14. Jahrgang | Nummer 16 | 8. August 2011

Statt Krieg Wandel durch Annäherung

von Stefan Bollinger

1961 wurde die Krise der DDR militärisch gelöst. Für die Supermächte war der Status quo gewahrt. Die Welt wurde sicherer, Verbesserungen für die Beziehungen der Blöcke wie für die DDR schienen machbar – trotz des hohen Preises, den deren Bürger dafür zahlen mussten. Ein Krieg war verhindert, aber die Spaltung Deutschlands betoniert. Obschon Westberlin nicht als Freie Stadt neutralisiert oder gar in die DDR eingegliedert werden konnte, hatte sich für die DDR die Situation verbessert. Endlich war es möglich, ungestört von Einmischung und Störmanövern den sozialistischen Aufbau voranzutreiben. Sich ihm entziehen konnten die DDR-Bürger auch nicht mehr. Manche Historiker sprechen von einer „innere Staatsgründung“.
Die DDR hatte – mit Moskau im Rücken – souverän ihre Grenzen unter Kontrolle und konnte – in Maßen – auch die Alliierten an Regeln binden. Der Weg, der am 13. August 1961 begann, endete zunächst 1972, als DDR und BRD den Grundlagenvertrag abschlossen, der nach dem Vertragswerk der BRD mit der Sowjetunion, Polen und der ČSSR die Jalta-Ordnung auch für den westdeutschen Staat festschrieb. Bereits zwei Jahre zuvor hatte das Vierseitige Abkommen über Berlin oder Berlin-West jenen Status geregelt, der 1961 zur Disposition stand. Westberlin war kein Bestandteil der Bundesrepublik und wurde von ihr nicht regiert, hatte jedoch – je nach Lesart – Bindungen oder Verbindungen. Der Reiseverkehr wurde geregelt.
Nun eröffnete sich auch die Möglichkeit, die Systemauseinandersetzung friedlich auszutragen. Die Krisen 1961 und 1962 hatten in den USA die Einsicht bei Realisten um Kennedy reifen lassen, dass Europa betreffende Abenteuer mit ungewissen, wohl tödlichem Ausgang verbunden wären. Es war kein Zufall, dass der US-Präsident bei seinem Westberlin-Besuch 1963 an der Freien Universität Studenten und Politikern eine Perspektive aufzeigte, die für den Westen den Abschied vom Roll back, für den Osten aber eine noch unbegriffene Herausforderung sein musste: Er verlangte, „dass wir den Tatsachen ins Auge sehen, dass wir uns von Selbsttäuschung frei machen, dass wir uns weigern, in bloßen Schlagworten zu denken.“ Das zielte auf eine Politik der Kontakte und des Verhandelns, der Vorbildwirkung für die osteuropäischen Staaten und die DDR. Kennedy setzte auf Nationalismus und Freiheit. „Wir müssen erst andere dazu bringen, dass sie ihre eigenen wahren Interessen besser begreifen, als sie es heute tun.“ Willy Brandt und sein Vertrauter Egon Bahr hatten diese Neuorientierung begriffen. Sie verkündeten ihre neue Einsichten drei Wochen später in Tutzing. Aus dem Frontmann des Kalten Krieges wurde der Begründer der Neuen Ostpolitik, die auf „Wandel durch Annäherung“ setzte, um den Systemkonflikt zu entspannen, die östliche Seite zu gewinnen, zu wandeln – und wie sich auch herausstellte, die eigene kapitalistische Gesellschaft für diesen Wettbewerb fit zu machen.
Auch die BRD und Westberlin wandelten sich. Die Mauer hatte ihnen die Dreiteilung Deutschlands vor Augen geführt. In den Folgejahren akzeptierten realistisch denkende Journalisten, Manager, Politiker Möglichkeiten einer sich im Idealfall reformierenden, zumindest prosperierenden DDR für die eigenen Interessen. Das „Gespenst Kommunismus“ verlor in den 1960er Jahren an Schrecken. Ferner zwang das Ausbleiben von DDR-Flüchtlingen angesichts einer Bildungskatastrophe zu Reformen im akademischen Bereich. „1968“ ist insofern auch eine Folge des Mauerbaus.
Ein Krieg war vermeidbar geworden. Es blieb die Frage der Stabilität der DDR, ihrer Fähigkeit, sich so zu entwickeln, dass keiner mehr vor dem Sozialismus weglaufen mochte. Ulbricht sprach es zumindest im kleinen Kreis aus: „Um die Stimmung in der DDR zu verändern, muss man der Bevölkerung … eine ökonomische Perspektive aufzeigen, die sie gegenwärtig nicht hat.“
