von Wulf Lapins, Prishtina
Staaten kommen und gehen. Jeder Einzelfall hat seine eigene komplexe Ursachengeschichte. Ein Bedingungsfaktor, zumal bei Vielvölkerstaaten, liegt in dem in seiner Entfaltung als mögliche Sprengkraft oft nicht frühzeitig erkannten Streben nach nationaler Identität und Selbstbestimmung. Und dieser Drang korrespondiert mit der Intensität und Härte von systematischen ethnopolitischen Unterdrückungen. Der Versuch der Separation eines Staatsteils ist dann oft der Auftakt für neue Gewaltdynamiken. In der Regel liefern erst Ex-post Analysen Aufschluss darüber, seit wann die Zündschnur des Strebens nach nationaler Eigenstaatlichkeit bereits geglimmt hatte.
Die multiethnische Sowjetunion ist ein Beispiel für die friedliche Auflösung staatlicher Subjektivität. Allerdings folgten hiernach brutale Sezessionskriege in den neuen Staaten im südlichen Kaukasus. Beim multinationalen Jugoslawien entfesselte bereits der Zerfall blutige Erbfolgekriege.
Der Raum, den wir heute als Kosovo bezeichnen, war – seitdem er als Provinz Dardanien im Jahre 44 nach unserer Zeitrechnung in die Provinzialordnung Roms eingegliedert worden war, also seit gut 2.000 Jahren, – Herrschaftsbestandteil von drei Imperien. Bis um 600 hatte das Römische Reich das heutige Gebiet Kosovo inkorporiert. Darauf folgte um 865 bis 1018 eine kurze Periode proto-bulgarischer Herrschaft. Die Eliten waren jedoch damals noch nicht slawisch oder christlich-orthodox, sondern „heidnisch“-turksprachig ausgerichtet. Von 1018 bis 1204 beherrschten Byzanz und von 1389 bis 1912 die Osmanen den Siedlungsraum Kosovo. In seiner heutigen Grenzziehung besteht Kosovo aber erst seit 1945.
Serbien und Kosovo sind schicksalhaft miteinander verknotet. Ihre nationalen Geschichtsbilder konkurrieren. In beiden Historiographien ist die nationale Befreiung tief verwurzelt. Beiderseitige Pro-domo-Auslegungen von jeweils reklamierter autochthoner Siedlungsgeschichte werden beidseitig mit emotionaler Wucht zum historischen Grundbuchamt erhoben. Im Serbentum spielt die orthodoxe Religion eine vorrangige identitätsstiftende Rolle. Im albanischen Volk sind es hingegen Sprache und Verwandtschaft. Serben waren stets bemüht, Staat und Nation in Kongruenz zu bringen. Für die Albaner ist die ethnische Gemeinschaft, als Nation verstanden, dem Staat übergeordnet.
Eine klare serbische Herrschaft im heutigen Raum Kosovo währte im Mittelalter nur knapp 200 Jahre. Beginnend mit Stefan dem Erstgekrönten 1195 bis zur ersten Schlacht gegen die Osmanen auf dem Amselfeld 1389. Danach begann eine kurze Periode eines serbischen Vasallenfürstentums unter den Osmanen. Die fehlende serbische Unterstützung des ungarischen Heeres gegen die osmanische Übermacht bei der zweiten entscheidenen Schlacht auf dem Amselfeld 1448 führte zu dessen Niederlage und mündete 1455 mit der endgültigen osmanischen Eroberung auch im Zerfall des serbischen Fürstentums in Kosovo.
Ethnische Konflikte zwischen Serben und Albanern im Mittelalter sind nicht belegt. Das serbische Geschichtsbild formte sich mit ethno-nationaler Wucht auch erst im späten 19. Jahrhundert. Das war bekanntlich in ganz Europa das Zeitalter des Nationalismus mit Um- und Neudeutungen von nationaler Geschichte.
Die Kosovo-Albaner sehen sich als Nachkommen der illyrischstämmigen Dardaner, die bereits Jahrhunderte vor der slawischen partiellen Landnahme auf dem Balkan sesshaft waren.
Die lange serbisch-kosovo-albanische Geschichte ist durchzogen von wechselseitigen Unterdrückungen, Vertreibungen und Dämonisierungen. Im historischen Längsschnitt und systematischen Querschnitt sind die Kosovo-Albaner dabei häufiger und in weitaus höherem Maße als die Serben Leidtragende und nicht Verantwortliche gewesen.
Während auf dem Berliner Kongress (13. Juni – 13. Juli 1878) die europäischen Großmächte die Neuordnung von oben auf dem Balkan mit der Unabhängigkeit von Serbien, Montenegro und Rumänien sowie der faktischen Zweiteilung Bulgariens statuierten und damit eine zeitweilige Friedensordnung etablieren konnten, erwuchsen zugleich aus den nicht erreichten befriedigenden Lösungen für Kosovo, Mazedonien und Bosnien schwelende neue Konflikte. Diese und weitere waren dann – im Zuge des Zusammenbruchs des osmanischen Reichs, beim Streit um dessen Konkursmasse – Mitauslöser für die Balkankriege von 1912/13. Die Aufteilung der jeweiligen territorialen Ausbeute war das Hauptthema der Londoner Konferenz der europäischen Großmächte vom Mai 1913. (Die jüngere Entwicklung des Kosovo-Konflikts setzte mit den damaligen Entscheidungen ein.)
