Anmerkungen zu einer Gespenster-Debatte
von Erhard Crome
Im Sommer 2011 hat es DIE LINKE erneut geschafft, sich mehr mit sich selbst als mit ihrem politischen Auftrag zu befassen, nämlich die Interessen der Arbeiterinnen und Angestellten, der sozial Schwachen, der Rentner und Sozialhilfeempfänger, der Kinder aus der Welt der Armut, der durch die Reformen der Sozial- und Krankenversicherungen Geschröpften wirksam zu vertreten. Und dies in einer Zeit, da durch die herrschende Politik immer größere Lasten, die der anhaltenden Weltwirtschaftskrise entspringen, auf die sozial Schwachen und Steuerzahler abgewälzt werden, während sich die Krisengewinnler und Spekulanten ins Fäustchen lachen. Der Entwurf für das neue Parteiprogramm liegt vor, wurde aber, kaum dass er im Parteivorstand mit breiter Mehrheit der Mitgliedschaft vorgelegt wurde, von verschiedenen Seiten wieder zerredet.
Zu den Eigenheiten der Linken gehört, dass sich ihre Programmatik und Politik stärker über theoretische Debatten und gesellschaftspolitische Analysen herstellt, als dies bei anderen Parteien der Fall ist. Wenn man die Linke von außen in ihrer Entwicklung behindern will, muss man diese geistigen Findungs- und Selbstfindungsprozesse torpedieren, indem man die einen gegen die anderen ausspielt. In diesem Sinne ist eine Pressekampagne gegen die FDP ein Vorgang, der innerhalb des bürgerlichen Lagers ausgemacht wird. Selbst wenn die FDP verschwinden würde, gäbe es mindestens noch die Christdemokraten und die Grünen als bürgerliche Parteien in diesem Lande. Dahinter stehen die handfesten Interessen jener, denen das Land gehört. Eine Kampagne gegen die Linke dagegen, die erreichen würde, dass sie wieder verschwindet, würde eine Situation schaffen, in der diejenigen, denen außer ihren Händen, ihrem Kopf und vielleicht einer kleinen Lebensversicherung nichts gehört, wieder darauf verwiesen wären, was die anderen mit ihnen machen.
Das ist die Rolle, die der Linken historisch zukommt. Die ehemaligen ostdeutschen Genossen, die aus der SED kommen, die ehemaligen westdeutschen aus der SPD oder von den Grünen, der DKP etcetera und alle anderen, auch die ganz neu Hinzugekommenen, brauchen Zeit und Kraft für die gegenseitige Verständigung und die Formierung dieser Partei. Diese Zeit aber will das bürgerliche Lager ihnen nicht geben. Zuerst wurde die Partei mit angeblich falsch abgerechneten Reisespesen des Vorsitzenden Klaus Ernst beschäftigt, dann mit einem Sommerhaus in Tirol und seinem Porsche, anschließend mit einer an ein paar Sätze der Vorsitzenden Gesine Lötzsch angebundenen Kommunismus-Debatte, dann mit der Frage, ob denn die beiden ihre Vorsitzenden-Rolle ausfüllen könnten. Schließlich folgten eine Kampagne unter der Überschrift „Antisemitismus“ sowie solche in Sachen Stalinismus, Mauerbau, Fidel Castro und Kuba – dies Themen, die bereits in der Vergangenheit erfolgreich gegen die Partei instrumentalisiert worden waren.
Viele Mitglieder und Sympathisanten, Wählerinnen und Wähler spürten, dass es sich hier um eine Kampagne handelt, die auf die Zerstörung der Partei DIE LINKE zielt und der als ganzer begegnet werden müsste. Statt daraus politische Konsequenzen zu ziehen, fanden sich bei jedem der aufgedrängten und/oder selbst fabrizierten Streitthemen jedoch unterschiedliche Gruppierungen innerhalb der Partei, die bereit waren, über die hingehaltenen Stöckchen zu springen, nicht nur einmal, sondern immer wieder, hin und her, und beim Hüpfen vielleicht hofften, das Ganze möge bald wieder vorbeigehen. Dass Solidarität und Verteidigung des Gesamtprojekts DIE LINKE nötig waren, ging in etliche Köpfe nicht hinein. Im Gegenteil, mancher witterte Morgenluft, zusätzliche Möglichkeiten zur weiteren Austragung innerparteilicher Strömungskämpfe zu erhalten. Es könnte für die eigene Sonderposition ja vielleicht gut sein, den anderen – in der eigenen Partei – mit Hilfe der bürgerlichen Presse eins auszuwischen. Was das für die Gesamtpartei bedeutet, interessierte nicht.
* * *
Zunächst gab es eine gute Nachricht. Gesine Lötzsch hatte als Vorsitzende der Partei DIE LINKE einen Band mit Texten zur DDR-Geschichte herausgegeben, die im Laufe von über zwei Jahrzehnten in der Zeitung Neues Deutschland erschienen sind: „Alles auf den Prüfstand!“ Der Band dokumentiert das Ringen von WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen, die der PDS angehörten oder ihr nahestanden, um die Analyse, das Verständnis und die Einordnung der Geschichte der DDR und zugleich um die Geschichte der kommunistischen und sozialistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. Die Abfolge der Texte ist chronologisch geordnet, so kann niemand sagen, die einen seien die Vordenker und die anderen Nachdenker, jener sei wichtiger als diese und so weiter. Und es beginnt mit dem vielgerühmten Referat „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!“, das Michael Schumann auf dem außerordentlichen Parteitag der SED/PDS am 16. Dezember 1989 vortrug.
Der Band hat einen aktuellen Bezug: „Zukunft hat immer mit Geschichte zu tun. Eine selbstbewusst mit ihren politischen Konkurrenten um den besten gesellschaftlichen Entwicklungspfad streitende LINKE hat keinen Grund, sich ihrer widerspruchsvollen Geschichte zu entziehen.“ (Gesine Lötzsch) Und er ist gleichsam dokumentarisch, nämlich das „Woher der PDS als einer der beiden Quellparteien der LINKEN“ nachvollziehbar zu machen, auch für jene, die aus der anderen Quellpartei, der WASG, oder erst später zur LINKEN kamen. Zugleich steht er im Kontext der programmatischen Debatten der Partei.
Diesen Zusammenhang hat Oskar Lafontaine besonders hervorgehoben, als er das Buch für Neues Deutschland (13. Juli 2011) besprochen hat: Es ist ein Buch, „das zur rechten Zeit kommt. Denn mit ihrem Grundsatzprogramm will DIE LINKE den Entwurf für eine demokratische und sozialistische Gesellschaft im 21. Jahrhundert vorlegen, und das kann sie nur, wenn sie die Geschichte und vor allem die Irrtümer des Sozialismus im vergangenen Säkulum aufarbeitet.“ Damit hatte Lafontaine den von Lötzsch angebotenen politischen Zusammenhang des Buches aus der Sicht des Teils der LINKEN, der nicht aus der PDS kommt, positiv aufgenommen und betont, dass diese Debatten der PDS ein Beitrag für die neue Gesamtpartei sind. Diese Rezension war ein Schritt zum weiteren Zusammenwachsen der Partei, jedenfalls konnte der Lafontaine-Text aus der Sicht eines vorurteilsfreien Lesers sachlich und politisch nicht anders verstanden werden.
Dann aber kam die schlechte Nachricht: Einige, vor allem frühere PDS-Mitglieder meinten, Lafontaine unterstellen zu müssen, er habe den Stalinismus nicht verstanden oder wolle gar „den unwiderruflichen Bruch mit dem Stalismus“ rückgängig machen – er, der ehemalige Vorsitzende der SPD. Daran sei an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal erinnert. Aus seinen Reden und Texten als ein führender SPD-Politiker ließen sich etliche Stellen finden, die ihn als Anti-Stalinisten ausweisen, als die SED noch nicht wusste, dass sie mal PDS werden will, oder gar, dass Oskar Lafontaine ihr je angehören könnte. Der Sprecher des forums demokratischer sozialismus (fds), Benjamin-Immanuel Hoff, fühlte sich bemüßigt, jene Unterstellung noch zu bekräftigen. Anschließend waberte diese Interpretation über verschiedene linke Webseiten und verstärkte sich selbstreferentiell. Der Vorgang erklärt sich offenbar nicht aus der Sache an sich, sondern aus anderen Konstellationen heraus. Und über die sollte ernsthaft gesprochen werden. Einige der damit zusammenhängenden Punkte deutlicher zu konturieren, dazu sollen diese Anmerkungen beitragen.
Die Machtfrage
Zunächst ist ein Blick zurück, in den Herbst 1989 nötig. Die PDS war ein Ergebnis und einer der Akteure der Umbruchsprozesse im Herbst 1989 in der DDR. Die Macht der einst allgewaltigen Staatspartei SED war nach der Aufdeckung der Wahlfälschungen im Frühjahr, den sich verstärkenden Fluchtbewegungen im Sommer und Herbst und der Öffnung der Grenze in Ungarn im September, nach den Massendemonstrationen im Oktober und November und schließlich der Maueröffnung in Berlin am 9. November 1989 rasch erodiert. Zur gleichen Zeit hatte sie aber noch zwei Millionen Mitglieder; die saßen in allen staatsleitenden und Verwaltungsorganen, Betrieben, wissenschaftlichen und anderen Einrichtungen; die militärischen und Sicherheits-„Organe“ bestanden fort und es gab Millionen Waffen im Land (von der Anwesenheit der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ ganz zu schweigen). Die Gewährleistung eines friedlichen Verlaufs der im Ausgang zunächst offenen Veränderungen hing davon ab, ob alle entsprechenden Akteure in der Lage waren, sich auf friedliche, gewaltfreie und politische Verfahren zu verständigen.
