek

Wladimir Wladimirowitsch Putin, Langzeitpräsident der Russischen Föderation, macht in den Medien Schlagzeilen. Offenbar ist er einer der gefährlichsten, unberechenbarsten, machtbewusstesten und verschlagensten Politiker der Gegenwart. Das verleitet dazu, die im letzten halben Jahr von Putin getätigten Äußerungen etwas genauer zu betrachten und sie in einigen Kernthesen zusammenzufassen. Wie sieht Putin nun die Welt (seine zusammengefassten Ansichten werden im Folgenden kursiv wiedergegeben), soweit man es aus seinen öffentlichen Äußerungen* ableiten kann, und was lässt sich dazu sagen?
Global: Die unipolare Weltordnung (weltweite Dominanz der USA) hat zu mehr Instabilität auf dem Globus geführt. Die heutigen Krisen sind Folge der Einmischung der USA und ihrer Partner in die Angelegenheiten anderer Länder. Derzeit vollzieht sich ein Prozess der Ablösung dieser Weltordnung durch eine multipolare.
Das ist ein Denkmuster der neorealistischen Schule der internationalen Beziehungen. Danach zählt in einem anarchischen internationalen System das Machtpotenzial der einzelnen Staaten (egal ob Demokratie oder Diktatur). Kooperation entsteht ausschließlich durch Hegemonialeinfluss oder zur Bündnisbildung gegen eine dominierende Macht. Kurz gesagt, in der internationalen Politik gibt es keine Freunde, nur Interessen. Der Status einer Weltmacht ergibt sich aus territorialer Größe und Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft, politischer Stabilität und Führungskraft, Niveau in Forschung und Bildung, kultureller Attraktivität, Energie- und Rohstoffreichtum, militärischer Macht, Übernahme globaler Ordnungsfunktionen.
Russland bekennt sich zu einem machtpolitischen Ansatz in der internationalen Politik, zur Politik der Einflusssphären und der aufwachsenden militärischen Stärke. Das unterscheidet die russische Politik keineswegs von der der USA oder der NATO. Im Gegenteil, man kann sagen, Russland hat nach dem erfolglosen Versuch in den neunziger Jahren unter Jelzin, sich bedingungslos der amerikanischen Politik unterzuordnen, nunmehr auf die eigenen Interessen besonnen und sucht diese mit gleichen Mitteln international zur Geltung zu bringen – eindeutig von der Position des Schwächeren aus.
Als Konsens bildete sich in Moskau die These heraus, dass Russland seine Machtposition nur in einem multipolaren System wahren kann.
Völkerrecht/UNO: Die weltweite Anarchie kann nur durch Vorherrschaft des Völkerrechts und die führende Rolle der Vereinten Nationen beherrscht werden. Deren Bedeutung wurde in den letzten Jahrzehnten durch den Interventionismus von USA und NATO untergraben. Ein internationaler Konsens über Grundlagen einer neuen Weltordnung ist erforderlich, dem Prinzipien wie Gleichberechtigung, gegenseitige Achtung und Berücksichtigung der Interessen der jeweils anderen Seite zugrunde liegen.
Die internationale Rechtsordnung hat durch den völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Gewalt seitens der USA und ihrer Verbündeten großen Schaden genommen. Die „Operation Allied Force“ (1999) gegen Jugoslawien war der erste Einsatz der NATO, der weder durch ein UNO-Mandat gedeckt war noch als Bündnisfall begründet werden konnte. Der Invasionskrieg der USA gegen Irak (2003), begründet mit gefälschten Geheimdienstbelegen über angebliche irakische Massenvernichtungsmittel, besaß ebenfalls keinerlei völkerrechtliche Legitimation. Nach Schätzungen haben die Bombardierung Jugoslawiens etwa 3.500 Tote und der Irakkrieg etwa 500.000 Todesopfer gefordert.
Der völkerrechtswidrige Missbrauch von UN-Sicherheitsratsresolution 1973 (Schutz von Zivilisten und Einrichtung einer Flugverbotszone in Libyen) zum Regime-Change kostete Tausende von Zivilisten zusätzlich das Leben. Ganz zu schweigen vom Einsatz von Killerdrohnen durch das amerikanische Militär. Amnesty International kommt in einer Untersuchung zum Schluss, dass sich die USA selbst eine Lizenz zum Töten ausstellen, „die menschenrechtliche Standards und das Völkerrecht vollkommen ignoriert“. In einigen Fällen könne es sich sogar um Kriegsverbrechen handeln.
