13. Jahrgang | Nummer 17 | 30. August 2010

Wolfgang Harichs Reise in die Sowjetunion

von Andreas Heyer

1948 war die Aufregung in der SBZ groß. Immer wieder gab es da diese Gerüchte aus dem Westen, daß in der Sowjetunion die Freiheit von Kunst und Kultur unterdrückt werde. In aller Eile wurde eine Kommission einberufen, und da diese auf Reisen ging, nennen wir sie hier einfach beim exakten Namen: Es handelte sich um eine „Delegation fortschrittlicher deutscher Kulturschaffender“. Zwischen dem 6. April und dem 4. Mai besuchten Ellen und Bernhard Kellermann, Günther Weisenborn, Wolfgang Harich, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Wolfgang Langhoff, Michael Tschesno, Heinrich Ehmsen und andere die UdSSR, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Wolfgang Harich veröffentlichte dann in den Nummern 21-23 der Weltbühne von 1948 eine Serie von Artikeln unter dem Titel „Gleichschaltung?“, in denen er seine Beobachtungen mitteilte. (Alle folgenden Zitate stammen aus diesen Texten.)

Die Aufgabe der Delegation war klar umrissen: „Dem Triumphgeheul der Snobistenmeute von Köstler bis Karsch“  müsse deutlich entgegnet werden. In der Sowjetunion werde kein Künstler unterdrückt oder gemaßregelt. Es fänden lediglich intensive Diskussionen statt, die das große Interesse der Bevölkerung der Sowjetunion an Kunst und Kultur zum Ausdruck brächten. Wenn Andrej Shdanow – Anm. AH: Er war der Vater der nach ihm benannten repressiven Kulturpolitik, der in der DDR die Formalismus-Debatte auslöste. – einen Schriftsteller kritisiere, dann fasse er „lediglich die Ergebnisse der Diskussion“  des Volkes zusammen. So gesehen, ein zutiefst demokratischer Akt, der von den Kunstschaffenden der Sowjetunion freudig begrüßt werde. „Wir sind im Recht, wenn wir das Prinzip der öffentlichen Kritik und Selbstkritik, das für das sowjetische Kulturleben charakteristisch ist, nicht nur entschuldigen, nicht nur verständlich zu machen versuchen, sondern als positives Symptom einer besseren, freiheitlichen Form menschlichen Zusammenlebens würdigen.“  Wenn der Einzelne die Kritik selbstkritisch anwende und verarbeite, dann sei dies kein Druck, keine Gängelung oder ähnliches, vielmehr ein Ausdruck intellektueller Freiheit. Denn die Kritik beziehe sich ja auch immer nur auf einzelne Punkte. Der betroffene Künstler werde von allen staatlichen Stellen unterstützt und ermutigt, sein Werk zu überarbeiten. Mit diesem Verfahren, so Harich programmatisch, sei der sowjetische Kulturbetrieb dem westlichen überlegen. „Nach einer vierwöchigen Reise kann man selbstverständlich nicht erschöpfend über die Eigenarten des sowjetischen Kulturlebens Auskunft geben. Aber es wird einem doch klar, daß in dieser von Grund auf verwandelten Welt andere Maßstäbe gelten als bei uns, und daß diese Maßstäbe unseren Prinzipien eminent überlegen sind.“

Nach diesen einführenden Passagen entwarf Harich ein Bild, das der Propagandaliteratur der 20er Jahre in nichts nachsteht: Die Sowjetunion sei ein Land der Liebe zur Kultur. Harich besuchte Jugendtheater. Er besuchte  Bibliotheken, in denen achtjährige Kinder lesen und von ihren Müttern fast schon gezwungen werden mußten, die Lektüre zu beenden. Und er schilderte seine Erlebnisse in einer Moskauer Mädchenschule, die in einem extra eingerichteten Raum, dem „schöpferischen Zimmer“, Dichter und Philosophen studierten, in diesem Fall Schiller. Dissertationen wurden dort gewälzt, Fachzeitschriften durchgearbeitet, Aufführungen geprobt, mit Universitätsdozenten diskutiert etc. Selbstredend war dies alles vom Staat gefördert und in seiner Gesamtheit ein Ausdruck der überlegenen sozialistischen Freiheit.