Am 18. Oktober 1989 war Erich Honecker von seinem Posten als Generalsekretär der SED abgelöst und durch Egon Krenz ersetzt worden, am 18. November wurde die neue Regierung unter Hans Modrow (SED) gebildet. Ihr gehörten auch weiterhin Minister aller anderen „alten“ politischen Parteien der DDR an, darunter Lothar de Maizière (CDU) als stellvertretender Ministerpräsident. Kurz darauf wurde in einem mehrstufigen Verfahren zwischen der SED sowie den „alten“ Parteien, den Kirchen und den neugegründeten Parteien und Bürgerbewegungen vereinbart, dass ein Runder Tisch eingerichtet wird, an dem über die Zukunft des Landes gesprochen und Vorstellungen über ein neues Wahlgesetz, die Durchführung demokratischer freier Wahlen und eine Verfassungsreform entwickelt werden sollten – die CDU-Zeitung Neue Zeit meldete am 21. November, dass dies eine Initiative der Kirchen war, die SED-Zeitung Neues Deutschland am 23. November 1989, es sei eine „Anregung der SED“ gewesen. Am 28. November fand dann eine Sitzung des „Demokratischen Blocks“ statt – jener Einrichtung, in der die feste Zusammenarbeit der fünf Parteien unter „Führung der SED“ unter Hinzuziehung der „Massenorganisationen“ seit 1950 institutionalisiert war und in der zu Wahlen stets die „Gemeinsamen Listen“ der „Nationalen Front“ der DDR fixiert worden waren. Auf Antrag von Lothar de Maizière wurde dies die letzte Sitzung des Blocks. Am 1. Dezember 1989 beschloss dann auf Antrag aller zehn Fraktionen die Volkskammer, das Parlament der DDR, den in der DDR-Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED zu streichen.
Damit waren bereits vor der Konstituierung des zentralen Runden Tisches, die am 7. Dezember 1989 erfolgte, wesentliche Voraussetzungen für das Arbeiten am Runden Tisch – die früheren Blockparteien saßen dort als selbständige politische Größen und nicht als Anhängsel der SED – und für freie Wahlen geschaffen worden – alle Parteien waren gleichermaßen Konkurrenten in den kommenden Wahlkämpfen. Das bedeutete aber zugleich, dass sie sich alle wechselseitig in diesem Prozess als politische Subjekte anerkannt hatten: die SED und die „alten“ Parteien die „neuen“, und alle anderen ihrerseits die SED. Insofern ist alles spätere Gerede, man hätte die SED verbieten sollen und so weiter, ahistorisch und der damaligen Situation unangemessen. Mit der Gesamtkonstruktion von Regierung aller Parteien – ab 5. Februar 1990 waren auch Vertreter der am Runden Tisch vertretenen „neuen“ Parteien als Minister ohne Geschäftsbereich in die „Regierung der nationalen Verantwortung“ unter Hans Modrow eingetreten – und Volkskammer, die jeweils gemäß fortgeltender Verfassungs- und Rechtsordnung der DDR die für die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen erforderlichen Gesetze machte, sowie Rundem Tisch, an dem diese Änderungen jeweils politisch vereinbart wurden, war unter der Perspektive freier Wahlen in der Übergangszeit die politische und tatsächliche Stabilität in der DDR gesichert worden.
Die SED konnte ihrerseits Zuspruch in freien Wahlen nur erhalten, wenn ihr Agieren den Anforderungen der Lage gemäß war und von den Wählern entsprechend gewürdigt werden konnte, wenn sie also Teil des Umbruchsprozesses war und sich mit den Umbrüchen in der Gesellschaft ihrerseits änderte. Für einen Teil ihrer Mitglieder galt dies als Einzelpersonen oder Gruppen schon vorher, hier ging es um die Partei als Organisation, als sozialer Organismus. Dazu gehörte, dass Ministerpräsident Modrow eine Partei hinter sich brauchte, um die Regierungsfähigkeit und damit Ruhe und Frieden im Lande, Versorgung der Bevölkerung, die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft, der wissenschaftlichen Einrichtungen, des Gesundheitswesens und der Schulen und so weiter sowie die Einbindung der DDR in die internationalen Beziehungen gewährleisten zu können. Damit war unter den Bedingungen der DDR die Variante, die Partei einfach aufzulösen und als eine andere, mit anderem Namen, anderem Programm und so weiter neu zu gründen, wie es in anderen, ehemals staatssozialistischen Ländern gemacht worden war, politisch ausgeschlossen.
Die Partei allerdings musste programmatisch und organisatorisch auf die neue Situation eingestellt werden. Unter dem Druck anhaltender Massendemonstrationen, vor allem von Mitgliedern der SED, waren am 3. Dezember 1989 nicht nur Egon Krenz, sondern auch das erst am 8. November neu gewählte Politbüro und das ganze Zentralkomitee zurückgetreten. Da die Einberufung des außerordentlichen Parteitages der SED auf den 8. und 9. Dezember vorgezogen worden war, wurde die Parteitagsvorbereitung in die Verantwortung eines Arbeitsausschusses gelegt, dem unter anderem Gregor Gysi, Lothar Bisky und Wolfgang Berghofer angehörten. Dies war ein „Arbeitsausschuss zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages“, er verstand sich ausdrücklich nicht als quasi-interimistisches Zentralkomitee, sondern als Gruppe von der Basis Beauftragter.
Im Kern der Sache musste es um ein grundsätzlich anderes Partei-, Gesellschafts- und Machtverständnis gehen. „Stalinismus“ ist ein dafür gern verwendeter Begriff, der allerdings eine wesentliche Seite bewusst oder unbewusst ausblendet: die Wurzeln liegen bereits bei Marx und Lenin. Der Begriff der (bürgerlichen) Demokratie war ursprünglich negativ besetzt, die Machtfrage in den Mittelpunkt gerückt und aus dem Verständnis, dass die Abschaffung des Kapitalismus und seine Ersetzung durch eine neue Gesellschaft auf der Grundlage der proletarischen Revolution der Vollzug historischer Gesetzmäßigkeit ist, folgten Messianismus und ein Avantgarde-Verständnis: die Partei war die bewusste Vorkämpferin der „neuen Welt“, nicht nur wegen des Einsatzes ihrer Mitglieder, sondern weil sie die Trägerin dieses historischen Wissens war. So herrschte die Vorstellung, es müsste gewissermaßen nach der Eroberung der Macht im Namen und für „die Arbeiterklasse“ diese Macht gegenüber der schlichten Zahl, dem Mehrheitsprinzip bei freien Wahlen abgeschottet werden, damit die ungebildeten Massen nicht gegen die Partei und „ihre eigenen Interessen“ stimmen konnten. Die Herrschaft des jeweiligen Politbüros über die realsozialistischen Gesellschaften, Reglementierung aller Bereiche der Gesellschaft, am Ende Unterdrücklung, Ermordung politischer Gegner als „Feinde“ und Gulag waren Konsequenzen dessen. Der Bruch mit „dem Stalinismus“ meint in der Substanz den Bruch mit jener Linie des Denkens und Handelns sozialistischer und kommunistischer Parteitradition, die auf Messianismus, „führende Rolle“ und avantgardistisches Selbstverständnis baut. Mit anderen Worten: „Demokratischer Sozialismus ist nicht nur Eintreten für einen Sozialismus, der den heutigen Bedingungen entspricht und diesen Namen wirklich verdient. Er ist auch Wirken für die Demokratie. Das hat den vollständigen und endgültigen Bruch mit den alten Vorstellungen von der Macht, ihrer Errichtung, Aufrechterhaltung und Handhabung zur Voraussetzung. Gerade nach den tragischen Erfahrungen des Scheiterns der realsozialistischen Gesellschaft kann eine Entscheidung für grundsätzlich demokratisches Verhalten nicht taktischer Natur sein. Die Menschheit ist nicht gegen ihren Willen zu beglücken. Es kann in der Gesellschaft nur soviel sozialistische Elemente geben, wie es dafür demokratische Mehrheiten gibt.“ (1)
Zur Entstehung und zum historischen Ort der Schumann-Rede
Die sorgfältigste und am präzisisten mit Erklärungen und Fußnoten untersetzte Herausgabe der Rede: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!“ hat vor bereits sieben Jahren Wolfram Adolphi besorgt. Nachdem Michael Schumann durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen war, galt es, seine für die Partei und für die sozialistische Theorieentwicklung in Deutschland nach 1989 wichtigen Reden und Texte zusammenzuführen und für die weiteren Debatten zur Verfügung zu stellen. (2) In der entsprechenden Publikation enthalten ist auch ein späterer Text von Schumann, der den Entstehungsprozess jenes Referats kommentiert: „Vor fünf Jahren: ‚Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!‘ Reminiszenzen und aktuelle Überlegungen“. Aus beidem, der Kommentierung Adolphis zu dem Referat und den Reminiszenzen, ergibt sich ein ziemlich klares Bild von der Entstehungsgeschichte und dem politischen Kontext jenes Referats.