Wenn sich Russland nunmehr auch das Recht herausnimmt, am Rande völkerrechtlicher Legitimität zu operieren, ist das zwar nicht zu begrüßen, jedoch ist die Abfolge von Ursache und Wirkung zu beachten. In jedem Fall hat der Westen das moralische Recht auf Empörung verwirkt.
Da ein solches Rechtschaos international aber brandgefährlich ist, kann der These über die Wiederherstellung der Vorherrschaft des Völkerrechts nur zugestimmt werden.
Containment/Verteidigungsfähigkeit: Die USA und die NATO betreiben gegenüber Russland eine Politik des „Containment“. Mit Russland kann man jedoch nicht von der Position der Stärke aus reden. Obwohl Russland sich nicht in ein neues Wettrüsten hinein ziehen lässt, wird seine Verteidigungsfähigkeit durch asymmetrische Lösungen gewährleistet. Militärische Überlegenheit über Russland wird niemand erreichen.
Das sind die Fakten: Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands; Aufkündigung des Vertrages über die Begrenzung der Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag); Entwicklung eines umfassenden US-Raketenabwehrsystems mit europäischer Komponente und Stationierung von einzelnen Elementen in der Nähe der russischen Grenze; Nichtratifizierung des Angepassten Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (A-KSE) von 1999 …
Russland reagiert seit 2011 mit verstärkten Rüstungsanstrengungen. Für 2015 sind Rüstungsausgaben in Höhe von 81 Milliarden US-Dollar vorgesehen, eine Steigerung des Anteils der Verteidigung am Bruttoinlandsprodukt von 1,5 Prozent (2010) auf 4,2 Prozent 2015 beziehungsweise von 7,5 Prozent (2011) auf 21,2 Prozent des Staatshaushalts 2015. Dagegen stehen starke Kürzungen bei den Ausgaben für das Bildungs- und Gesundheitswesen. Wie ein russischer Journalist zynisch feststellt: „Wenn es so weiter geht, sind wir in zwanzig Jahren ein Land von kranken Idioten, die auf einem Berg von Waffen sitzen.“
Allerdings räumte Putin auf einer Sitzung der militärisch-industriellen Kommission Mitte Januar ein, dass man zwar an den Zielen des staatlichen Rüstungsprogramms bis 2025 festhalten wolle, jedoch müssten die Pläne realistisch sein und die finanziellen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Staates berücksichtigen. Ohne eine ernsthafte Analyse der Situation in der Wirtschaft könne man seine Pläne auf dem Gebiet der Verteidigung und der Sicherheit nicht entwickeln. Das lässt auf eine realistischere Betrachtungsweise hoffen.
Regionale Prioritäten: Russland wird sich nicht auf den Weg der Selbstisolierung begeben. Ziel ist es, soviel wie möglich gleichberechtigte Partner sowohl im Osten wie auch im Westen zu finden. Die strategische Hauptrichtung russischer Außenpolitik sind die Beziehungen zu den benachbarten Ländern der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), insbesondere die Stärkung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU), unter Wahrung der nationalen Eigenständigkeit und staatlichen Souveränität der Teilnehmerländer. Die stärkere Orientierung Russlands auf den asiatisch-pazifischen Raum ist langfristig angelegt und entspricht dessen gewachsener politischer und wirtschaftlicher Rolle. Die umfassende Partnerschaft und strategische Zusammenarbeit mit China wird allseits gestärkt werden.
Russland verfolgt gemäß seiner 2013 verabschiedeten Konzeption eine multivektorale Außenpolitik. Das Wortungetüm will sagen, dass Russland seine Beziehungen in alle Richtungen entwickelt, solange seine staatliche Souveränität und seine legitimen nationalen Interessen geachtet werden. Priorität hat dabei das Verhältnis zu den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, soweit sie der GUS angehören.
Die in den Medien immer wieder kolportierte These, Russland sei in der internationalen Gemeinschaft isoliert, entspricht nicht den Tatsachen, versteht man unter internationaler Gemeinschaft etwas mehr als den Westen. Das offenbarte auch die Abstimmung zur Resolution 68/262 in der UN-Vollversammlung vom März 2014 über die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine. Von 193 Mitgliedsländern stimmten lediglich 100 (das sind 51,81 Prozent) für die Resolution. Nach einer anderen Rechnung stehen die einhundert Befürworter der Resolution lediglich für 33,8 Prozent der Weltbevölkerung.