Das wenige Monate zuvor gegründete Albanien behielt zwar im anschließenden Londoner Vertrag seine Unabhängigkeit. Aber als nurmehr Rumpfstaat durch seine von fremden Mächten gezogenen Grenzen wurde gut die Hälfte der gesamten albanischen Ethnie außerhalb des neuen Staates belassen. Ein großer Teil davon kam nun unter serbische Herrschaft. So auch die Albaner in Kosovo, das dem serbischen Territorium zugesprochen wurde. Nach diesem Anschluss begann dort eine sprach- und demographiepolitische „Serbisierung“. Die Schaltuhr des 1999 zum Krieg eskalierten jahrzehntelangen Serbien- Kosovo-Konflikts fing damals schon langsam an zu ticken. Gleichwohl soll damit nicht einem historisch-teleologischen Prozess das Wort geredet werden, dass der kriegerische Konflikt zwangsläufig final vorprogrammiert gewesen ist. Auch wird nicht einer nachgelagerten Begründungslogik gefolgt: Alles musste so kommen, wie es passierte, weil es eingetroffen ist.
Lauter und schneller tickte die Uhr insbesondere, nachdem auf der Friedenskonferenz von Dayton 1995 (Beendigung des Krieges in Bosnien-Herzegowina) die Schaffung einer effektiven Autonomieregelung auch für Kosovo ausgeklammert worden war. Der Ruf nach staatlicher Unabhängigkeit gewann daraufhin bei der mehrheitlich albanischen Bevölkerung des Kosovo an Zuspruch und Dynamik.
Ibrahim Rugova repräsentierte mit seiner Demokratischen Liga/LDK des Kosovo die intellektuelle, weltoffene städtische Elite. 1992 ging er aus im Untergrund abgehaltenen Wahlen als „gewählter Präsident“ hervor. Seine passive und gewaltlose Widerstandsstrategie für ein neutrales und unabhängiges Kosovo hatte gegenüber Serbien unter Slobodan Milosevic allerdings keinen Erfolg. Belgrad verfolgte vielmehr konsequent eine auf Machterhalt in Kosovo gerichtete Status quo-Politik, die zwischen partiell gewährenden Duldungen und demütigenden Repressionen oszillierte.
Das Abkommen von Dayton mit seinem offensichtlichen Scheitern Rugovas führte zu einer Radikalisierung insbesondere von dörflich-ländlichen Schichten. Deren Gründung der Befreiungsarmee des Kosovo/UCK im Frühjahr 1996 zielte bewusst auch gegen die politische bisherige Deutungshoheit und damit gegen Rugova und die LDK. Soziologisch betrachtet war dies auch der Machtdrang bewaffneter Männer aus den traditionellen Dörfern versus städtische Gewalt ablehnende intellektuelle Kräfte. Der tödliche Angriff auf vier serbische Polizisten durch die UCK Ende 1997 konstituierte den Auftakt zu einem nunmehr mit militärischen Mitteln geührten Konfliktaustrag. Der entwickelte sich zum Bürgerkrieg.
Mit entscheidend dafür, dass keine befriedende Konfliktregelung erreicht wurde, war: Belgrad und alle weiteren involvierten internationalen Akteure begriffen den Konflikt eben nicht als Bürgerkrieg. Aber die UCK agierte in ihrem militärisch-taktischen und politisch-strategischen Handeln nach den klassischen Grundsätzen einer Guerilla: Ihre Aktionen ähnelten denen der PLO, der IRA und der baskischen ETA während deren militärischen Kampfzeiten. Insbesondere wie in den 1970er Jahren der „Schwarze September“ der PLO mit seinen mörderischen Attacken gegen die israelische Besatzung – aus palästinensischer Sicht legitimer gewaltsamer Widerstand –, so versuchte analog auch die UCK mit fortwährend gezielten Anschlägen serbische Sonderpolizei und Militär in Kosovo zu exzessiv-repressiven, blutigen Übergriffen gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung zu provozieren, damit der Westen beziehungsweise die NATO schließlich diese stets weiter eskalierende Spirale aus Töten, Flucht und Vertreibung mit ihrem Eingreifen stoppte. Durch Internationalisierung des Konflikts erhoffte die UCK final eine kosovo-albanische Nationalisierung des Kosovo.