Um den außerordentlichen Parteitag der SED hatte die Mitgliedschaft wochenlang gekämpft; die Krenz‘sche Führung wollte zwar eine „Erneuerung“, aber keine Abgabe der Macht und deshalb auch diesen Parteitag ursprünglich nicht. Sie wurde dabei dann von der oben dargestellten politischen Entwicklung im Lande und innerhalb der Partei überrollt. So kam dem Parteitag für die Partei und für die Mitglieder eine zentrale Rolle zu: im Verhältnis der Partei zu den im Gange befindlichen gesellschaftlichen Umwälzungen und für das weitere Schicksal der Partei selbst. Da Egon Krenz und das Zentralkomitee am 3. Dezember das Handtuch geworfen hatten und am 8. Dezember der Parteitag eröffnet werden musste, war alles gleichzeitig und in kürzester Frist zu tun, verantwortlich war der schon erwähnte Arbeitsausschuss. Der hatte wiederum unterschiedliche Arbeitsgruppen geschaffen, die für die einzelnen Teile des Parteitages beziehungsweise die einzelnen Punkte der Tagesordnung verantwortlich waren. Der Titel des Referats, wie es dem Parteitag auf seiner zweiten Session am 16. Dezember 1989 vorgelegt wurde, lautete: „Zur Krise in der Gesellschaft und zu ihren Ursachen, zur Verantwortung der SED“. Der Titel: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!“ wurde über die Erstveröffentlichung in Neues Deutschland am 18. Dezember 1989 gesetzt. Er entstammt dem Referat selbst; der Vortragende Michael Schumann bezieht sich auf die erste Session und sagt: „Unser Parteitag hat schon am ersten Beratungstag mit Nachdruck erklärt: Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System.“
Die durch den Arbeitsausschuss eingesetzte Arbeitsgruppe wurde von Heinz Vietze geleitet, dem kurz zuvor gewählten 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung für den Bezirk Potsdam – die überkommenen Organisationsstrukturen bestanden ja Ende 1989 alle noch. Von den Mitgliedern des Arbeitsausschusses gehörten der Arbeitsgruppe außerdem an Ulrich Peck, der ebenfalls neugewählte 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, und Markus Wolf, zu jener Zeit Pensionär, der jahrelange Chef der DDR-Abwehr im Ministerium für Staatssicherheit und schon zuvor intern als Kritiker der Politik Honeckers bekannt. Zu den Eigenheiten jener Zeit gehörte es, dass jeder jene Personen hinzuzog, die ihm bekannt waren und denen er vertraute. Das Referat wurde durch eine Arbeitsgruppe erarbeitet, der der Historiker Günter Benser vom SED-Institut für Marxismus-Leninismus, die Historiker Kurt Finker und Kurt Libera aus Potsdam und Karl-Heinz Jahnke aus Rostock sowie der Philosoph Michael Schumann und die Gesellschaftswissenschaftlerin Gisela Schott aus Potsdam angehörten. Zuarbeiten leisteten Manfred Banaschak, Chefredakteur der theoretischen Zeitschrift des ZK der SED „Einheit“, Hermann Wandschneider von der SED-Parteihochschule, Rolf Hoth vom Amt für Nationale Sicherheit (vorher MfS) sowie Hans Marnette von der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Dies waren die entsprechenden Angaben in der Parteitags-Broschüre von 1990. In seinen „Reminiszenzen“ teilt Michael Schumann außerdem mit, dass er den Philosophen Erich Hahn das Referat hatte lesen und kommentieren lassen – Hahn war seit Anfang der 1970er Jahre Direktor des Instituts für marxistisch-leninistische Philosophie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und Vorsitzender des Rates für philosophische Forschungen der DDR, seit Anfang der 1980er Jahre bis zu dessen Rücktritt auch Mitglied des ZK der SED.
Aus heutiger Sicht betrachtet war das Referat Ausdruck des geistigen und politischen Zustandes der Partei und zugleich des Willens damals wichtiger und Profil bestimmender Akteure, einen Beitrag zur Bewältigung der Gesellschaftskrise der DDR und der politischen Krise der Partei zu leisten. Es hatten weder von außen kommende Kräfte noch die politischen Apparate der DDR beziehungsweise SED diese Arbeit leisten können, sondern das tat der selbstkritische, sozialistisch bleiben wollende, weiter an ein sozialistisches Ideal glaubende Teil der SED und ihrer neugewählten Funktionäre, die aus der Sicht der Mitglieder durch die vergangenen Jahre nicht politisch oder moralisch belastet waren, und andere, die bereit waren, sich an diesem Erkenntnis- und Willensbildungsprozess zu beteiligen.
Zu der Entscheidung, dass er dann mit dem Vortrag des Referats beauftragt wurde, schreibt Schumann: „Eigentlich wäre es die Aufgabe Heinz Vietzes als hauptverantwortliches Mitglied des Arbeitsausschusses gewesen, auf dem Parteitag zu referieren. Aber er spürte, dass das ‚Chruschtschow-Referat‘ (Damit spielt er auf das so genannte Geheimreferat des damaligen sowjetischen Parteiführers Nikita Chruschtschow zur Abrechnung mit Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 an. Anm. – E.C.) der SED-Geschichte in der Situation des Jahres 1989 nicht sichtbar mit Personen der Nomenklatura verbunden werden durfte, wenn man auf Wirkung und Glaubwürdigkeit bedacht war.“ So kam es zu dem Vorschlag, dass Michael Schumann, der gewählter Parteitagsdelegierter aus Potsdam und in der politischen Szenerie der DDR bis dahin ziemlich unbekannt war, dieses Referat vortragen sollte. Er machte Vorschläge zu dem bereits vorliegenden Text und nahm aktiv an den weiteren Diskussionen zur Fertigstellung teil. „Die Diskussionen, an denen ich – oft auch im kleineren Kreis – beteiligt war, wurden wesentlich von Markus Wolf geprägt. Er trat freundlich und bestimmt auf. Seine unter uns unumstrittene Autorität hielt die Debatte trotz des extremen Zeitmangels und zunehmenden äußeren politischen Drucks in sachlichen und konstruktiven Bahnen und führte sie zu maßvollen Urteilen. Ich glaube, dass ihm wie keinem anderen unter uns bewusst war, was in dieser Situation gesagt werden musste und dem Parteitag zugemutet werden konnte. Mit einem Satz: Er war der spiritus rector des Unternehmens.“ In der vergleichsweise kurzen Debatte des Parteitages fand das Referat, so wie es Schumann vorgetragen hatte, allgemeine Zustimmung und wurde angenommen.
In der Rückschau, den „Reminiszenzen“, merkt Schumann an: „Natürlich hatte das Referat auch Mängel, die einem nach Jahren besonders ins Auge fallen… Obwohl wir im Referat strukturelle, systembedingte Defizite der realsozialistischen DDR-Gesellschaft ansprachen und an verschiedenen Stellen grundsätzliche Kritik am stalinistisch geprägten Politik- und Parteiverständnis der SED übten, ist diese – entscheidende – Seite der Auseinandersetzung nicht mit der nötigen Radikalität durchgeführt worden. Damit meine ich besonders die mangelnde Analyse der historischen und sozialen Wurzeln des realsozialistischen Herrschaftssystems und staatsbürokratischen Vergesellschaftungstyps. Das hing aus meiner Sicht vor allem damit zusammen, dass die Problemstellungen und Resultate der linken und demokratischen Kritik am sowjetisch geprägten Gesellschafts- und Staatssystem, die eine lange Tradition hat, nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Freilich ist dabei immer zu bedenken, dass wir kaum Zeit hatten, uns der theoretischen und theoriegeschichtlichen Voraussetzungen unserer Arbeit zu versichern.“ Der Text ist ein Kind seiner Zeit und seiner Umstände. Zugleich steht vor den heutigen Linken, ihrer Partei und den ihr nahe stehenden Intellektuellen die Aufgabe, die Arbeit an der weiteren Analyse des Realsozialismus beziehungsweise der Eigenarten des „stalinistischen“ Herrschaftssystems weiter fortzusetzen. Würde der Text allerdings so, wie er ist, einfach in der „Schatzkammer der heiligen Schriften“ deponiert, würde man weder seinem Charakter noch den Intentionen seiner Schöpfer gerecht – zumindest nicht in dem Sinne, wie Michael Schumann sie akzentuiert hat.
Zur historischen Bedeutung für die Veränderung der Partei stellt Schumann schließlich fest: „Trotz dieser und sicher auch weiterer Mängel: In der Parteimitgliedschaft hat das Referat nachhaltig positiv gewirkt. Es wurde breit veröffentlicht und umfassend diskutiert. Es war ein Dokument des deutlichen Willens der Masse der SED-Mitglieder zur demokratischen Erneuerung, zum radikalen Bruch mit der stalinistischen Traditionslinie in der SED. Zweifellos gehörte es zu jenen Ergebnissen des Parteitages, die die Transformation der zusammenschmelzenden Staatspartei zu einer demokratischen sozialistischen Partei wesentlich beförderten.“ (3) In diesem Sinne war das Referat Ausdruck und Festschreibung des antistalinistischen „Gründungskonsenses“ der PDS. Auf der zweiten Session des Parteitages am 16./17. Dezember 1989 erfolgte denn auch die Umbenennung in SED/PDS, „Partei des Demokratischen Sozialismus“. Im Januar 1990 entfällt die „SED“ im Namen, die Partei ist dann die PDS.