Denn die durchgezogene Kollektivierung der Landwirtschaft brachte nicht die erhofften kurzfristigen Resultate. Die Industrie stagnierte. Der Ausfall von Arbeitskräften machte sich bemerkbar. Es gab eine handfeste Wirtschaftskrise. Noch hoffte die DDR auf zusätzliche Kredite der Verbündeten, auf Rohstoffe, auf weniger ungleiche Verträge mit Moskau wie mit den Verbündeten, auch auf Arbeitskräfte, die die Lücken in der DDR schließen könnten. Dazu kam, dass mit der Kündigung des Handelsabkommens DDR–BRD 1960 trotz dessen Rücknahme das Damoklesschwert einer Blockade über dem Land schwebte. Die Schlussfolgerung war die „Störfreimachung“. All das belastete die DDR-Wirtschaft.
Noch blieb aber die Analyse an der Oberfläche. Ulbricht kannte seinen Staatsapparat, die ideologischen Überspitzungen der LPG-Bildung oder der Gewerbepolitik. Er kannte seine Genossen, ihre Stärken und Schwächen, auch wenn er meist vergaß, dass er selbst oft Husarenattacken ritt, ohne die Folgen umfassend zu beachten. Zu seinen Verdiensten ab 1961 gehörten dessen ungeachtet grundlegende Einsichten jenseits der Symptombekämpfung. Er versammelte jüngere Wirtschaftspraktiker und Wissenschaftler um sich und begann mit einer umfassenden Wirtschaftsreform – dem Neuen Ökonomischen System.
Es ging nun um ein grundsätzlich anderes Wirtschaften. Starrheit, Ineffizienz und zuallererst die unzureichenden Anreize des zentralistischen Planwirtschaftsystems sowjetischen Zuschnitts sollten über Bord geworfen werden. Gewinn, Leistungsstimulierung, relative Selbständigkeit der Betriebe sollten die Volkswirtschaft ankurbeln.
Politisch sollte ein neues Klima entstehen. Darum wurden Staatsapparat und die Wirtschaftsfunktionäre gestärkt, den Bürgern wurde eine breitere Mitwirkung an der Gesetzesdiskussion ermöglicht, gesellschaftliche Gerichte und Elemente betrieblicher Mitbestimmung sollten die Betroffenen einbeziehen; es erfolgte eine Zuwendung zu Jugend und Frauen, gar eine Lockerung künstlerischer Arbeitsbedingungen. Unter der Hand wurden ohne Namensnennung wichtige Überlegungen von noch kurz zuvor als Revisionisten gebrandmarkten Wissenschaftlern wie Fritz Behrens oder Arne Benary in die neuen Wirtschaftskonzepte integriert. Die Gesellschaft, vor allem ihre Intellektuellen nahmen diese neue Situation an, ein Klima des Aufbruchs rückte Grenzschließung in den Hintergrund, zumal der erste partielle Widerstand erfolgreich unterdrückt werden konnte. Es kam zu einem neuen Tauwetter. Bücher und Filme setzten sich mit der sich sozialistisch nennenden Gesellschaft auseinander, wollten ihre Konflikte aufzeigen und nach sozialistischen Lösungen suchen.
Aber es zeigte sich schnell, dass diese Reform nur eine halbe bleiben sollte. Schon die Einschätzungen der Fluchtgründe hatte eine seltsame Schieflage. Die westdeutsche Schuld war unbestritten, Wirtschaftsmängel waren ein Thema. Aber die politischen Motive, das Nichtfunktionieren einer demokratischen Teilhabe blieben unbeleuchtet. So wirtschaftlich innovativ die 1960er Jahre waren, die anfänglichen politischen Lockerungen blieben isoliert, die Führungsrolle der Partei durfte nicht angetastet werden. Es blieb beim stalinistischen System. Bereits 1965 beendete das 11. ZK-Plenum den intellektuellen Aufbruch, Künstler, wurden zur Räson gebracht, die Freizügigkeit für die Jugend wieder deutlich eingeschränkt. Eine reformfeindliche Fronde im Politbüro unter Führung Honeckers erinnerte Ulbricht daran, dass die Macht das Allererste und Allerwichtigste war. Die in Prag einrollenden Panzer zerstörten drei Jahre später auch das Neue Ökonomische System. Besiegelt wurde das später mit Ulbrichts Sturz. Alles blieb wie es war – bis 1989.

Ein ausführlicher Beitrag zum Thema erschien in Heft 23/2011 in der Reihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung „Standpunkte“ – www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs.