17. Jahrgang | Nummer 9 | 28. April 2014

Wie sich die Bilder gleichen…

von Herbert Bertsch

Eigentlich ist die Überschrift eine Verkürzung des Originaltextes*, der meint: Die (besungenen) Damen gleichen sich an Schönheit, sind aber ansonsten höchst verschieden. Daraus erwächst Zwiespalt: Sich für eine entscheiden, für beide oder Äquidistanz wahren?
Geht Äquidistanz auch in der Politik? Nach Musik bemühen wir dazu die Dichtkunst:

„Partei! Partei! Wer sollte sie nicht nehmen,
die noch die Mutter aller Siege war?
Wie mag ein Dichter solches Wort verfemen,
ein Wort, das alles Herrliche gebar?
Nur offen wie ein Mann: für oder wider?
Und die Parole: Sklave oder frei?
Selbst Götter stiegen vom Olympe nieder,
und kämpften auf der Zinne der Partei!“

So belehrte Herwegh in herzlicher Abneigung Freiligrath, der seinerseits vermeinte:

„Der Dichter steht auf einer höher’n Warte,
als auf den Zinnen der Partei.“

Cem Özdemir, als Dichter eher unbekannt, obwohl Grünen-Vorsitzender, dürfte kaum an diese Auseinandersetzung in der deutschen Dichter- und Revolutionsgeschichte gedacht haben, als er jüngst ganz selbstverständlich „Partei-Ergreifen“ – auf Alternativen also vorsätzlich verzichtet – für sich in Anspruch nahm. Das war der Welt am Schluss einer Philippika gegen das unverständige Volk mit dem dräuenden Titel „Deutsche Distanz zu den USA beunruhigt die Politik“ ein wörtliches Zitat wert: „Dass die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands künftig stärker zwischen dem Westen und Russland stehen wollen, ist sicher Realität, aber nichts, was dazu führen darf, dass wir diesem Wunsch nachgeben. […] Es gibt keine Äquidistanz zwischen den demokratischen Bündnispartnern USA und in Europa auf der einen Seite und einem autoritären Regime im Osten auf der anderen. Auch wenn wir uns über manche politischen Schritte ärgern und es in Sachen NSA-Affäre und Datenschutz einiges zu klären gibt, steht diese Kritik unter Partnern in keinem Verhältnis zur Politik Putins im Innern und seiner Annektierung der Krim“. Hier führt Parteilichkeit zugleich zum Blankoscheck für den Kapitän auf der Kommandobrücke des Flaggschiffs, dem zu folgen man sich damit verpflichtet, wohin der Kurs auch immer anliegt. Aber damit ist es nicht getan.
Özdemir legte – als Parteichef: pars pro toto? – zugleich Zeugnis für ein Demokratie-Verständnis ab, demzufolge man keinesfalls unerwünschtem Volkes-Willen, und sei er noch so breit („49 Prozent der Bürger favorisieren inzwischen eine ‚mittlere Position zwischen dem Westen und Russland‘“, hatte Die Welt vermeldet), entsprechen müsse. Für den Einzelfall Özdemir bliebe das unbenommen. Ansonsten aber definiert das Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Es definiert nicht, wohin Volkes Wille zu gehen habe. Eine bestimmte Gesellschaftsordnung beispielsweise ist keineswegs vorgegeben, auch wenn dies immer wieder so suggeriert wird.
Jakob Augstein erinnerte in Spiegel Online: „Immer lauter wird die Kritik an der unversöhnlichen Russlandpolitik der ostdeutschen (! – H.B.) Kanzlerin. Die Umfragen belegen schon seit mehreren Tagen, dass die Menschen die neue Konfrontation mit Moskau für falsch halten. Andererseits: Was zählt das Volk? ‚Die Leute sollen uns Politiker die Politik machen lassen, weil wir so viel mehr davon verstehen‘, hat Angela Merkel einmal gesagt.“
Könnte das womöglich ihrer Sozialisation geschuldet sein, die Augstein hervorhebt? Nein, der Erfahrungen in und mit der DDR braucht es nicht, wenn nach den Wurzeln solchen Denkens gegraben werden sollte. Die BRD (alt) liefert dazu eigene Geschichte(n), auch wenn die Frau Merkel oder Herrn Özdemir nicht gewärtig sein sollte(n).
Über eine davon berichtete Die Zeit vor etlichen Jahren in einem historischen Rückblick auf „Adenauers Schachspiel mit den Atomwaffen“: „Besorgt zitierte Adenauer Umfragen, denen zufolge 67 Prozent der Befragten eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr ablehnten. Im Jahr zuvor waren es erst 36 Prozent gewesen. ‚Meine Freunde! Ich muß Ihnen sagen, das war ein Schock, weil diese Fragen nicht irgendwie rational, mit irgendeiner Überlegung, sondern einfach emotional beantwortet wurden. Und gegen solche Emotionen anzugehen, das ist außerordentlich schwer.‘ Frauen neigten aus seiner Sicht besonders zur ‚Emotionalität‘, jedenfalls gab er zu Protokoll: ‚Ich fürchte, dass dieser Atomschock etwas auf die Frauen wirkt. Der Hauptteil unserer Wähler besteht aus Frauen, so dass eine solche Sache uns besonders schlimm treffen kann.“