Der Standort
Der neue Name ist die Konsequenz des neuen programmatischen Ansatzes. Der „unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus als System“ ist der Ausgangspunkt. Das aber bedeutet nicht, sich an der allgemeinen Verteufelung der DDR zu beteiligen. Sozialistische Politik im 21. Jahrhundert kann nicht so tun, als wäre sie völlig neu und unbefleckt zur Welt gekommen. Das Erbe muss aber stets als Ganzes angetreten werden, da kann man sich nicht einzelne Teile herauspicken. In diesem Sinne ist der „Bruch mit dem Stalinismus“ ein Kernstück und zugleich Verbindung zwischen Geschichtsverständnis und Programmatik. Sehr nachdenklich hatte Schumann auch darauf aufmerksam gemacht: „Politisch wird es darauf ankommen, wie man sich heute zu den Grund- und Gründungspositionen der PDS verhält. Haben wir im Dezember 1989 mit dem stalinistisch geprägten Gesellschafts-, Politik- und Parteiverständnis der SED radikal gebrochen und begreifen wir übereinstimmend diesen Bruch als Voraussetzung für das gemeinsame Verständnis des demokratischen Sozialismus (und seiner Antizipation durch das politische Leben der PDS im Hier und Heute)? Oder geht es lediglich darum, dass sich ein zukünftiger Sozialismus aufgrund geänderter Umstände ein Mehr an Demokratie wird leisten können? Die historische Debatte schlägt in die programmatische um und vice versa. Nicht zuletzt an unserem Geschichtsbewusstsein entscheidet sich, ob wir als politische Linke eine Zukunft haben.“ (4)
Ganz in diesem Sinne haben in den Leitantrag des Parteivorstandes zum Programm der Partei DIE LINKE an den Parteitag, der im Oktober 2011 in Erfurt stattfindet, auch entsprechende Aussagen zu den historischen Erfahrungen im Osten Deutschlands und zum Bruch mit dem Stalinismus Eingang gefunden. Aus gegebenem Anlass soll das hier ausführlich zitiert werden. Im Abschnitt „Woher wir kommen, wer wir sind“ heißt es: „Im Osten Deutschlands prägte der Sozialismusversuch die Lebensgeschichte der Menschen. Viele Ostdeutsche setzten sich nach 1945 für den Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung und für ein friedliebendes, antifaschistisches Deutschland ein. Mit der Verstaatlichung der Großindustrie, Banken und Versicherungen sowie der Bodenreform wurden Eigentumsverhältnisse geschaffen, die eine Ausrichtung der wirtschaftlichen Tätigkeit auf das Gemeinwohl und den Schutz der Beschäftigten gegen Ausbeutung sichern sollten… Zu den Erfahrungen der Menschen im Osten Deutschlands zählen die Beseitigung von Erwerbslosigkeit und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen, die weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur sowie die Umstrukturierung der Landwirtschaft in genossenschaftliche und staatliche Betriebe. Das Prinzip ‚Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen‘ war Staatsraison. Auf der anderen Seite standen Erfahrungen staatlicher Willkür und eingeschränkter Freiheiten, wie der Aufbau einess taatlichen Überwachungsapparates gegen die eigene Bevölkerung.“ Dies ist eine sachliche, kritische Darstellung der Wirklichkeiten in der DDR, die die realen Erfahrungen der Menschen im Osten Deutschlands positiv aufnimmt, das Erbe annimmt und nicht einer allgemeinen Verteufelung der DDR das Wort redet.
Dann folgt der ausdrückliche Verweis auf den außerordentlichen Parteitag der SED/PDS von 1989: „Es ist deutlich geworden: Ein Sozialismusversuch, der nicht von der großen Mehrheit des Volkes demokratisch gestaltet, sondern von einer Staats- und Parteiführung autoritär gesteuert wird, muss früher oder später scheitern. Ohne Demokratie kein Sozialismus. Deshalb formulierten die Mitglieder der SED/PDS auf einem außerordentlichen Parteitag im Herbst 1989: ‚Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System‘. Dieser Bruch mit dem Stalinismus gilt für DIE LINKE ebenso. Die Geschichte der DDR, auch die der SED, auf den Stalinismus zu verkürzen, ist jedoch unhistorisch und unwahr. Auch in der DDR gab es in unterschiedlichen Etappen eine lebendige Sozialismus-Diskussion, eine reiche kulturelle und geistige Landschaft, großartige Filme, Romane, bildende Künste, Musik und eine engagierte Vermittlung von Kunst, Kultur, Bildung in die Bevölkerung. Der Bruch mit dem Stalinismus betrifft nicht nur den Osten, sondern hat auch für den Westen hohe Bedeutung. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sind unverzichtbar.“ (5)Diese Aussagen sind eindeutig und präzise. DIE LINKE hat sich bewusst auch in die Traditionslinie gestellt, die in der SED/PDS mit dem von Michael Schumann am 16. Dezember 1989 vorgetragenen Referat begründet wurde. Jede Unterstellung, dies sei nicht der Fall, versucht die Aussagen im Programmentwurf zu verdrehen oder zu ignorieren. Zugleich heißt das: Jeder, der sich für dieses Programm im Sinne des vorliegenden Entwurfs ausspricht, stellt sich zugleich in diese Traditionslinie.
Lafontaines Rezension
In der bereits zitierten Rezension des von Gesine Lötzsch herausgegebenen Buches: „Alles auf den Prüfstand!“ betont Oskar Lafontaine, wie gesagt, den Kontext zur Programmdebatte der LINKEN. Die Aussage: „Denn mit ihrem Grundsatzprogramm will DIE LINKE den Entwurf für eine demokratische und sozialistische Gesellschaft im 21. Jahrhundert vorlegen“, lässt sich ganz gewiss nicht im Sinne eines verkappten Stalinismus interpretieren. Der Fluchtpunkt ist das Programm und damit auch die positive Übernahme des „unwiderruflichen Bruchs mit dem Stalinismus als System“. Selbst rein semantisch: das Wort „demokratisch“ kommt vor „sozialistisch“ und rangiert gleichsam auf selber Augenhöhe. Insofern lässt sich dieser Ansatz nicht so interpretieren, als würde die Möglichkeit, die „Demokratie“ im Namen des „Sozialismus“ zu suspendieren – was ja der Kern eines „Stalinismus als System“ ist –, überhaupt in Erwägung gezogen.
In diesem Sinne betont Lafontaine weiter: „Überzeugte Sozialisten müssen sich immer wieder der Frage stellen, warum im Namen einer großartigen Menschheitsidee eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist, so viele Verbrechen begangen wurden. Dabei muss sie aufzeigen, dass das Streben nach Gleichheit nicht notwendig zur Zerstörung der Freiheit führt, sondern dass Gleichheit und Freiheit einander bedingen.“ Auch wenn an dieser Stelle ein Redakteur falsch gekürzt hat („muss sie“ passt nicht zu den „überzeugten Sozialisten“ im vorhergehenden Satz), die Aussage ist eindeutig: Freiheit und Gleichheit setzen sich gegenseitig voraus und sind gleichrangig. Das ist demokratischer Sozialismus und nichts anderes.
Dann allerdings macht Lafontaine einen Schnitt und fordert: „In dieser Auseinandersetzung darf DIE LINKE den aufrechten Gang nicht verlieren.“ Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Programmatik linker Politik sich nicht zuerst aus der Kritik am untergegangenen Staatssozialismus speist, sondern aus der Kritik an den jetzigen, real existierenden kapitalistischen Verhältnissen. Die Frage nach dem Sozialismus entspringt den Widersprüchen, Problemen und Verbrechen des Kapitalismus. Der Realsozialismus war die falsche Antwort. Aber damit ist die Frage nicht erledigt. Mit anderen Worten: Der Bruch mit dem Stalinismus ist nicht der Grund für das Streben nach einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus, sondern dieser entspringt dem Kapitalismus selbst und der Kritik an ihm. Erst wenn es um die Frage nach dem Wie dieser anderen Gesellschaft geht und um den Weg dorthin, tritt der grundsätzliche, unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus als System auf die Tagesordnung, weil es kein Ziel gibt, das jedes Mittel heiligt, und gerade deshalb Freiheit und Gleichheit gleichrangig sind. Dann merkt Lafontaine an, dass die Notwendigkeit der Aufarbeitung des Stalinismus „den aus dem Westen kommenden Mitgliedern der Partei nur noch schwer zu vermitteln ist“. Das ist eher eine Tatsachenfeststellung, denn eine Wertaussage; tatsächlich ist der „unwiderrufliche Bruch“ vor über zwanzig Jahren biographisch eine Angelegenheit jener Mitglieder Partei, die bereits zuvor in der SED waren, und die neuen Mitglieder, die nach 2005 oder nach 2007 in DIE LINKE eintraten, taten dies nicht wegen jenes Bruchs, sondern weil sie die real existierende kapitalistische und zugleich demokratisch verfasste Gesellschaft hier und heute verändern wollen. Der „Bruch mit dem Stalinismus“ gehört zu den vorgefundenen Voraussetzungen dieser Partei und ihrer Politik. Und Lafontaine macht geltend, dass man die innerparteiliche Auseinandersetzung „mit der befürchteten Fehlentwicklung einer kleineren Partei im parlamentarischen Regierungssystem“ nicht mit der „Analyse der Gesellschaft des Staatssozialismus“ verwechseln dürfe.
Diejenigen, die hier einen verkappten Stalinismus bei Lafontaine unterstellen, übersehen den geltend gemachten Kontext: Die Verfassungs- und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist dem Agieren der „kleineren Partei im parlamentarischen Regierungssystem“ ausdrücklich vorausgesetzt und nicht infrage gestellt, während die stalinistische Staatspartei über Verfassung, Recht und Ordnung steht und über diese extralegal verfügt. Ja noch mehr: Wer den „unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus als System“ immer wieder als Voraussetzung jeglichen Agierens der sozialistischen Partei auch heute zur Kernfrage erklärt und gleichsam als Monstranz vor sich herzutragen bestrebt ist, geht insgeheim, vielleicht unbewusst davon aus, dass es in der Verfügung der Partei liegt, ob sie stalinistisch sein will oder nicht, dass also am Ende die Partei über die Gesellschaft verfügen kann, nicht die Gesellschaft über den politischen Platz der Partei entscheidet. Mit anderen Worten: Es ist Ausdruck fortbestehender scheinsozialistischer Omnipotenzphantastereien, dass nur die Selbstbindung der Partei an den „endgültigen Bruch“ sie vor dem Stalinismus in sich selbst hindern könne, weil sonst niemand dazu in der Lage wäre. Tatsächlich jedoch hat die Geschichte, haben die Völker in der DDR und im Osten Europas diese Entscheidung 1989 längst getroffen. Diese historische Entscheidung ist sozialistischer Politik heute vorausgesetzt. Eine entsprechende „Fehlentwicklung einer kleineren Partei“ heute würde „im parlamentarischen Regierungssystem“ von diesem geahndet und vom Wähler bestraft. Wir leben unwiderruflich in diesem Lande in einer nach-stalinistischen Zeit. Selbst eine sich weiter ausprägende und vertiefende Weltwirtschaftskrise wird in diesem Deutschland des Jahres 2011 keine stalinistische Partei nach oben spülen. Und DIE LINKE ist keine, weil sie in Programm und Satzung eine demokratisch-sozialistische Partei ist und einem jeglichen „Stalinismus“ unversöhnlich gegenübersteht.