Zweifelsohne hatte der serbische Präsident Milosevic bei den zahlreichen Vermittlungsbemühungen von Richard Holbrooke zur Beendigung der massiven Menschenrechtsverletzungen in Kosovo und zu einer generellen Konfliktlösungsvereinbarung auch getäuscht , gepokert, gelogen und über die Bande gespielt. Aber auch die Außenminister von Frankreich und Großbritannien, Hubert Védrine und Robin Cook, als westliche Ko-Vorsitzende der Balkan- Kontaktgruppe sowie ihr amerikanisches Pendant, der Diplomat Hill finassierten, tricksten, betrieben Geheimniskrämerei und Geheimdiplomatie auf den Konferenzen in Rambouillet (6.-23.2.1999) und anschließend im Centre Kléber (15.-19.3.1999) gegenüber dem russischen Sonderbotschafter Boris Majorskij wie auch der serbischen Verhandlungsdelegation. So stand zum Beispiel in dem Abkommensentwurf der Kontaktgruppe für Rambouillet vom 6.2.1999 nichts darüber, dass die NATO Verantwortung für die Implementierung übernehmen sollte. Vielmehr erweckte die damalige Formulierung „Teilnahme der OSZE und anderer internationaler Organisationen soweit notwendig“ den Eindruck, die OSZE würde hier federführend sein. Deswegen war auch Russland bereit teilzunehmen und Majorskij als seinen Verhandlungsführer zu entsenden. Tatsächlich hatten die westlichen Mitgliedstaaten der Kontaktgruppe jedoch bereits frühzeitig von der NATO abzusichernde militärische Implementierungsteile vorformuliert. Hierüber war in Grundzügen die albanische Delegation auch informiert, nicht jedoch die serbische und ebenfalls nicht Majorskij. Erst am 19.2.1999, zwei Tage vor dem ursprünglich datierten Ende von Rambouillet, legte die Kontaktgruppe einen entsprechenden Entwurf mit einem Kapitel 7 für die militärische Implementierung einer künftigen Autonomieordnung für Kosovo vor. Der militärische Annex B zu diesem Kapitel 7 fixierte nicht nur die NATO als Implementierungs-Akteur. Im Artikel 8 dieses Annex‘ wurde darüber hinaus für vorgesehene, durch die NATO geführte Verbände „ungehinderte Bewegungsfreiheit in der gesamten (Hervorhebung – W.L.) Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraumes sowie ihrer Territorialgewässer“ gefordert. Es musste jedem westlichen Diplomaten klar sein, dass Serbien einer derartigen Einschränkung seiner Souveränität niemals zustimmen würde. Tatsächlich lehnte die serbische Delegation ab, über die militärische Implementierung überhaupt zu verhandeln.
Wäre der am 24. März 1999 beginnende Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien-Montenegro) zu diesem Zeitpunkt jedoch überhaupt noch zu stoppen gewesen? Militärischen Operationen einer solchen Dimension ist ab einem bestimmten Entwicklungsniveau erfahrungsgemäß ein point of no return infolge Eigendynamik eigen. Sie können nicht einfach wie mit einem Kippschalter auf stand by oder gar abgeschaltet werden. Zumal es für eine weitere politische Kompromisssuche nach etlichen vorher bereits gescheiterten Anläufen in den wichtigsten NATO-Staaten keinen Zuspruch mehr zu geben schien. Hierzu ist in Erinnerung zu rufen, dass gut sechs Monate zuvor – am 13. Oktober 1998 – der NATO-Rat mit einem Vorratsbeschluss (ACTORD)den NATO-Generalsekretär autorisiert hatte, Luftangriffe anzuordnen. Auf diese Weise war für die Clinton -Administration, die nach vormaligem Zögern mittlerweile den militärischen Einsatz gegen Milosevic befürwortete, Monate später Tür und Tor zum Finassieren in Rambouillet geöffnet.
Gerhard Schröder und Joseph Fischer hatten als designierte künftige rot-grüne Regierungsspitze zudem vier Tage zuvor, am 9. Oktober 1998, bei Präsident Bill Clinton ihren Antrittsbesuch gemacht und den USA und der NATO – verschiedenen seriösen amtlichen und Zeitzeugen-Quellen zufolge – ihre grundsätzliche Unterstützung eines NATO-Einsatzes zugesichert. ACTORD werde man nach der Regierungsübernahme nicht blockieren. Allerdings werde sich Deutschland unter ihrer Führung nicht daran beteiligen.
Mit ACTORD sollte aber gerade Druck für ein Einlenken von Milosevic aufgebaut werden. Ein bloßes Verweilen der künftigen rot-grünen Regierung an der politischen Seitenlinie hätte aus Sicht von USA und NATO die Position Serbiens gestärkt und den Zusammenhalt des Bündnisses in dieser existentiellen Frage von Frieden und Krieg gefährdet. Welche Rolle der damalige kurzzeitig noch amtierende Verteidigungsminister Volker Rühe dahingehend gespielt hatte, dass das Weiße Haus Schröder und Fischer, aus Washington gerade zurück in Berlin, nunmehr auf eine klare militärische mitwirkende Haltung Deutschlands drängte, ist letztlich nicht klar verifizierbar. Gesichert ist aber ein Anruf des US- Sicherheitsberaters Sandy Berger am 12.10.1998 beim designierten Staatsminister im Auswärtigen Amt Günter Verheugen mit der ultimativen Forderung, die US- Administration erwarte von der bevorstehenden rot-grünen Regierung sofort einen positiven Entschluss. Fischer erklärte später, Schröder und er hätten „nur 15 Minuten“ Zeit gehabt, „um über die Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden“.
