17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Die Welt verändern

Wie Darwin und Freud gehört Marx
zu der kleinen Gruppe von Denkern,
deren Namen und Ideen […] Eingang
in die allgemeine Kultur der Moderne gefunden haben.
Eric Hobsbawm

Der Sozialismus ist nicht an seiner Idee gescheitert,
sondern an seinen miesen Verwaltern.
Walter Janka

von Alfons Markuske

„Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus“ ist der letzte, noch zu seinen Lebzeiten erschienene Sammelband des großen marxistischen Historikers und Publizisten Eric Hobsbawm. Versammelt sind in dem Bande Arbeiten aus den Jahren 1956 bis 2009, bei deren Lektüre, um damit zu beginnen, sich der Gedanke aufdrängt, dass Jankas aphoristisches Diktum zu kurz greift. Es sei denn „mies“ schlösse das fundamentale intellektuelle Defizit dieser Verwalter ein, gar nicht begriffen zu haben, dass Marx und Engels keine geschlossene, keine nur zu verwirklichende Idee für die auf den Kapitalismus folgende Gesellschaftsformation hinterlassen hatten. Ihre Schriften waren, so formuliert es Hobsbawm, „wie jedes Denken, das den Namen verdient – works in progress, ständiger Veränderung unterworfen“. Und verallgemeinernd fasst Hobsbawm seinen Befund dahingehend zusammen, dass es „praktisch unmöglich“ sei, „aus den Schriften der Klassiker so etwas wie strategische oder taktische Handlungsanleitungen abzuleiten“.
Das Defizit unserer Verwalter und mehr noch seine verheerende Langzeitwirkung resultierten in erheblichem Maße aus der nach der Oktoberrevolution einsetzenden und später von der Sowjetunion den „Bruderparteien“ in den realsozialistischen Staaten bis Mitte der 1980er Jahre oktroyierten Kanonisierung des geistigen Erbes von Marx, Engels und Lenin – ein Prozess, der jede substanzielle Weiterentwicklung ausschloss und auf den Hobsbawm ausführlich Bezug nimmt. Damit beraubten sich die miesen Verwalter allerdings zugleich des wissenschaftlichen Instrumentariums, die Fehler des eigenen Entwicklungsweges zu erkennen und Wege zu deren Überwindung zu finden. Erschwerend kam hinzu, dass diese Verwalter sich bereits im Anfangsstadium des später so genannten Realsozialismus als neue Klasse (Milovan Djilas) etabliert hatten und in der Endphase dieses „Sozialismus“ ein letztlich unüberwindliches Hindernis für tiefgreifende gesellschaftliche Reformen bildeten – nicht zuletzt, weil solche Reformen ihre eigene privilegierte soziale Stellung gefährdet hätten. Letzteres ist sehr anschaulich nachzulesen bei Georgi Schachnasarow („Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater“, erschienen 1996).
Um auf Jankas Aphorismus zurückzukommen – trotz seiner Verkürzung weist er auf eine ganz zentrale Frage hin: Wie kann verhindert werden, dass bei möglichen künftigen Versuchen, sozialistische/kommunistische Gesellschaften zu errichten, wieder Millionen von Menschen und damit erneut auch die Idee miesen Verwaltern zum Opfer fallen? Darauf finden sich in Hobsbawms Sammelband keine Antworten. Aber Hinweise auf Richtungen, in denen die zu suchen sein könnten, schon – etwa in folgender Überlegung: „Wie können wir erwarten, das menschliche Leben zu verändern, eine sozialistische Gesellschaft (im Gegensatz zu einer vergesellschafteten und gesellschaftlich verwalteten Ökonomie) zu schaffen, wenn die breite Masse der Menschen vom politischen Prozess ausgeschlossen ist und es ihr vielleicht sogar gestattet ist, in die Entpolitisierung und die Apathie gegenüber öffentlichen Angelegenheiten abzugleiten?“
Gleich im ersten Essay des Bandes resümiert Hobsbawm: „Unser Urteil über den Marxismus des 20. Jahrhunderts beruht nicht darauf, wie Marx die Dinge dachte, sondern auf posthumen Interpretationen und Revisionen seiner Schriften.“ Und derer von Friedrich Engels, den der Autor als von Marx „untrennbar“ bezeichnet. Vor diesem Hintergrund geht es Hobsbawm seit Jahrzehnten darum, das Marxsche Denken, das unter einem Gebirge über Generationen angehäufter Schichten ideologischer Sedimente weitgehend verborgen war, wieder frei zu legen. Dabei bleibt mancher über Generationen sakrosankte Lehrsatz auf der Strecke. Zum Beispiel: „So lässt sich die Behauptung, im Hinblick auf die beschleunigte Entfaltung der Produktivkräfte sei der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen, schwerlich auf Marx zurückführen.“ Das weist Hobsbawm nicht minder auch für die „zu 100 Prozent einer staatlichen Planung unterworfenen Befehlswirtschaft der UdSSR, wie sie die Bolschewiki in Marx hineindeuteten“, nach. Solche Positionen seien „der Theologie näher als der ökonomischen Wirklichkeit“.