Dennoch verbleiben als Bündnispartner Russlands lediglich die Mitgliedsländer der ab Jahresanfang in Kraft getretenen EWU. Aber auch hier gibt es keine heile Welt für die russische Politik. Das nach Russland wirtschaftlich stärkste Land Kasachstan verfolgt ebenfalls eine „multivektorale Außenpolitik“, das heißt, es orientiert sich ausdrücklich nicht nur an Russland. Als Gegengewicht bietet sich der Nachbar China an, aber gute Beziehungen bestehen auch zum Westen. Die Ukraine-Krise hat eher die Fliehkräfte in der EWU gestärkt. Kasachstan und Belarus verweigerten ihre Teilnahme an den russischen Antwortsanktionen gegen den Westen. Lukaschenko intensivierte freundschaftliche Kontakte zu Kiew, was dort freudig zur Kenntnis genommen wurde. In Kasachstan kamen Befürchtungen einer Wiederholung des Krim-Szenarios im Norden des Landes auf. Die EWU wird weder politisch noch wirtschaftlich ein Selbstläufer werden.
Europa: Ein Sicherheitsnetz für ganz Europa ist notwendig. Gleiche Sicherheit, Stabilität, Achtung der Souveränität und Nichteinmischung müssen Grundlage eines einheitlichen wirtschaftlichen und humanitären Raumes von Lissabon bis Wladiwostok sein.
Russland hat über viele Jahre ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Beteiligung der USA und Kanadas favorisiert. So schlug Moskau 1994 ein „gesamteuropäisches Partnerschaftskonzept“ vor, das die OSZE zu einer vollwertigen Regionalorganisation – einer Art europäischer UNO mit einem eigenen Sicherheitsrat – machen sollte. Letzter russischer Versuch war die im Juni 2008 vorgetragene Idee eines Vertrages über europäische Sicherheit, die im November 2009 zu einem konkreten Vertragsentwurf ausformuliert wurde. Die NATO sah darin den Versuch Russlands, ein gleichberechtigtes Mitspracherecht in europäischen Sicherheitsfragen zu erlangen. Dem entgegengesetzt wurde die sicherheitspolitische Isolierung Russlands. Dem Land wurde gleiche Sicherheit verweigert. Eine zentrale Konzeption, die zum Ende des kalten Krieges geführt hatte, nämlich dass gemeinsame und gleiche Sicherheit für alle bedeutet, dass jede Seite die legitimen Sicherheitsinteressen der anderen Seite respektiert und ihr das gleiche Maß an Sicherheit zubilligt, das sie für sich selbst in Anspruch nimmt, wurde unter Ausnutzung der Schwäche Russlands ad acta gelegt. Damit wurden auch die Prinzipien der Charta von Paris für ein neues Europa (1990) verraten.
Europäische Union: Die EU ist der wichtigste Handelspartner Russlands, das für eine Erweiterung der Wirtschaftsbeziehungen und eine Modernisierung ihrer vertragsrechtlichen Grundlagen eintritt. Russland ist seine Reputation als zuverlässiger Lieferant von Energieressourcen außerordentlich wichtig. Es würde einen Dialog zwischen der EU und der Eurasischen Union begrüßen.
Russland und die EU-Staaten waren bis zur Ukraine-Krise füreinander strategische Wirtschaftspartner mit wachsender Tendenz. Im Export der EU nahm Russland 2010 den vierten Platz nach China, den USA und der Schweiz ein, während das Land im Import sogar auf dem dritten Platz rangierte (10,5 Prozent). 2013 hatte die EU einen Anteil von 49,7 Prozent am russischen Außenhandel, wobei in der Reihenfolge die Niederlande, Deutschland und Italien die vorderen Plätze einnahmen. Trotz antirussischer Rhetorik in Politik und Medien der letzten Jahre blieben die deutsch-russischen Handelsbeziehungen von gegenseitigem Vorteil, Stabilität und Vertrauen geprägt. In einem Beitrag für die Moskowskie nowosti erklärte Putin vor seinem erneuten Amtsantritt: „Russland ist ein untrennbarer, organischer Bestandteil des Großen Europa, der umfassenden europäischen Zivilisation. Unsere Bürger fühlen sich als Europäer. Uns ist es überhaupt nicht gleich, wie sich die Angelegenheiten des vereinten Europa entwickeln. Daher schlägt Russland vor, sich auf den Weg zur Bildung eines einheitlichen ökonomischen und humanitären Raumes vom Atlantik bis zum Stillen Ozean zu begeben.“
Diese guten Voraussetzungen sind von der EU zum eigenen Schaden „durch unbedachtsames Handeln“, wie der jetzige EU-Kommissionspräsident einräumt, bei der Ukraine-Assoziierung zunichte gemacht worden. Die USA haben die Situation genutzt und schaden mit ihrer auf eine Isolierung Russlands ausgerichteten Politik nicht nur der Ukraine und Russland, sondern im erheblichen Maße auch der EU. Obwohl sie sich unwohl fühlt, ist die EU bislang nicht aus der Rolle des amerikanischen „Pudels“ herausgekommen.