Damit befindet sich Lafontaine klar in Übereinstimmung mit Schumann, der über den historischen Ort des „unwiderruflichen Bruchs mit dem Stalinismus als System“ ja gerade sagte, dass er der Bruchpunkt in der „Transformation der zusammenschmelzenden Staatspartei zu einer demokratischen sozialistischen Partei“ war. Für Lafontaine ist die demokratische sozialistische Partei ja gerade die Gegebenheit, die natürliche Daseinsform der linken Partei. Selbst Kungelrunden, Hinterzimmerabsprachen, parteiinterne Intrigen, Strömungskämpfe und anderes mehr, was die Schattenboxer der selbsternannten Basisdemokratie immer wieder gern gegen die real existierende Linke ins Feld führen, sind Kinderkram im Vergleich zur omnipotenten Gewalt eines Generalsekretärs oder einer Politbürokratie, den Befehl geben zu können, jemanden einfach „sofort zu ergreifen und zu erschießen“. Der gescheiterte Intrigant, der heute beleidigt die Linkspartei wieder verlässt, weil er die angestrebte Position in der Sphäre der Politik nicht erreichte, aus welchen Gründen auch immer, kehrt in sein bürgerliches Heldenleben zurück, vielleicht frustriert, aber unversehrt. Der auf Geheiß Lenins, Stalins, Maos oder Rákosis Erschossene war tot. Das macht einen Unterschied auf’s Ganze.
Lafontaine nimmt dann aus dem Schumann-Referat, wie es – unkommentiert – in dem von Lötzsch herausgegebenen Buch enthalten ist, Punkte, die er als Strukturelemente des Stalinismus als System identifiziert, und stellt dar, dass diese auch, wenngleich in anderer Form, in der heutigen kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aufzufinden sind. Damit will er offenbar die oben ausgeführte Grundproblematik bekräftigen, dass heutige linke Programmatik aus der Kapitalismuskritik und nicht aus der Stalinismusanalyse abzuleiten ist. Die Argumentationsfiguren mag man missglückt finden oder auch nicht, es ist eher eine Katechismus-Übung als ein Beitrag zur Gesellschaftsanalyse. Und ob eine positiv gemeinte Buchrezension in einer Tageszeitung der geeignete Ort ist, solch katechetische Didaktik vorzuführen, ist eine weitere Frage. Lafontaine allerdings zu unterstellen, das sei Verharmlosung des Stalinismus und seiner Verbrechen, ist absurde Demagogie.
Schließlich folgt bei Lafontaine der Satz: „Michael Schumanns Definition des ‚Stalinismus als System‘ zeigt, dass die Selbstverpflichtung einer kleineren Partei, im parlamentarischen Regierungssystem eine solche Gesellschaftsordnung nicht mehr anzustreben, eher auf Verständnislosigkeit stoßen dürfte.“ Auch dies wieder eine Tatsachenfeststellung, nicht eine Wertaussage. Die Staats- und Rechtsordnung ist der Partei vorausgesetzt, nicht umgekehrt. Ein Landtagskandidat der Linken, der meinen würde, erst müsste er auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof von Hannover öffentlich erklären, er wolle den Sozialismus auch für Niedersachsen, verpflichte sich aber, einen Gulag nicht einzurichten und keine Waffen zu verteilen, landet eher in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt als im Landtag.
Auch theoretische, Programm- und Geschichtsdebatten haben ihre Zeit und ihren Ort. Was aus den historischen Erfahrungen der SED und der PDS zu folgern war, hat Eingang in den Entwurf des Parteiprogramms für DIE LINKE gefunden. Das ist unverzichtbar, wichtig und zeitgemäß. Dies zu instrumentalisieren, für innerparteiliche Richtungskämpfe, persönliche Profilierung oder was auch immer, schadet dagegen der Partei und ihrer weiteren Entwicklung.
Die erste Staffel der Umdeutung
Am 13. Juli wurde Oskar Lafontaines Rezension in Neues Deutschland publiziert. Über zwei Wochen später, in der Wochenend-Ausgabe vom 30./31. Juli 2011, erschien dann ein halbseitiger Artikel unter der marktschreierischen Überschrift: „Das ist Geschichtsrevisionismus“. Nach Lafontaines „Stalinismus-Erläuterungen“ rege sich „Unmut in Teilen der Linkspartei“. Am Ende handelte es sich zunächst um zehn Unmutige aus Brandenburg und Sachsen-Anhalt, darunter allerdings einige bekannte Namen. Der Artikel referierte nochmals Lafontaines Text und brachte dann Auszüge aus einer Erklärung dieser zehn. In der Mitte des Arikels prangte ein altes DPA-Bild, das Lafontaine auf Faschingsart mit Napoleon-Hut auf dem Kopf zeigt. Das meint: Der zu klein geratene Napoleon von der Saar nörgelt wieder. So heißt es auch im Text des Artikels, Lafontaine fehle „hinreichendes historisches Verständnis“ und er habe wenige Tage nach Vorlage des Programmentwurfs den „Richtungskampf wieder aufgemacht“. Der Wortlaut der Erklärung stand nicht in der Zeitung, konnte aber auf der Webseite des Neuen Deutschland abgerufen werden.
Betrachten wir zunächst einmal diese Erklärung. Der Titel lautet: „Eine notwendige Erwiderung“. (6). Einleitend heißt es, Oskar Lafontaine habe mit seinem Text „unserer Partei“ eine „große Provokation… aufgebürdet“. Deshalb seien „die in Oskar Lafontaines Text vertretene Position zum Stalinismus als System wie zum Umgang der LINKEN und ihrer Quellpartei PDS damit… aus unserer Sicht mit einer demokratischen Linken nicht vereinbar.“ Es heißt: „in dieser Frage nun trennen uns Welten“, „nicht aus wahltaktischen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen“ sei „Umkehr“ geboten.
Hier sei zunächst darauf hingewiesen, welche Sprache da gewählt wurde: Es ist der hohe Ton der „Heiligen Schrift“. Wenn in der Luther-Übersetzung Jesus in seiner ersten Predigt sagt: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Matthäus 4, 17), so meint dies in einem moderneren Verständnis: „Umkehr“ im Sinne von Abkehr vom Weg der Sünde und Rückkehr auf den Pfad der Tugend, den Pfad Gottes und des wahren Glaubens. (7) Oder in einer anderen Interpretation: „Gott hat geboten, dass wir umkehren sollen. Das ist ein wichtiger Punkt im Erlösungsplan. Wenn wir einsehen, dass wir umkehren müssen, dann können wir durch die Macht des Sühnopfers Christi eine Herzenswandlung erleben, so dass wir lieber Gutes als Böses tun möchten. Dann segnet der Herr uns mit Freude, Reinheit, Selbstwertgefühl und größerem Glauben.“ (8) In einem solchen Sinne meint die Erklärung, der von Lafontaine umrissene Weg sei der der Sünde, während die Rückkehr auf den Pfad der Tugend dringend geboten sei. Dies aber sei der, den diese Erklärung meint.
Zur Begründung werden drei Punkte angeführt. Zunächst heißt es: „Erstens hat es für uns rein gar nichts mit intellektueller Redlichkeit zu tun, Strukturelemente einer geschlossenen Gesellschaft, der ‚Diktatur des Proletariats‘ samt ‚führender Rolle der marxistisch-leninistischen Partei‘ und einer planwirtschaftlich geführten Staatsökonomie, formal auf eine parlamentarische Demokratie und eine fest in die Weltökonomie integrierte Marktwirtschaft, auf eine wettbewerbsorientierte offene Gesellschaft zu übertragen.“ Dieser Satz ist in dreierlei Hinsicht fragwürdig. Zunächst fällt der Passus mit der intellektuellen Redlichkeit auf. Die Frage, ob unter einer vergleichenden, wissenschaftlich begründeten Perspektive verschiedene sozialhistorische Erscheinungen, Elemente oder Systeme miteinander verglichen werden können, ist keine Frage der intellektuellen Redlichkeit, sondern der wissenschaftlichen Methode. Die kann richtig oder falsch sein, unredlich ist sie nicht; Unredlichkeit hat mit Plagiaten, absichtlich falschen Zahlenreihen in wissenschaftlichen Arbeiten, Diebstahl geistigen Eigentums und so weiter. zu tun, nicht aber mit der Sinnhaftigkeit einer analytischen Vorgehensweise. Wenn die Schreiber des Papiers meinten, die Anwendung der Strukturelemente des Stalinismus als System auf die heutigen kapitalistischen Verhältnisse sei falsch, hätten sie das sagen müssen. Unredlichkeit unterstellt böse Absicht. Wenn die Absicht aber war, mittels dieses Vergleichs – richtig oder falsch – zu begründen, dass die sozialistische Programmatik aus der Kapitalismuskritik abgeleitet werden muss, warum sollte das für einen sozialistischen Politiker oder Theoretiker mit einer bösen Absicht verbunden sein? Oder war die Unterstellung der bösen Absicht die böse Absicht? Allerdings räumt das „Für uns“ scheinbar auch einen Rückzugsweg ein: es muss für andere, gar für die ganze Parteiöffentlichkeit oder die Allgemeinheit ja nicht so sein. Das subjektivistische „Für uns“ ist sachlichen Argumentationen nicht zugänglich, es muss sich nicht der Prüfung in der Welt der objektiven Tatsachen oder auf das Wirkliche zielenden Begründungen stellen. So bleibt die Invektive in der Welt des Meinens, ist aus dieser aber durch sachliche Argumente nicht zu vertreiben.