Der Paradigmenwechsel von bisher friedenserhaltenden Maßnahmen auf nunmehr „friedensschaffende“ Maßnahmen, vulgo Teilnahme an der Kriegsführung, war für die deutsche rot-grüne Regierung auch wegen der fehlenden Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat, wie Gerhard Schröder vor kurzem im Spiegel resümierte, „juristisch nicht unproblematisch. Aber wir haben ihn für notwendig gehalten… Mitten in Europa gab es Vertreibungen und es drohte ein Völkermord.“
Als am 10. Juni 1999 der 78-Tage-Krieg der NATO gegen Serbien endete, wurde Kosovo als staatliches Frühchen geboren. Die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrats vom selben Tag war dafür gewissermaßen der Kaiserschnitt, allerdings von niemandem in seiner Tragweite damals wirklich begriffen. Wie so oft in der Geschichte des Sicherheitsrats war der Beschluss ein Kompromiss divergierender Interessen, hauptsächlich der USA und Russlands. Moskau platzierte die Bekräftigung von Souveränität und territorialer Integrität für Jugoslawien/Serbien in der Resolution, die USA eine dauerhafte autonome Selbstverwaltung für Kosovo. Aber wie wenig beziehungsweise wie viel Staatlichkeit darf Kosovo haben? Diese Streitfrage beschäftigte von nun an Weißes Haus und Kreml, die Vereinten Nationen, die EU und natürlich Belgrad und Prishtina – als Dauerbrenner in den kommenden vierzehn Jahren.
Die faktische Kraft des Normativen erwies sich in der Kosovo-Frage als schwächer denn die normative Kraft des Faktischen. Konkret: Die fehlende rechtlich verbindliche Klärung des Kosovo-Status und damit verbunden das Nebenher und auch Durcheinander von kosovarischen Kompetenzen und internationalen Rechtssetzungen waren aus Sicht der USA und der EU höchst unbefriedigend. Nach ethnisch bedingten massiven albanischen Ausschreitungen 2004 gegen orthodoxe religiöse Einrichtungen, mit einigen serbischen Todesopfern, setzte sich – initiiert durch die USA – in der westlichen Staatengemeinschaft zunehmend die Sichtweise durch, dass Kosovo mehr staatliche Eigenverantwortung erhalten müsste, auch um damit künftig derartigen Exzessen vorbeugen zu können. Schritt für Schritt ging die nachfolgende Entwicklung dann in diese Richtung. 2006 schien es sogar möglich, die Unabhängigkeit des Kosovo durch einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrats, bei Stimmenthaltung von Russland und China, statuieren zu können. Dieses kurze Zeitfenster schloss sich jedoch schnell wieder, weil sich die bilateralen Beziehungen zwischen Moskau und Washington wegen der äußerst strittigen Problematik der geplanten künftigen US-Raketenabwehr in Europa zunehmend verschlechterten. Eine einvernehmliche Regelung der Kosovo-Frage wurde dadurch verhindert, obwohl das Eine (Kosovo) mit dem Anderen (Raketenabwehr) nichts zu tun hatte. Aber in der internationalen Politik sind solche logikfreien Verknüpfungen ja bekanntlich keine Seltenheit.
Zugleich zeichnete sich ab, dass das umfassende Konzept des früheren finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari für eine friedliche Entwicklung des Kosovo mit weitreichenden Minderheitenrechten und weitreichenden Autonomiekompetenzen für lokale Selbstverwaltungen , das er zusammen mit dem österreichischen Spitzendiplomaten Albert Rohan im Auftrag der UNO erarbeitet hatte, im Weltsicherheitsrat seitens Russland und der VR China keine Zustimmung erhalten würde. Für die USA und die Mehrheit der EU-Staaten schaltete sich damit die Kosovo-Ampel von gelb auf grün: von bislang auf einen Kompromiss hoffend und abwartend auf völkerrechtliche Anerkennung. In Absprache mit ihren westlichen Unterstützern erklärte die kosovarische Regierung daraufhin am 17. Februar 2008 die staatliche Unabhängigkeit. (Kosovo verblieb jedoch anschließend noch bis zum 12. September 2012 unter sogenannter „Überwachung“.)
Bereits am 18. Februar 2008 erfolgte die diplomatische Anerkennung seitens der Bundesregierung. Die Begründung dafür steht allerdings völkerrechtlich auf fragwürdiger Basis. Das Auswärtige Amt argumentierte nämlich, dass die in der UN-Resolution 1244 geforderte politische Lösung für den Kosovo für sich kein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen könne, nachdem mehrfach Verhandlungen mit der Suche nach solchen Lösung gescheitert waren. Denn der UN-Sicherheitsrat habe bei der Ausarbeitung von 1244 willentlich sicher nicht ausschließen wollen, dass auch eine andere Möglichkeit als nur die dargelegte (einvernehmliche) politische Lösung realisierbar sei – nämlich die einseitige Unabhängigkeit. Des Weiteren behauptete das Auswärtige Amt, das in 1244 ausdrücklich bestätigte Bekenntnis zur territorialen Integrität der damals noch existierenden Bundesrepublik Jugoslawien sei lediglich auf die durch die Resolution etablierte provisorische UN-Übergangsverwaltung für Kosovo bezogen gewesen. Deshalb seien weder die Erklärung der Unabhängigkeit durch Prishtina noch deren Anerkennung durch die Bundesrepublik und andere Staaten ein Verstoß gegen 1244. Worauf sich allerdings – entgegen der eindeutigen Textversion der Resolution – dieser unterstellte hypothetische Wille des UNO-Sicherheitsrates gründet, bleibt ein Geheimnis des Auswärtigen Amtes.