USA: Russland will seine Beziehungen zu den USA nicht einschränken und tritt für einen konstruktiven Dialog auf gleichberechtigter Grundlage ein.
Putin steht für ein normales Verhältnis zu den USA unter der Voraussetzung, dass Russland als gleichberechtigter Partner und globale Macht akzeptiert wird. Langfristig ist Russland im Unterschied zu China für die USA zwar nur zweitrangig („Regionalmacht“, wie Obama abfällig feststellte), aber aktuell stellt es die Hauptgefahr dar, da es der einzige größere internationale Akteur ist, der die USA-Vorherrschaft offensiv in Frage stellt. Die Ukraine ist Schlachtfeld dieses Machtkampfes geworden, wobei unter allen Aspekten – geostrategisch, historisch, wirtschaftlich und kulturell – die Interessen Russlands bis ins Mark getroffen sind. Die Einflussnahme der USA auf die Ukraine ist massiv. Dazu gehören fast tägliche Kontakte zwischen ukrainischen und US-Politikern auf Arbeitsebene; Zusammenarbeit der Geheimdienste und der Streitkräfte bis hin zur Besetzung von ukrainischen Regierungsposten mit US-Staatsbürgern. Die ukrainische Wirtschaftsministerin Natalija Jaresko trägt zwar einen ukrainischen Namen, ist aber in Illinois geboren und diente im State Department und der US-Botschaft in Kiew. Die im Dezember erfolgte Unterzeichnung des „Ukraine Freedom Support Act 2014“ durch Obama öffnet umfangreiche Möglichkeiten zur Finanzierung militärischer Hilfe für die Ukraine, neue Sanktionen gegen Russland, verstärkte Unterstützung für prowestliche Kräfte in Moldau und Georgien bis hin zum Ausbau der gegen Russland gerichteten Propagandakapazitäten. Das traurige Fazit: Der Konflikt zwischen Russland und den USA ist so weit vorangetrieben, dass er über Jahre hinaus nicht eingedämmt werden kann, ja sogar die Gefahr einer Ausweitung der militärischen Konfrontation besteht.
Krim: Russland konnte nicht zulassen, dass sein Zugang zum Schwarzen Meer wesentlich eingeschränkt und das Kräfteverhältnis im Schwarzmeerraum grundsätzlich verändert wird. Auf der Krim hat es keine Verletzung des Völkerrechts gegeben, da ein eindeutiges Referendum der Krim-Bevölkerung vorliegt. Für Russland hat die Krim heilige Bedeutung.
Es ist müßig zu streiten, ob der Anschluss der Krim an Russland ein Bruch des Völkerrechts war. Man müsste die Diskussion um das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes zur Unabhängigkeit Kosovos wieder aufmachen. Zwei Aspekte lassen sich bezüglich der Krim aber nicht leugnen. Zum einen war sie seit dem 18. Jahrhundert für Russland zwecks maritimer Machtprojektion stets von immenser strategischer Bedeutung und Heimathafen der russischen/sowjetischen Schwarzmeerflotte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es zu heftigen Konflikten über den weiteren Verbleib der Krim und der Schwarzmeerflotte. Erst 1997 gelang es den Verbleib der russischen Schwarzmeerflotte bis 2017 zu regeln. 2010 wurde das Stützpunktabkommen gegen preisgünstige Erdgaslieferungen bis 2042 verlängert. Dieser Kompromiss wurde durch den Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und die dezidiert proamerikanische Politik der neuen Regierung in Frage gestellt. Russland sah sich zur Wahrung seiner geostrategischen Interessen zum Handeln gezwungen. Zum anderen hat sich die Bevölkerungsmehrheit der Krim stets zu Russland gehörig gefühlt und nach 1990 mehrfach den nur mit Mühe von Kiew unterdrückten Versuch unternommen, sich von der Ukraine zu lösen: 1992 erklärte der Oberste Sowjet der Krim die „Republik Krim“ für unabhängig. Durch Druck aus Kiew wurde die Verfassung der ukrainischen Rechtsordnung angepasst. Wahlen im Jahre 1994  sahen mit großer Mehrheit (rund 73 Prozent) den Russischen Block als Sieger, der die Wiedervereinigung der Krim mit Russland forderte. Sie wurden von ukrainischer Seite für ungültig erklärt. So ging es weiter, bis der ukrainisch-russische Freundschaftsvertrag von 1997 abgeschlossen wurde.