Wenden wir uns nun der Frage nach der Richtigkeit oder Falschheit des Vergleichs zu, der Lafontaine zum Vorwurf gemacht wird. In der Politikwissenschaft befassen sich ganze Wissenschaftszweige seit Jahrzehnten mit diesem Thema. In einem Buch zur vergleichenden Politikwissenschaft, das sich ausdrücklich als „Lehrbuch“ versteht und den wissenschaftlichen „Mainstream“ darzustellen bestrebt ist, schreibt Jürgen Hartmann: „Betrachtet man das weite, heterogene Feld komparativer Arbeiten und komparativ ansetzender Länderstudien, so lässt sich folgendes Anliegen umreißen: Es geht darum, Probleme und Strukturen selbst in exotisch anmutenden fremden Gesellschaften mit universell anwendbaren beziehungsweise für wechselnde Kontexte brauchbaren Vorstellungen, Metaphern und Definitionen zu beschreiben, die auf Phänomene der eigenen Erfahrung bezogen werden können.“ Der Gegenstandsbereich der vergleichenden Politikwissenschaft ist immer der Gesellschaftsvergleich. (9)
In einem fast klassisch zu nennenden Politikwörterbuch schrieb Dieter Nohlen im Stichwort: „Vergleichende Analyse politischer Systeme“: „Zentrales Untersuchungsobjekt… ist das Politische System als Ganzes und in seinen Teilen, die horizontal und vertikal staatlichen Einheiten und der vorpolitische gesellschaftliche Raum (Parteien, Verbände etc.). Das Untersuchungsfeld schließt – entsprechend einem systemtheoretischen Verständnis – die sozioökonomische und soziokulturelle Umwelt des politischen Systems mit ein.“ Und weiter: „Der Vergleich gewinnt insofern eine substantiellere Bedeutung für die Teildisziplin (Gemeint ist die vergleichende Politikwissenschaft als Teildisziplin der Politikwissenschaft. Anm. – E.C.), als theoretische Konzepte entwickelt wurden, auf die gestützt der interkulturelle Vergleich – synchron und diachron – möglich und fruchtbar wurde.“ (10) In diesem Sinne ist Lafontaines Vergleich ein interkultureller (realsozialistische Gesellschaften – bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft) auf einer diachronen Ebene (vor 1989 – 2011). Ungewöhnlich aus politikwissenschaftlicher Sicht ist nur, dass die analytischen Elemente, die für das Verständnis des „Stalinismus“ entwickelt wurden, auf die demokratische, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft von heute angewendet werden, und damit die frühere Perspektive der westlichen Politikwissenschaft gleichsam umgekehrt wird. Vielleicht meint ja „Umkehr“ auch, dass man diese Perspektive normativ unterbinden will. Aber weshalb sollten sich Linke an solcher Unterbindung beteiligen, nachdem die regierenden Politiker und die Mainstream-Wissenschaft uns zwanzig Jahre lang erklärt haben, es sei völlig normal, die DDR mit dem NS-Regime zu vergleichen, während gerade der interkulturelle Vergleich zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR geflissentlich ausgeblendet wurde?
Schauen wir noch auf das Stichwort: „Systemvergleich“ von Gert-Joachim Glaeßner, so finden wir: „Gegenstand des politikwissenschaftlichen Systemvergleichs ist die Analyse unterschiedlicher politischer und sozialökonomischer Ordnungen, ihrer Ziele und der Mittel der Zielrealisierung, der politischen und gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen, der formalen und informellen Entscheidungsprozesse, der Gruppen politischer Handlungsträger, der sozialen Strukturen und ihrer Auswirkungen auf die Politik sowie der politisch-gesellschaftlichen Problemlagen und ihrer politischen Bewältigung. Man kann zwei Formen des Systemvergleichs unterscheiden: a) Intersystemare Vergleiche untersuchen divergierende sozialökonomische und politische Systeme (Ost-West-Vergleich). b) Intrasystemare Vergleiche analysieren Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb eines Systemtyps.“ Hier sei ausdrücklich noch einmal festgehalten: Der intersystemare Vergleich, also der unterschiedlicher politischer Systeme, gehört seit Jahrzehnten zu den üblichen Untersuchungsgegenständen der Politikwissenschaft. In diesem Sinne hat Lafontaine nichts getan, was nicht viele andere bereits vor ihm getan haben, und viele nach ihm ebenfalls tun werden. Bei Glaeßner heißt es weiter: „Eines der zentralen Probleme jedes Systemvergleichs ist die Frage nach den Vergleichsmaßstäben. Die Konkordanzmethode fragt nach den Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Systemen… Die Differenzmethode stellt die Unterschiede der Systeme in den Mittelpunkt. Sie fragt nicht nach dem Grad der Ähnlichkeit, sondern stellt sie einander gegenüber.“ (11) In der Politikwissenschaft ist es Konsens, dass es keine allgemeingültigen Regeln dafür gibt, wo die Kriterien, Parameter und Fragestellungen des Vergleichs herkommen. Sie können normativ, aus politischen, moralischen oder ethischen Erwägungen, aus politischen Theorien oder auch aus Analyseelementen der vergleichenden Regierungs- oder Institutionenlehre abgeleitet sein; man kann auch die Funktionselemente des einen politischen Systems zum Ausgangspunkt der Betrachtung eines anderen machen. Nichts anderes hat Lafontaine getan. Und aus dem grundsätzlichen, sozusagen systemischen Unterschied zweier politischer Systeme folgt nicht, dass man nicht einzelne ihrer Funktionselemente vergleichen kann; daraus ergibt sich keine Gleichsetzung auf der systemischen Ebene. Jeder Erstsemester-Student der Politikwissenschaft lernt bereits in den Einführungsseminaren an der Universität, dass vergleichen nicht mit gleichsetzen zu verwechseln ist. Von einer „formalen Übertragung“ von Strukturelementen des einen Systems auf das andere, hier des Stalinismus auf die jetzige Gesellschaft, bei Lafontaine kann keine Rede sein. Wie historisch und vergleichend erklären nicht entschuldigen ist, ist vergleichen nicht in einen Topf werfen, im Gegenteil. Politikwissenschaftlich betrachtet gibt es gegen Oskar Lafontaines Vergleichen keinen sinnvoll begründbaren Einwand.
Bleibt zu dem als „Erstens“ zitierten Satz aus der „Erklärung“ die dritte Frage, die nach der Charakterisierung der heutigen Verhältnisse. Die Denkfigur von den „offenen“ und den „geschlossenen“ Gesellschaften nach Karl Popper und ihre Erklärungsreichweite sollen hier unbeachtet bleiben. Ich meine die Charakterisierung der heutigen Gesellschaft als „eine parlamentarische Demokratie und eine fest in die Weltökonomie integrierte Marktwirtschaft, …eine wettbewerbsorientierte offene Gesellschaft“. Sehen wir uns zunächst an, welche Charakteristik im Entwurf des Parteiprogramms der LINKEN vorgenommen wird: „Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte, sondern eine Etappe der Menschheitsentwicklung, in der sich zwar viele Hoffnungen der Aufklärung erfüllten und eine enorme Steigerung der menschlichen Produktivkräfte stattfand, die aber auch massenhafte Verelendung, Völkermord und unvorstellbare Kriege über die Menschheit brachte. Heute, da der Kapitalismus zu einem globalen System geworden ist, treibt sein Raubbau an Mensch und Natur in eine globale, die menschliche Zivilisation bedrohende Krise. Wir sind davon überzeugt, dass den vielfachen Krisenszenarien nur durch eine Überwindung des kapitalistischen Ausbeutungssystems, eine Veränderung der Produktions- und Lebensweise und eine Veränderung des Verhältnisses von Mensch und Natur entgegengewirkt werden kann. Der Kapitalismus kann überwunden werden, wenn es gelingt, Mehrheiten zu gewinnen für einen Aufbruch zu einer anderen Art zu arbeiten und zu leben.“ (12) Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass die in der Erklärung enthaltene Schönschreibung der gegenwärtigen Verhältnisse nicht auf dem Boden jener Kapitalismusanalyse steht, die im Entwurf des Parteiprogramms vorgenommen wird.
Nun ist eine Interpretation der Gesellschaft von 1990 als in Sachen liberaler Freiheitsrechte fortschrittlicher zu sein, als es die realsozialistischen Verhältnisse bis 1989 waren, unter einer geschichtsphilosophischen Perspektive durchaus möglich (eine entsprechende Passage findet sich auch in meinem Text von 1990 [13]), nur ist der Sachstand in Sachen Freiheitsrechte in der Bundesrepublik 2011 nicht mehr der von 1990 – Stichwort Asylrecht, Stichwort Sicherheitsgesetze nach dem 11. September 2001 – und vor allem darf diese geschichtsphilosophische Position nicht gegen die Klarheit der Kapitalismusanalyse ausgespielt werden. Genau dies aber tun die Autoren jener Erklärung. So heißt es in dem nächsten Satz, der auf den eben zitierten folgt: „Der Zweck erscheint uns durchsichtig: Die heutige Realität wird durch die Gleichsetzung mit dem Vergangenen diskreditiert, wer im Heute – verglichen mit dem Vergangenen – historischen Fortschritt erkennt, soll ideologisch abgekanzelt werden.“ Hier wird zunächst wieder Lafontaine subjektivistisch etwas in die Schuhe geschoben, was recht eigentlich eine tatsächliche und programmatisch relevante Differenz zum Parteiprogramm-Entwurf ist, die in den real existierenden Verhältnissen begründet liegt. Die muss auch ausgesprochen werden. Die Aussage von dem größeren Fortschritt heute ist durch den Inhalt des Schumann-Referats 1989 nicht gedeckt. Sie wurde bereits seit Anfang der 1990er Jahre immer mal wieder in die parteipolitische und programmatische Debatte gebracht, sie war aber auch in der PDS nicht mehrheitsfähig. Es blieb stets eine Minderheitenposition, die sich allerdings immer als besonders „reformerisch“ verstand. Insofern bleibt jetzt der Eindruck, dass die ganze Lafontaine-Beschimpfung nur dem Zweck dient, diese These wieder in Umlauf und sozusagen gleichrangig mit der Kapitalismus-Kritik wieder auf den Tisch zu bringen, nachdem sie in den Programmentwurf nicht Eingang gefunden hat.