Der EU-Rat machte es sich im Übrigen noch einfacher. Er erklärte, ebenfalls am 18. Februar sowie im Hinblick auf die Unabhängigkeitsdeklaration vom Vortag – Kosovo schlichtweg zu einem „Fall sui generis“. Implizit bedeutete dies: Um die fehlende völkerrechtliche Legitimität zu kompensieren, wurde die Unabhängigkeit von Kosovo mit dem Etikett „singulär“ versehen – um ihr eine mögliche völkerrechtliche Präzedenzwirkung zu nehmen. Dies war zugleich als klare Botschaft an Russland gerichtet. Denn Moskau hatte seine Weigerung, Kosovo anzuerkennen, stets mit der Sorge um eine solche Präzedenzwirkung – mit Blick insbesondere auf Tschetschenien – begründet. Noch Anfang Februar 2008, wenige Tage vor dem Akt der kosovarischen Regierung, hatte der russische Außenminister Sergej Iwanow auf der damaligen Münchner Sicherheitskonferenz eine einseitige Unabhängigkeitserklärung ausdrücklich als Öffnung der „Büchse der Pandora“ beschworen. Bereits einige Monate später allerdings, am 26. August 2008, nach den jeweils kurzen und für Georgien verlustreichen militärischen Konflikten mit Russland um die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien, naschte Moskau dann selbst aus der nun geöffneten Büchse und anerkannte, mit Verweis auf den Präzedenzfall Kosovo, Südossetien und Abchasien als selbständige Staaten.
Für Washingtons Anerkennung des Kosovo spielten auch geostrategische Gründe eine Rolle: die Beobachtung russischer Politik auf dem Westbalkan von Kosovo aus und generell der sicherheitspolitischen Lage in Südosteuropa.
Für die EU ergab sich die Motivlage vorrangig aus der eigenen Erweiterungspolitik. Nach ihrem Selbstverständnis ist die EU das erfolgreichste friedenspolitische Projekt in Europa. Der Beschluss von Thessaloniki 2003 hatte in dieser Hinsicht generell allen Westbalkan-Staaten eine EU Perspektive eröffnet. Bei der einseitigen Anerkennung erhoffte sich Brüssel, für Belgrad sei dieser Anreiz groß genug, um die Kosovo- Kröte zu schlucken und dass alsbald Belgrad und Prishtina in Verhandlungen unter EU-Ägide ihren Widerstreit lösen würden.
Ein vertiefter Blick in die Genese der Kosovo-Frage zeigt zugleich, dass die europäischen Staaten die Staatswerdung des Kosovo nicht frühzeitig strategisch geplant hatten und dass die USA in dieser Frage erkennbar schwankten. In der Anfangsphase in Rambouillet unterstützen sie die Haltung der kosovo-albanischen Delegation in ihrer Forderung, dass drei Jahre nach Vertragsbeginn des Rambouillet-Abkommens ein völkerrechtlich bindendes Plebiszit über den finalen Status von Kosovo abgehalten werden würde. Gegen Ende in Rambouillet war US- Außenministerin Madeleine Albright hingegen nur noch bereit, den Kosovo-Albanern zuzugestehen, ihr politischer Wille werde nach drei Jahren in gebührender Weise gewürdigt. In einem Bild ausgedrückt: Während der Zitronenfalter zunächst tatsächlich Zitronen falten sollte, war er letztlich doch nur noch Schmetterling. Die USA zuckten wohl zurück, weil das Ergebnis eines solchen Referendums mit einem fast 90 Prozent Anteil von Kosovo-Albanern vorprogrammiert gewesen wäre: Ein überwältigendes Bekenntnis zur Separation.
Übrigens haben bislang keineswegs alle EU-Mitgliedsländer Kosovo völkerrechtlich anerkannt. Spanien, die Slowakei, Rumänien, Zypern und Griechenland verweigern diesen Schritt nach wie vor aus innenpolitischen Gründen, im Kontext ihrer eigenen jeweiligen Minderheitenspezifik. Das könnte sich jedoch möglicherweise in näherer Zukunft ändern. Belgrad und Prishtina sind endlich aufeinander zugegangen. Sich wie bislang hinter deren Uneinigkeit politisch wegzuducken, wird dadurch schwer, zumal auch der Druck aus Brüssel für eine Anerkennung steigen wird.
Am 19. April 2013 vereinbarten die Ministerpräsidenten von Serbien, Ivica Dacic, und von Kosovo, Hashim Thaci, nach langer und mühseliger Vermittlung der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, ein Normalisierungsabkommen. Dreh-und Angelpunkt ist der Zankapfel Nordkosovo. In diesem nahezu ausschließlich von rund 50.000 Serben in vier Gemeinden bewohnten Gebiet konnte Prishtina seine Staatsgewalt bislang nicht durchsetzen. Auch die mittlerweile von 103 Staaten anerkannte Souveränität Kosovos akzeptieren die dortigen Serben nicht, weil diese nach ihrem Verständnis gegen die Resolution 1244 verstößt. Konsequent wird Serbien von ihnen als ihr Heimatland und Nordkosovo als ein Teil davon betrachtet. Belgrad hat dort bisher Bildungs-, Gesundheits-, Rechts- und Sicherheitsstrukturen mit jährlich etwa 360 Millionen Euro finanziert und kontrolliert praktisch damit das gesamte öffentliche Leben – aus Sicht Prishtinas illegal.