Die Identifizierung der Mehrheit der Bevölkerung mit Russland fand unzweifelhaften Ausdruck in der Unabhängigkeitserklärung der Krim und dem nachfolgenden Referendum im März 2014 zur Wiedervereinigung mit Russland.
Ukraine: Der Ukraine-Konflikt muss mit politischen Mitteln gelöst werden. Russland geht davon aus, dass ein gesamtpolitischer Raum wieder hergestellt wird, und ist für eine Erfüllung der Minsker Vereinbarungen. Die Ukraine hat das Recht auf die Wahl ihres eigenen Entwicklungsweges und ihrer Bündnispartner. Zu einer politischen Lösung gehört auch die gleichberechtigte Teilnahme aller Bevölkerungsgruppen an den Staatsangelegenheiten. Russland wird es nicht zulassen, dass die ukrainische Regierung ihre politischen Gegner im Osten vernichtet.
Aus russischer Sicht ist der Ukraine-Konflikt eine innerukrainische Auseinandersetzung, die einer politischen Lösung zwischen der ukrainischen Regierung und den ostukrainischen Aufständischen bedarf. Russland gewährt lediglich humanitäre Hilfe. Es kann aber russische Freiwillige nicht daran hindern, ihren Landsleuten in der Ostukraine auch militärisch zur Hilfe zu eilen. Zugleich steht die Drohung, dass Russland es nicht zulassen wird, dass die ukrainische Regierung ihre politischen Gegner im Osten vernichtet. Gerade jetzt erleben wir offensichtlich den zweiten begrenzten Einsatz russischer Truppen zur Stützung der Rebellen, was bisher immer dann geschah, wenn diese durch die ukrainische Armee in Bedrängnis gerieten. Die jetzige Unterstützung verfolgt das Ziel, die Großstädte in der Rebellenzone, wie Donezk, mit einem Sicherheitskordon zu umgeben, der es der ukrainischen Armee nicht ermöglicht, wahllos in Wohngebiete zu schießen.
Politisch befürwortet Russland (noch) die territoriale Integrität einer föderativen Ukraine (minus Krim), mit einem hohen Grad an Selbstständigkeit der von den Separatisten beherrschten Gebiete.
Die ukrainische Regierung wird nicht umhinkönnen, eine Verhandlungslösung zu akzeptieren, will sie nicht auf die Zugehörigkeit der Ostgebiete endgültig verzichten. Der Versuch einer militärischen Lösung würde die Ausweitung des Konflikts nach sich ziehen.

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Lebt Putin nun in einer anderen Welt, wie Kanzlerin Merkel meint? Nein, er lebt in dieser Welt und betreibt eine Politik im nationalen Interesse Russlands. Auslöser für die gefährliche Konfrontation war das Unverständnis des Westens über die tatsächlichen Verhältnisse in der Ukraine und darüber, wie weit man Russlands Interessen missachten kann. Ohne den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine (mit westlicher Hilfe) würden die Krim heute noch zur Ukraine gehören, die Bevölkerung in der Ostukraine friedlich ihrer Beschäftigung nachgehen, viele Menschen wären noch am Leben, Janukowitsch wäre bei der nächsten Wahl abgewählt und das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet worden.
Das Leid, dass dieser Krieg über die Zivilbevölkerung gebracht hat, und der Hass, der zwischen den Brudervölkern für lange Zeit gesät wurde, rechtfertigt weder Unterstützung noch Sympathie für eine der beiden außer Kontrolle geratenen Kriegsparteien. Allerdings sollte man auch nicht die Brandstifter vergessen, die diesen Konflikt Anfang 2014 ausgelöst haben.

* – Herangezogen wurden folgende Quellen:
Совещание послов и постоянных представителей России; 1.7.2014;
Заседание Международного дискуссионного клуба „Валдай“; 24.10.2014;
Интервью немецкому телеканалу ARD; 17.11.2014;
Послание Президента Федеральному Собранию; 4.12.2014;
Большая пресс-конференция Владимира Путина; 18.12.2014;
Заседание Военно-промышленной Kомиссии; 20.01.2015.