Der zweite Punkt der Erklärung gegen Lafontaines Text lässt genau diesen Zweck deutlich hervortreten: „Zweitens ist für uns unübersehbar, dass mit diesem Text wenige Tage nach Vorlage des Programmentwurfs an einer zentralen Stelle der Richtungskampf wieder aufgemacht wurde. Wir lesen erneut eine harte Polemik gegen die so genannten Reformer und vor allem gegen die Grundsubstanz dessen, was die PDS unter ihrer Führung aus der DDR und dem Scheitern des Realsozialismus gelernt hatte.“ Auch hier wieder die Schreibtaktik des „Für uns“, so dass sachliche Argumentationen gegen die gemeinte Einschätzung eigentlich von vornherein ausgeschlossen sind. Interessant zunächst der Hinweis, dass es in der PDS erstens eine „Führung“ gab – und folglich auch Geführte – und dass zweitens dies eine der „so genannten Reformer“ war. Wahrscheinlich ist das ja das eigentliche Problem der Initiatoren dieser Erklärung, dass in der neuen, größeren LINKEN eine solche „Führung“ nicht mehr besteht, weil: die Verhältnisse, die sind nicht so. Dafür aber ist nicht Lafontaine verantwortlich, im Gegenteil. Das von den „sogenannten Reformern“ geführte Parteiprojekt PDS begann sich 2002 seinem Ende zuzuneigen. Wer das damals bewusst verfolgt hatte, erinnert sich an das Haupt-Wahlplakat zur Bundestagswahl 2002, als die vier damals verantwortlichen Politikerinnen und Politiker in vier verschiedene Richtungen aus dem Plakat herausschauten: Schon die Symbolik machte deutlich, dass sie sich untereinander nichts zu sagen hatten, geschweige denn dem Wähler. Am Ende zog die PDS nicht wieder als Fraktion in den Deutschen Bundestag ein. Nur Petra Pau und Gesine Lötzsch hatten ihr Direktmandat errungen, und Herr Thierse (SPD), der damalige Bundestagspräsident, ließ sie auf Strafstühlen am Rande des Plenums sitzen – das mit den Linken sollte in diesem Lande sichtbar ein Ende haben. Mit der Gründung der WASG im Westen und dann vor allem dem Hinzutreten Oskar Lafontaines und der Reaktivierung Gregor Gysis gab es eine neue Linke in Deutschland, die auch für die PDS ein zweites Leben bedeutete. Soll „der Mohr“ Lafontaine nun seine Schuldigkeit getan haben und gefälligst im Saarland verschwinden? Wer über eine neue „Führung“ durch die „sogenannten Reformer“ nachdenkt, provoziert die Wiederherstellung der Situation von 2002, das heißt die Wiederholung des Scheiterns, was die Schwächung der Partei DIE LINKE einschließt und voraussetzt.
Psychologisch gesehen birgt der Satz zugleich zwei bezeichnende Eingeständnisse. Die Rezension Lafontaines enthält gar keine Polemik gegen die „sogenannten Reformer“, sondern eine Argumentation in der Sache – Strukturelemente des Stalinismus als System und die heutigen Verhältnisse, wie oben erörtert – und eine Aufforderung für ein besseres gegenseitiges Verständnis der Parteimitglieder Ost und West, zu dem Gesine Lötzsch‘ Buch beitragen möge. Wenn das als „harte Polemik gegen die so genannten Reformer verstanden wird“, spricht das nicht gegen Lafontaine, sondern gegen jene, die das so verstehen (wollen). Was haben sie gegen das bessere gegenseitige Verständnis? Oder geht es doch um die Wiederherstellung des Führungsanspruchs? Hinzu kommt: Wenn es nicht Lafontaine war, der mit seinem Text „an einer zentralen Stelle den Richtungskampf wieder aufgemacht“ hat, dann waren es die Initiatoren dieser Erklärung mit ihrem Text. Das heißt, es geht ihnen gar nicht um den „Stalinismus als System“ selbst, sondern um eine Instrumentalisierung des Themas und der Rede von 1989 in den jetzigen Richtungskämpfen. Es sind also die „so genannten Reformer“, die den Kompromiss des Parteiprogramm-Entwurfs wieder zu öffnen bestrebt waren oder sind, um bestimmte Themen, die eigentlich erledigt schienen, wieder neu in die Debatte einzuführen, darunter das von der angeblichen Fortschrittlichkeit des jetzigen Kapitalismus.
Der Rest der Erklärung ist Moralisieren und Beschwören von Heilslegenden. So heißt es weiter unter Punkt Zwei, das unter der Führung der sogenannten Reformer aus der DDR und dem Scheitern des Realsozialismus Gelernte werde nun „als überflüssig unter den heutigen Bedingungen und bestenfalls zeitweilig von Belang dargestellt. Damit wird für uns nicht nur die Leistung all derer diskreditiert, die den sehr schmerzhaften Weg gegangen sind, die Geschichte unserer Partei anzunehmen, die historische Fehlentwicklung konsequent zu überwinden. Nein, wir finden das ist Geschichtsrevisionismus.“ Der Satz ist im Kern historisch falsch und der Rest ist schwammig. Zunächst das Falsche. Die „historische Fehlentwicklung konsequent“ überwunden haben die Menschen in der DDR, die gegen die SED-Führung demonstriert haben und dann die Mauer von Osten aus aufdrückten. Daran waren „einfache“ Mitglieder der SED beteiligt, aber nicht die Partei war die Vorkämpferin. Der Parteitag im Saal hat sich lediglich gemüht, daraus politische Konsequenzen zu ziehen, und das hat er angesichts der Umstände damals ziemlich auf der Höhe der Zeit getan. Die konsequente Überwindung der Verhältnisse aber der SED/PDS zuzuschreiben, ist eine Wiederholung der Legendenbildung, an der sich im Oktober/November 1989 bereits Egon Krenz versucht hatte. Nun das Unklare. Was ist denn der „sehr schmerzhafte Weg“, der da gegangen wurde? Die Verhältnisse in der DDR, der Untergang der DDR oder das „Annehmen“ der Geschichte? Ersteres hat mit den Verhältnissen und ihren Folgen zu tun, beim letzten geht es um einen psychologischen Vorgang, sozusagen posttraumatische Wiederauferstehung. Der „schmerzhafte Weg“ klingt irgendwie nach Golgatha und Aufopferung. Wir bewegen uns hier aber nicht im Heilsgeschehen, sondern in der Sphäre der Politik. Und da die Sachaussagen verquast und unklar sind, ist auch die Sprache unangemessen, und die Pointe, Lafontaines inkrimierter Text sei „Geschichtsrevisionismus“, ist nicht begründet, jedenfalls nicht mit den Textteilen in dieser Erklärung.
Der dritte Punkt der Erklärung ist dann nur noch subjektivierend. All das, was Lafontaine geschrieben habe, sei „unter Missbrauch von Namen, Autorität und Lebensleistung von Michael Schumann“ geschehen. Zunächst hat sich Lafontaine in seinem Text zur Lebensleistung Schumanns nicht geäußert. Er hat die Rede über den „unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus als System“ zitiert. Mit Zitaten zu argumentieren, heißt sich auf einen Autor zu beziehen und einen konkreten Text. Das hat zunächst mit der Lebensleistung des Autors nichts zu tun, sondern lediglich mit der Qualität des Textes beziehungsweise des Zitats. Insofern ist eine Lebensleistung logisch und dem Sinne nach nicht gegen eine Zitation in Stellung zu bringen. Und beim Zitieren den Namen des Autors zu benutzen, ist wissenschaftliche Redlichkeit, alles andere ist Plagiat. Daher kann ein solches Sich-auf-einen-Autor-Beziehen schwerlich Missbrauch sein. Die Unterzeichner der Erklärung aber „empfinden“ Lafontaines Bezug auf Schumann „schlichtweg als infam“. Das meint, Lafontaine sei infam. Muss man jetzt und künftig jemanden fragen, wenn man sich auf jenes Referat von 1989 beziehen will? Wer ist der Gralshüter und entscheidet darüber, wie jemand dieses Referat zitieren darf?