Nach dem nun abgeschlossenen Vertrag muss Serbien seine ökonomische Unterstützung offen legen sowie die politische Steuerung in Nordkosovo einstellen. Dieser Umsetzungsprozess ist im Gange. So wurden Anfang Juli bereits die dortigen serbischen Polizeidienststellen geschlossen und ein Polizei-Regionalkommandeur vom kosovarischen Innenministerium ernannt. Er ist Serbe aus Nordkosovo und wurde von den serbischen Gemeinden vorgeschlagen. Weitere Vereinbarungen im Normalisierungsvertrag sind, dass die kosovarischen Sicherheitskräfte nur mit Erlaubnis der unter der Leitung der NATO stehenden multinationalen Streitmacht (KFOR) im Norden tätig werden dürfen sowie dass die Gemeinden dort einen Verband serbischer Kommunen mit weitgehenden Befugnissen zur Selbstverwaltung gründen können. Autonomie wird ihnen im Bildungs- und Gesundheitsbereich, in der Stadtplanung sowie auch hinsichtlich der Auswahl von Richtern, Staatsanwälten und eben eines eigenen Polizeichefs gewährt. Aber alle diese neuen Strukturen müssen in den kosovarischen Staat integriert werden.
Es konnte nicht überraschen, dass der Vertragskompromiss sowohl in Kosovo wie auch in Serbien auf Widerstand und Protest stößt. Die parlamentarische linksnationalistische Partei Veteventosje (Selbstbestimmung) beschuldigt die Regierung in Prishtina des Ausverkaufs kosovarischer nationaler Interessen. Unter genau diesem Vorzeichen, aber spiegelverkehrt, sprechen auch tausende Serben und insbesondere ihre Bürgermeister in Nordkosovo mit Blick auf Belgrad von Verrat. Denn nach Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte aus Kosovo südlich des Ibar Flusses 1999, wurde den Serben in Nordkosovo unablässig von allen serbischen Regierungen versichert, sie seien Teil der Heimat und sollten entsprechend die serbische Flagge politisch hochhalten. Der politische Ausgleich mit Kosovo vom 19. April kam quasi über Nacht. Ungeachtet aller zugesicherten Autonomieregelungen und aller intensiven Überzeugungsarbeit der serbischen Regierung zum Trotz wollen die Serben in Nordkosovo partout nicht Teil des Kosovo werden. Das „Mutterland“ hingegen zeigt ihnen jetzt offiziell die kalte Schulter. Denn dort finden sie nur noch Unterstützung bei Teilen der serbisch-orthodoxen Kirche und der nationalistischen Partei (DSS) des früheren Staatspräsidenten Vojislav Kostunica. Die Masse der Bevölkerung drücken freilich noch ganz andere Probleme – angesichts einer Arbeitslosigkeit von gut 25 Prozent, eines Bruttoinlandsprodukts, das immer noch unter der Marke von 1989 liegt, und einer Industrieproduktion auf dem Niveau von 1970.
Jede der beiden Sichtweisen lässt sich rechtfertigen. Und wie sehr man auch die Inkorporierung der serbische Autonomie in den kosovarischen Staat betonen mag, es ändert nichts an der Tatsache: Hinsichtlich Qualität und Ausmaß teilt die gewährte Selbstbestimmung im auf Brüsseler Druck zustande gekommene Vertrag Kosovo in ein albanisches Kernland mit recht gut integrierten serbischen Wohnbesiedlungen und den nördlichen Landesteil, in dem die weitreichenden Autonomierechte den dort kompakt siedelnden Serben dennoch nicht reichen. Es bleibt die Frage nach dem rechten Maß an Autonomie, das einerseits den nordkosovarischen Serben die Eingliederung in den Staat Kosovo erträglich macht, andererseits jedoch nicht ein potenzielles Einfallstor für Separationsphantasien öffnet.
Die verbrieften Autonomierechte könnten sich aber auch als „Pyrrhussieg“ für die Serben erweisen. Das im Süden Serbiens gelegene Presevo-Tal wird zu fast 90 Prozent von Albanern bewohnt. In Mazedonien ist der nordwestliche Landesteil Hauptsiedlungsgebiet der Albaner. Insgesamt beträgt ihr ethnischer Anteil hier gut 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bekanntlich entluden sich nach dem Kosovo-Krieg 2001 auch im Presevo-Tal sowie im Nordwesten Mazedoniens aufgestaute Konflikte wegen der albanischen Minderheitenproblematik in bürgerkriegsähnliche Verhältnisse, und die mit internationaler Hilfe gelungene Einhegung und vereinbarten Regelungen verhindern nicht das Weiterglimmen nationalistischer Glut. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass die jetzt für Nordkosovo getroffenen Autonomieregelungen in Zukunft als Präzedenzfall für Forderungen von Albanern in Serbien und Mazedonien genutzt werden könnten.
Wenn bis Ende des Jahres die verschiedenen, gemeinsam abzuarbeitenden Punkte des Normalisierungsvertrages implementiert sein werden, winken für Serbien die Benennung eines konkreten Termins für den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen und für Kosovo Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Brüssel, dass ein erster wichtiger Schritt auf dem langen Weg zum Beitritt wäre. Damit steht für beide Seiten viel auf dem Spiel.