Mit diesen Hinweisen glaubte Harich die Vorwürfe der Unterdrückung der Kultur entkräftet zu haben. Fadejew, Achmatowa, Varga, Schostakowitsch, Prokofjew, Eisenstein und andere würden in völliger Ruhe arbeiten können. Natürlich war dies noch nicht einmal ansatzweise die Realität. Alle Genannten wurden massiv unter Druck gesetzt. Vor allem Shdanow zeichnete sich für dieses Vorgehen verantwortlich und er prägte auch den Topos der „Speichellecker des Westens“. Intensiv diskutiert wurde 1946 bis 1948 auch der Fall von Michail Soschtschenko. Als Kritiker und Satiriker war er nach der Oktoberrevolution berühmt geworden, wobei er sich auch mit Fehlern der neuen Regierung auseinandersetzte. Harich zu Folge ließ seine Beliebtheit aber in dem Moment nach, wo das Volk sah, wie prächtig sich der Sozialismus entwickelte. Diese Distanz reichte bis zum Ende des Weltkrieges: „Er veröffentlichte politische Novellen, die die Leser als beleidigend empfanden. Unter Tausenden von Leserzuschriften war keine einzige positive Würdigung Soschtschenkos zu finden. (…) Schließlich organisierten die Kommunistische Partei und der Schriftstellerverband öffentliche Diskussionen, in denen sich das Publikum zu Soschtschenkos Entwicklung äußern sollte. Auch hier wurde er allgemein abgelehnt. Der Beschluß des Schriftstellerverbandes, ihn aus seinen Reihen auszuschließen (1946), war nur das letzte Resultat einer eindeutigen Stellungnahme des Volkes.“  Was wir bei Harich nicht lesen, ist, daß Soschtschenko seit Mitte der 30er Jahre massiv unter Druck stand und nur noch Kinderbücher sowie einige literarische Feuilletons schreiben durfte. Als 1943 ein Kapitel seines Buches „Vor Sonnenaufgang“ vorab gedruckt wurde, erhielt er Publikationsverbot und wurde sukzessive aller Ämter und Positionen enthoben.

Soschtschenko wurde erst nach Stalins Tod zum Teil rehabilitiert, 1956 erschien erstmals wieder eine Auswahl aus seinen Werken.
Der Grund für die Maßregelung Soschtschenkos lag unter anderem darin, daß erimmer wieder Charaktere und Figuren zeichnete, die auch als Kommunisten von menschlichen Schwächen und Makeln nicht frei waren. Und dies widersprach, wie Harich feststellte, „kraß dem Grundgedanken des sozialistischen Humanismus, daß die Eigenschaften des Menschen historisch wandelbare Erscheinungen sind, die durch eine vernünftige Gesellschaftsordnung zum Besseren verändert werden können“.

In der DDR hat Manfred Krug den Namen Soschtschenkos vor dem Vergessen bewahrt. Im Rahmen des auch heute noch bekannten Programms „Jazz, Lyrik, Prosa“ von las er dessen Erzählung „Die Kuh im Propeller“. Und spätestens seither wissen wir, warum Soschtschenko in der UdSSR verboten wurde.

Immerhin hatte Harich für seine Leser ein paar tröstliche Worte zum Abschluß: „Aber gleichgültig, ob Soschtschenko durch die Kritik zu überzeugen ist oder nicht – fest steht, daß er den öffentlichen Charakter dieser Kritik, das Beteiligtsein nicht nur der literarischen Experten, sondern der ganzen Gesellschaft und ihrer Organisationen als selbstverständlich anerkennt; und keineswegs als ‚totalitären‘ Zwang oder Druck empfindet.“ Na, dann war ja alles gut.