Schließlich tritt uns jenes Referat auch noch als handelndes Subjekt entgegen: „es hatte für eine ganze Partei das Tor zur demokratischen Erneuerung des Sozialismus aufgestoßen“. Dieser Satz ist insofern interessant, als er darauf abhebt, dass es mit dem Referat von 1989 um die „demokratische Erneuerung des Sozialismus“ gegangen war – dem Sinn und der Satzlogik nach den der DDR. Damit bestätigen in diesem dritten Punkt die Erklärer die Aussage in der Rezension Lafontaines, dass es mit dem Schumann-Referat „um die Fehlentwicklung der gesamten Gesellschaft im Staatssozialismus, nicht um die innere Struktur einer Partei“ gegangen sei, was ihm seine Kritiker ja gerade vehement vorgeworfen haben. Allerdings wurde es ja bekanntlich nichts mit der demokratischen Erneuerung des Sozialismus in der DDR, sondern es kamen die deutsche Vereinigung und der real existierende Kapitalismus des vereinten Deutschlands. Aber immerhin die Erneuerung der Theorie vom Sozialismus, die demokratisch sein muss. Das aber ist kein Privileg der Erklärungsschreiber oder der „so genannten Reformer“, sondern dazu gehören nun auch Oskar Lafontaine und alle Mitglieder und Sympathisanten der LINKEN, die auf dem Boden der derzeitigen Programmatik und der Satzung der LINKEN stehen. Es sollten nicht Spaltungen erfunden werden, wo keine sind.
Die Fortsetzung
Benjamin-Immanuel Hoff, Bundessprecher des Forums Demokratischer Sozialismus (FDS) und Staatssekretär in der Berliner Landesregierung, gab dann seinerseits eine Erklärung zu der Erklärung ab (datiert auf den 1. August 2011, www.forum-ds.de). Er spricht in Bezug auf die oben besprochene Erklärung die ganze Zeit von „Thomas Falkner und anderen“, was offensichtlich meint, dass aus der Sicht des FDS Falkner der eigentliche Autor ist. Da aber eine Falkner-Erklärung nicht durch die Presse gegangen wäre, brauchte es einige bekannte Namen und außerdem eine Mindestanzahl von Unterschriften, es waren die erwähnten zehn, um von „Unmut in Teilen der Linkspartei“ sprechen zu können. Hoff interpretiert auf neun Seiten die anderthalbseitige Erklärung. (Alles, was sich inhaltlich von der Erklärung nicht unterscheidet oder die Argumentationsfiguren nicht erweitert, soll hier unbeachtet bleiben.)
Hoff teilt „die Kritik von Falkner u.a. vollinhaltlich“, seine Einwendungen seien „vollkommen berechtigt“, Lafontaine werde „zu Recht des Geschichtsrevisionismus geziehen“. Es müssten aber einige Facetten hinzugefügt werden. So handele es sich um einen erneuten Versuch Lafontaines, „die Erkenntnisse der vormaligen PDS und der sie tragenden politischen Formation – der Reformer/-innen, heute insbesondere im forum demokratischer sozialismus (fds) beheimatet – infrage zu stellen, kurz Geschichts- und Positionsrevisionismus zu betreiben“. Das ist sehr offen gesprochen. Die Erkenntnisse der vormaligen PDS sind mit denen der „sie tragenden Formation“ in eins gesetzt, das heißt bewahrenswert sind nur die Positionen der „Reformer“, die bei Hoff nicht einmal „so genannte“ und ohne Anführungsstriche geschrieben sind, wie bei Falkner, sondern eben „die Reformer“ (die weibliche Form ist hier stets mitgemeint). Alles andere, was es in der PDS gab, etwa die „Kommunistische Plattform“ oder das „Marxistische Forum“, werden von vornherein nicht mitgedacht und als Teil des Gesamterbes ausgeschlossen. Erbe der PDS ist nur, was die Reformer darunter verstehen. Sie haben einen Alleinvertretungsanspruch in Bezug auf das Erbe der PDS. Dies aber ist der wirkliche Geschichtsrevisionismus. Auch wenn die „reformerischen“ Positionen programmatisch oft ein Übergewicht hatten, bestimmten sie doch nicht durchweg die PDS. Es sei nur an die Friedensfrage und den Parteitag von Münster im Jahre 2000 erinnert. Zugleich wäre die Frage zu stellen, ob nicht mit „tragender Formation“ dieser Alleinvertretungsanspruch bei Hoff noch schärfer formuliert ist, als mit „Führung“ bei Falkner.
Und das fds versteht sich als Erbe dieses Reformertums, das heißt wenn – wie oben erörtert – die Wiederherstellung der „Führung“ innerhalb der Partei durch die „so genannten Reformer“ der Kern der Anwürfe gegen Lafontaine ist, so versteht Hoff das FDS als die Verkörperung dessen in der LINKEN heute. Das heißt mit dem FDS existiert – nach Hoff – eine Formation innerhalb der LINKEN, deren Selbstverständnis es ist, in der Partei eine Führungsrolle haben zu sollen oder zu wollen. Und der Kern des Geschichtsrevisionismus ist Positionsrevisionismus. Wenn wir wiederum, wie oben bei der Falkner-Erklärung herausgearbeitet, feststellen, dass zwar Lafontaine die Brechung des Konsenses unterstellt wird, diese aber in der Sache mit der Erklärung und den dahinter stehenden Positionierungen erfolgt ist, so muss hier klar gesagt werden: das fds hat die Debatte um Geschichtsrevision angezettelt, um eine Revision von inhaltlichen Positionen herbeizuführen. Bei Hoff werden dann auch in der Tat etliche aufgezählt: „Kritik überzogener Verstaatlichungsperspektiven“, „staatliche Planungseuphorie“, „keine Klarheit, welches Staats- und Gesellschaftsverständnis die LINKE hat“.
Der angebliche Stalinismus wanderte dann durch weitere Bekundungen in Zeitungen und die Welt des Internets. Einmal heißt es, Politiker der LINKEN würden sich „ohne jede geistige Mühe, unter hedonistischem Verzicht auf wissenschaftliche Arbeit sich zu komplizierten philosophischen und historischen Problemen zu äußern wagen“. Auch hier wird Lafontaines Text zum Buch, herausgegeben von Lötzsch, als Beitrag zur Stalinismus-Analyse angegangen. In all diesen Debatten haben sich viele vor den Karren des Lafontaine-Prügelns spannen lassen. Wahrscheinlich haben sie nicht einmal gemerkt, dass sie dabei vor einen machtpolitischen Karren gespannt wurden, den andere lenkten. Der oben erwähnte Mathis Oberhof schreibt auf seiner Webseite von „Lafontaines Stalinismus-Verharmlosung“, die ein „Tiefpunkt der De-Moralisierung der LINKEN“ sei, und teilt am Ende mit, er sei nun aus der LINKEN ausgetreten.
* * *
Sich in einer Partei zu engagieren, muss jede oder jeder stets selbst entscheiden. Es gibt aber nur die real existierende LINKE, die wir jetzt haben, oder es wird keine parteipolitisch organisierte Linke in Deutschland geben. Das wollen die anderen Parteien, und den Herrschenden und Regierenden im Lande würde das gut in den Kram passen. Am Ende aber wird es auch keine parteipolitische Strömung geben, die gestärkt aus einer Schwächung oder Spaltung der Partei hervorgehen könnte. Entweder alle Strömungen und Richtungen kommen miteinander aus und arbeiten gemeinsam an der Partei DIE LINKE und ihrer Zukunft, oder die Partei wird zerrissen. Wer strömungspolitisch einen Führungsanspruch innerhalb der Gesamtpartei stellt, stellt sie in Frage und wird sie schwächen. Das auf Oskar Lafontaine Einschlagen hat etlichen bürgerlichen Medien willkommenes Material geliefert. Aus der Sicht der Partei war diese Stalinismus-Debatte die falsche Debatte zum falschen Zeitpunkt zum falschen Gegenstand und gegen die falsche Person. Am Ende aber zielte sie vielleicht auch gegen die Vorsitzende Gesine Lötzsch. Sie hatte schließlich das Buch herausgegeben, das die Rezension zur Folge hatte, an der die Anwürfe fest gemacht wurden.
Anmerkungen:
(1) – Erhard Crome: Radikaler Bruch mit den alten Vorstellungen von der Macht (Neues Deutschland, 1. September 1990), in: Gesine Lötzsch (Hrsg.): Alles auf den Prüfstand!, Verlag Neues Deutschland, Berlin 2011, S. 32
(2) – Wolfram Adolphi (Hrsg.): Michael Schumann. Hoffnung PDS. Reden, Aufsätze, Entwürfe 1989-2000. Mit einem Geleitwort von Lothar Bisky, Rosa-Luxemburg-Stiftung: Texte Bd. 12, Karl-Dietz-Verlag, Berlin 2004
(3) – Ebenda, S. 96ff.
(4) – Ebenda, S. 111
(5) – Antragsheft 1, Zeilen 298-341
(6) – http://www.neues-deutschland.de/artikel/203265.eine-notwendige-erwiderung.html. Die Erklärung ist unterschrieben von Helmuth Markov, stellvertretender Ministerpräsident sowie Finanzminister in Brandenburg und ehemaliger Landesvorsitzender der PDS, Ralf Christoffers, Brandenburgischer Wirtschaftsminister und ebenfalls ehemaliger Landesvorsitzender der PDS, Kerstin Kaiser, Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Brandenburgischen Landtag, und Angelika Klein, Landtagsabgeordnete der LINKEN in Sachsen-Anhalt, sowie Achim Bittrich, Thomas Falkner, Katja Haese, Lutz Kupitz, Kurt Libera und Mathis Oberhof.
(7) – http://www.matthias-muba.de/Themen/Busse.html
(8) – Mormonwiki.com, Stichwort: „Umkehr“
(9) – Jürgen Hartmann: Vergleichende Politikwissenschaft. Ein Lehrbuch, Campus Verlag, Frankfurt a. M./ New York 1995, S. 16
(10) – Pipers Wörterbuch zur Politik 1, Teilband 2 (N-Z), 3. Auflage, Piper Verlag, München/ Zürich 1989, S. 1077f.
(11) – Ebenda, S. 1014f.
(12) – Antragsheft 1, Zeilen 923-936
(13) – Alles auf den Prüfstand!, S. 31
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