Das sagte Adenauer in einer internen Sitzung des CDU-Bundesvorstandes am 11. Mai 1957. Hintergrund: Für September standen Bundestagswahlen an. Und kurz zuvor, im April, war der „Göttinger Appell“ von bundesdeutschen Atomwissenschaftlern in die Öffentlichkeit gelangt, in dem zu lesen war: „Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz jeder Art von Atomwaffen verzichtet.“ Und weiter hieß es in Zeit: „Gerade in bildungsbürgerlichen Kreisen war die Wirkung der Erklärung beträchtlich. ‚In einem Land, das gleichermaßen autoritäts- und wissenschaftsgläubig ist, scheint nur die Wissenschaft noch in der Lage, der Regierung Widerpart zu bieten‘, hieß es im Spiegel.“
Die erste öffentliche Reaktion von Adenauer hätte – siehe Augsteins Merkel-Zitat – so ähnlich auch von der Bundeskanzlerin sein können: „Zur Beurteilung dieser Erklärung muß man Kenntnisse haben, die diese Herren (Die Verfasser des „Göttinger Appells“ – H.B.) nicht besitzen. Denn sie sind nicht zu mir gekommen.“ Wie sich die Bilder gleichen … Adenauer seifte damals, wie Die Zeit berichtete, im Übrigen erst die Wissenschaftler mit einem verbalen Bekenntnis zur Abrüstung und der wahrheitswidrigen Versicherung, nicht nach Kernwaffen zu streben, ein, danach die Öffentlichkeit und gewann die Bundestagswahlen vom 15. September mit absoluter Mehrheit.
Zurück zu Özdemirs Nibelungenbekenntnis zu den USA. Ginge es in der aktuellen Krise tatsächlich allein um die Ukraine, dann wäre der Blankoscheck für die Führungsmacht bereits fatal genug, denn wozu die von Fall zu Fall neigt, weiß man ja nicht erst seit dem Einmarsch in den Irak.
Washington geht es aber aktuell um einiges mehr: um die Zukunft der eigenen Weltgeltung und darum, auf dem Globus gemäß eigenen Interessen ungehindert verfahren zu können. In diesem Kontext wird am Potomac die derzeitige Krise gesehen. Der frühere republikanische Präsidentschaftskandidat und immer noch sehr einflussreiche US-Senator John McCain dazu: „Die Krim-Krise ist so gefährlich, weil Putins Aggression eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Rolle Amerikas als Supermacht markiert. Das wird andere Aggressoren, von China über den Iran bis zu al-Qaida bestärken. Deshalb müssen die USA und der Westen die Ukraine jetzt unterstützen: mit direkter Militärhilfe und einer verstärkten NATO-Truppenpräsenz in Osteuropa.“
Ob dieser Ansatz, der auf eine fortgesetzte Konfrontation mit Russland hinauslaufen würde, im Interesse Deutschlands oder auch nur der unmittelbar an Russland angrenzenden NATO-Staaten liegt, darf füglich bezweifelt werden. Daher sollte Deutschland keine irreversiblen Engagements eingehen, auch nicht im europäischen Gewand.
Zurückhaltung ist nicht zuletzt auch deswegen zu empfehlen, weil zugleich damit gerechnet werden muss, dass es zwischen den USA und Russland in Bezug auf die Ukraine früher oder später eben doch zu einem modus vivendi kommt. Entgegen immer noch verbreiteter Irrtümer handelt es sich ja gerade nicht mehr um eine ideologisch begründete Auseinandersetzung, sondern um machtpolitische Konkurrenz innerhalb eines gemeinsamen kapitalistischen Weltsystems.
Und wie geht es mit der Ukraine weiter? Ob vermittels EU oder direkt: Von Deutschland werden die größten Sachleistungen für deren Stützung eingefordert werden. Den USA wird das sehr recht sein, besagt ein treffliches deutsches Sprichwort doch: „Auf eines Fremden Arsch ist gut durch Feuer reiten.“ Russland wird ebenfalls direkt für die Ukraine „liefern“; wahrscheinlich aber im Unterschied zu Deutschland mit Gewinn. Dabei wird die Krim zu einem Wohlstandsleuchtturm à la Westberlin aufgepäppelt werden, um dauerhaft in vergleichbarer Funktion als erstrebenswertes Muster für die gesamte Region zu wirken. In ein paar Jahren mag der vergleichende Betrachter dann einmal mehr resümieren: „Wie sich die Bilder gleichen…“

* – „Recondita armonia di bellezze diverse!“ („Sie gleichen sich an Schönheit, doch verschieden sind beide!“), so beginnt die Arie des Cavaradossi im ersten Akt der Oper Tosca.