Ein wichtiger Lackmustest für den Stand der Aussöhnung werden die Kommunalwahlen am 3. November sein. Diese würden und sollen erstmals nach der Unabhängigkeit zugleich auch in Nordkosovo durchgeführt werden. Allerdings haben dort noch einflussreiche Politiker, zumeist Anhänger von Kostunicas nationalistischen DSS, zum Wahlboykott aufgerufen. Insbesondere die sehr zahlreichen serbischen Staatsangestellten im nordkosovarischen Erziehungs- und Gesundheitssystem sowie in anderen von Belgrad betriebenen Strukturen, die seit 1999 von finanziellen Transferleistungen profitierten, ängstigen sich nun um ihre Jobs. Serbien kann und will diese Beschäftigungsverhältnisse wegen seiner eigenen zunehmenden Armut und wegen sinkender Steuereinnahmen finanziell nicht länger alimentieren. Zudem hat sich die Regierung im Normalisierungsvertrag vom 19. April auch verpflichtet, Zahlungen zu kappen. Die vereinbarte Integration von Nordkosovo in das kosovarische Staatssystem wird daher für die bisherigen finanziellen Nutznießer zu hart spürbaren Einschnitten in ihre Lebensstandards führen. Um hier in bestimmtem Maße gegenzusteuern, stellt die EU bis Ende des Jahres 15 Millionen Euro zur Verfügung. Für 2014 und 2015 sind noch einmal etwa 35 Millionen geplant.
Im Vorfeld der Gemeindewahlen wurden bereits mehrere Gewalttaten verübt. Der bisherige traurige Höhepunkt war ein Anschlag mit automatischen Waffen auf zwei Autos der Rechtsstaatlichkeitsmission der EU in Kosovo (Eulex) bei der Ortschaft Zvecan in Nordkosovo am 19. September. Ein litauischer Zollbeamter wurde hierbei tödlich getroffen. Zwei weitere Eulex-Beamte erlitten Verletzungen. Nationalistisch aufgeputschte Serben, aber auch kriminelle organisierte Gruppen wollen mit aller Macht jegliche Polizei- und Zollkontrollen an der neuen Grenze zu Serbien verhindern. Die einen aus status-politischen Gründen, die anderen, um weiterhin ungehindert Schmuggel jeglicher Art betreiben zu können.
Würden die Wahlen tatsächlich erfolgreich blockiert und hintertrieben, dann geriete die Normalisierungsstatik in eine Schieflage und ein sehr einflussreiches Ratsmitglied wie Deutschland könnte im Hinblick auf die geplante EU-Annäherung Platz im Bremserhäuschen nehmen. Bis zum 3. November wird also entscheiden, ob Belgrad gegenüber seinen Landsleuten in Nordkosovo die Überzeugungsarbeit gelingt, den Mythos von der Wiege des Serbentums auf dem Amselfeld zugunsten der blauen Europa-Flagge mit den goldenen Sternen zu tauschen.
Für weiteres, diesmal albanisch-hausgemachtes Ungemach sorgt die herumgeisternde Idee von „Großalbanien“. „Die albanische Frage ist noch nicht gelöst und stellt eine dauerhafte Quelle für Konflikte dar“, so der in Tirana lebende Philosoph und „großalbanische“ Chefideologe Koco Danaij. Sein krudes Gedankengebräu mit dem Ziel, das „Unrecht“ der Beschlüsse der Londoner Konferenz von 1913 zu revidieren, gipfelt in der Behauptung, dass regionale Stabilität erst nach der Vereinigung aller Albaner auf dem Westbalkan in einem neuen – „natürlichen“ – albanischen Staat erreicht werde.
Danaijs Vision wird nicht nur in der Diaspora und in Kosovo von der Partei Vetevendosje, sondern auch von den albanischen Minderheiten in Mazedonien (gut 25 Prozent), Montenegro (fünf Prozent), Serbien (etwa 100.000) recht lebhaft geträumt. Bis November wollen die Protagonisten dafür eine Million Unterschriften sammeln und mit einer solchen Massenpetition Druck für ihr Projekt aufbauen. Ein Déjà-vu für die internationale Gemeinschaft. Man reibt sich alarmiert – wehret den Anfängen – die Augen über den aufkommenden Panalbanismus, denn es waren doch in den 1990er Jahren anfänglich auch ethnopolitische Weckrufe von Serben und Kroaten, ähnlich wie dieser jetzt „großalbanische“, die sich Schritt für Schritt zur finalen Kriegsspirale dynamisierten.
Nun wiederholt sich Geschichte nicht, und die ehemalige Kriegsgegner Serben und Kroaten haben mittlerweile zu einem funktionierenden nachbarschaftlichen Verhältnis gefunden. Serben und Kosovaren befinden sich gerade in einem vergleichbaren Prozess.
Gleichwohl, die Idee eines „Großalbanien“ beunruhigt die Nachbarn und die EU. Der in den Parlamentswahlen im Juni mittlerweile abgewählte albanische Ministerpräsident, Sali Berisha, musste mit seinem Versprechen vom letzten November, aus Anlass des 100. Jahrestages der albanischen Staatsgründung allen Albanern – unabhängig von ihren Wohnsitzen – die albanische Staatsbürgerschaft zu verleihen, auf Druck der EU schnell zurückrudern. Einen Pass können nun allein die Albaner bekommen, die innerhalb des Schengen-Gebiets leben. Kosovo-Albaner erhalten ihn also nicht. Und ein im Juli zwischen Albanien und Kosovo geschlossener Vertrag, in dem gemeinsame militärische Ausbildung und Manöver sowie die befristete Stationierung von albanischen Militärs in Kosovo vereinbart wurden, ist auch kein weiterer Pinselstrich am „großalbanischen“ Gemälde. Kosovo verfügt noch nicht über militärische Streitkräfte, sondern bisher lediglich über etwa 2.500 Mann starke Sicherheitskräfte zum Einsatz bei Brandbekämpfung, Naturkatastrophen, für humanitären Unterstützungsaufgaben und Minenräumung. Das NATO-Mitglied Albanien hilft in Absprache mit der Allianz Kosovo beim Ausbau dieser Sicherheitskräfte zu einer eigenen Armee.