Ein Essay ist dem Kommunistischen Manifest gewidmet, das nicht zuletzt vor dem Hintergrund der seit Jahrzehnten zu beobachtenden Globalisierungsprozesse des Kapitalismus erneut zu lesen, Hobsbawms Ausführungen nahelegen. Erst jetzt zeigt sich nämlich die ganze Genialität der entsprechenden Prognose von Marx und Engels für die Entwicklung des Kapitals – und das obwohl das Manifest „ein – relativ unreifes – Stadium in der Entwicklung des Marxschen Denkens darstellt“. Und obwohl manche seiner Kerngedanken heute keinen Bestand mehr haben. So „liegt mittlerweile auf der Hand, dass die Bourgeoisie im Proletariat nicht ‚vor allem ihren eigenen Totengräber‘ produziert hat. ‚Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats‘ haben sich nicht als ‚gleich unvermeidlich‘ erwiesen.“ Zugleich schätzt Hobsbawm ein: „Marx’ Vorstellung von einem Proletariat, das seinem Wesen nach bestimmt sei, die Menschheit zu befreien und durch seinen Sturz des Kapitalismus die Klassengesellschaft zu beenden, bringt eine Hoffnung zum Ausdruck, die er in seine Analyse des Kapitalismus hineingelesen hat, ist jedoch kein Schluss, den diese Analyse zwingend nahelegt.“ Und perspektivisch: „ Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass eine […] ‚postkapitalistische Gesellschaft‘ den traditionellen Modellen eines Sozialismus oder gar den ‚real existierenden‘ Sozialismen der Sowjet-Ära entsprechen wird. Welche Formen sie annehmen und wieweit sie die humanistischen Wertvorstellungen des von Marx und Engels vertretenen Kommunismus verkörpern könnte, wäre abhängig von der politischen Aktion, die diesen Wandel herbeiführen würde.“
Zwei weitere Essays befassen sich mit Antonio Gramsci – „in meinen Augen der originellste Denker, den der Westen seit 1917 hervorgebracht hat“ – und der Gramsci-Rezeption. Nach Hobsbawm besteht Gramscis „Hauptbeitrag zum Marxismus darin […], als einer der ersten eine marxistische Theorie der Politik vorgelegt zu haben“. Die Politik sei für Gramsci „nicht nur der Kern der Strategie, mit der der Sozialismus siegt, sondern Kern des Sozialismus selbst“. Und weiter: „Die Basis des Sozialismus ist für Gramsci nicht die Sozialisierung im ökonomischen Sinne, das heißt gesellschaftliches Eigentum und Planwirtschaft, sondern Sozialisierung im politischen und soziologischen Sinne, also das, was man als Prozess der Verhaltensformung beim kollektiven Menschen bezeichnet hat, wodurch soziales Verhalten automatisiert wird und man keinen äußeren Apparat zur Durchsetzung von Normen mehr benötigt. […] Der entscheidende Punkt dabei war, dass sich die Produktion im Sozialismus aus diesem Grund nicht so einfach als […] technisches und ökonomisches Problem behandeln ließ; es musste gleichzeitig – und von Gramscis Standpunkt aus in erster Linie – als Problem politischer Bildung und politischer Struktur betrachtet werden.“
Auf der Grundlage Gramscischer Gedankengänge kommt Hobsbawm, unter anderem mit Blick auf die Nelken-Revolution in Portugal – für ihn ein Beispiel, „dass auch Revolutionen im Sande verlaufen können“ – zu dem Fazit: „Strategisch betrachtet, besteht das Grundproblem […] nicht darin, wie Revolutionäre an die Macht kommen (auch wenn diese Frage natürlich von einiger Bedeutung ist). Es geht vielmehr darum, wie sie Akzeptanz finden, nicht nur als die politisch aktuellen oder unvermeidlichen Herrscher, sondern als Lenker und Führer.“ Logischerweise finden sich bei Gramsci, der 1937 starb, keine auf heutige Verhältnisse anwendbare Antworten auf diese Frage. Ob allerdings unsere miesen Verwalter diese Frage als solche überhaupt erkannt, geschweige denn sich ernsthaft gestellt haben, das darf wohl bezweifelt werden.
Im Ausklang des Sammelbandes hält Hobsbawm, dem historischer Pessimismus zeitlebens fremd war, mit Blick auf die Zeit seit 2008, als der Kapitalismus „in die schwerste Krise […] seit dem Katastrophenzeitalter geriet“, fest: „Und doch hat sich etwas zum Besseren hin verändert: Wir haben wieder gemerkt, dass der Kapitalismus nicht die Antwort, sondern die Frage ist. […] Zwar ist ein alternatives System nicht wirklich in Sicht, aber die Möglichkeit einer Auflösung oder sogar eines Zusammenbruchs des bestehenden Systems ist nicht mehr auszuschließen. […] Es ist wieder einmal an der Zeit, Marx ernst zu nehmen.“

P.S.: Hobsbawm, der in den realsozialistischen Staaten praktisch komplett ignoriert worden war, weil er nicht ins Schema der dort gängigen pseudomarxistischen Scholastik passte, sind schon zu Lebzeiten Kränze geflochten worden – auch von Zeitgenossen, die auf völlig anderen philosophischen und politischen Fundamenten ruhten als er. Für ihn selbst gilt, was er an Würdigendem ans Ende seines Gramsci-Essays gestellt hat, für sich selbst aber nie in Anspruch genommen hätte: Auch er ist „ein bedeutender marxistischer Denker, der […] es deshalb […] besonders verdient hat, dass wir ihn lesen, beachten und in uns weiterwirken lassen“.

Eric Hobsbawm: Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus, Carl Hanser Verlag, München 2012, 448 Seiten, 27,90 Euro.