Zugegeben, mit Blick auf die desaströse sozialökonomische Lage des Kosovo können die schlechten Governance-, Korruptions- und Medien-Indexe und -Rankings von Freedom House, Transparency International sowie Reporter ohne Grenzen nicht wirklich überraschen. Im Zuge eines langjährigen und mühseligen Weges zur EU-Mitgliedschaft, der sicherlich noch mit einigen Stolperschritten gepflastert sein wird, muss das Land sich jedoch so rechtsstaatlich und gesellschaftspolitisch transformieren, dass die Kopenhagener Kriterien einhalten und voll angewendet werden. Denn anderenfalls bliebe jegliches „knocking on heavens (EU)door“ wohl unerhört.
Die EU andererseits sollte sich darauf einrichten, dass Kosovo sehr wahrscheinlich auf ganz lange Sicht EU-Nettoempfänger bleiben wird. Wer vor diesem Hintergrund jedoch dafür plädiert, Prishtina erst gar keine EU-Perspektive zu offerieren, der sollte bedenken: Die finanziellen Transferleistungen aus Brüssel werden allemal um ein Vielfaches geringer ausfallen als Kosten, die durch erneut auftretende Instabilitäten und Verwerfungen mit Auswirkungen auf dem ganzen Westbalkan entstünden. Nachsorgende Stabilitätssicherung ist teuer, wie das Menetekel des Kosovo-Krieges nachhaltig vor Augen geführt hat. Dessen Kosten betrugen nach Berichten des Wall Street Journal zwischen 68 und 75 Milliarden DM. Vorbeugende und verhütende Politik ist in aller Regel signifikant preiswerter als Nachsorge.
P.S.: Durch die geopolitische oder geoökonomische Brille mag der Westbalkan wie ein Schachbrett erscheinen, auf dem die USA und Russland im Hintergrund um Einfluss ringen, vordergründig erkennbar durch die jeweilige politische Orientierung und Positionierung von Serbien und Kosovo. Der Pipelinepoker zwischen dem russisch-europäische Joint Venture South Stream und dem von der EU und den USA favorisierte Nabucco-Projekt bietet sich hierfür als Paradebeispiel an. Seit Ende letzten Jahres wird die South-Stream-Gaspipeline gebaut. Geplant ist, dass bis zu 47 Milliarden Kubikmeter pro Jahr vom südrussischen Anapa über ein 300 Kilometer langes Teilstück durch Serbien nach Norditalien durchgeleitet werden sollen. Belgrad wird jährlich etwa 200 Millionen Euro für Transitgebühren erhalten. Der russische Gazprom-Konzern finanziert die 1,7 Milliarden Euro für den Bau über serbisches Gebiet. Kosovo wird nicht an die South-Stream-Pipeline angebunden werden. Das von der EU und den USA favorisierte Nabucco-Pipelineprojekt hingegen wurde im Juni aufgegeben.
Bedeutet diese Entwicklung eine Zunahme an politischem Gewicht Russlands in Serbien? Verschafft Russlands Exklusivität in der serbischen Gasversorgung – verbunden mit der 56,7 Prozent Mehrheitsbeteiligung von Gazprom Neft am serbischen Öl- und Gaskonzern NIS – Moskau die Option, künftig auch mit energiepolitischem Nachdruck von Belgrad dessen Beibehaltung der sicherheitspolitischen Neutralität einzufordern? Alle anderen Staaten des Westbalkans sind nämlich bereits NATO-Mitglieder oder streben die Aufnahme nachdrücklich an.
Hilfreich ist hier ein Blick auf die Realitäten: An South Stream hält Gazprom 50 Prozent der Anteile, der italienische Konzern ENI 20 Prozent, die französische EdF und die deutsche Wintershall je 15 Prozent. Aufsichtsratsvorsitzender von South Stream ist der frühere Erste Bürgermeister von Hamburg, Henning Voscherau. Und wer trotzdem potenzielle politische Hebelkräfte Russlands alarmistisch perzipieren will, der sollte vielleicht zunächst die störungsfreie deutsche beziehungsweise westeuropäische energiepolitische Kooperation mit der Sowjetunion selbst während der Hochzeiten des Kalten Krieges studieren.
Ein Gegenmodell für Serbiens anstrebte EU-Mitgliedschaft kann und will Russland weder ökonomisch noch politisch anbieten. Ziel der EU ist es, mit den Beitritten aller Staaten des Westbalkans Stabilität und Frieden in der Region zu fördern. Nur auf dieser Basis wird auch South Stream ökonomisch erfolgreich sein. Eine gesicherte serbische Energieversorgung liegt im Übrigen im zentralen Interesse sowohl der EU als auch Russlands.
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