13. Jahrgang | Nummer 6 | 29. März 2010

BEMERKUNGEN

Hol´s der Teufel

Der Teufel hole seine Praxis (des Kommunismus, d.R.), aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe!

Karl Kraus 1920 in: Die Fackel

Unterleibsfernsehen

Man kann immer mehr Akteure im Unterhaltungs-Fernsehen beobachten, die auf das Ansprechen des rein Animalischen setzen. Von Mario Barth, der ein Olympiastadion mit gierigem Publikum füllen kann, sind wir das ja seit langem gewöhnt. Von der ursprünglich als Ladykracher gefloppten Anke Engelke – wäre es doch dabei geblieben! – erwarten wir schon nichts anderes mehr. Der Trend hat den sagenhaften Comedian Ingo Appelt nun endlich auch überzeugt, er schweinigelt nur noch rum. Daß die unästhetisch anzuschauende XXL-Cindy dominierend darauf setzt, verwundert mich nicht (Haste neue frische Schlipper mit? Biste schon feucht?- fragt sie in ihr orgiastisch keifendes Publikum). Nun auch noch den klugen Kajan Janar und den superklugen Dieter Nuhr an die Fraktion der brünstigen Ochsen verloren zu haben, schmerzt mich sehr.

Sie alle kommen in keinem Programm mehr aus, ohne die intimen, sinnesintensiven Vorgänge auf dem türkischen Trockenklo, das Urinieren oder Ejakulieren zu thematisieren, verstohlen nach dem Publikum zu schielen und dann satt zu grinsen, weil das in wohlig-kollektives Johlen verfällt. Fast konkurrenzlos – und ich kann keinerlei begrenzende Vorsicht ausmachen – Oliver Pocher, der zynische Possenreißer. Eckardt von Hirschhausen arbeitet noch daran, aber auch er kann es.

Sie alle finden die Lachstoffe nur noch im Enddarm, Blase und Genitalien. Da kann nichts für das Großhirn übrig bleiben. Manch einer fühlt sich freilich beim Sauigelniveau wohl, es ist wie permanent Schlachtfest, Kirmes, Hochzeitsfeier– jeweils nach der vierten Stunde und dem zehnten Schnaps.

Möglicherweise wirft man mir Überempfindlichkeit vor. Eventuell bin ich wirklich etwas zu sensibel. Aber eigentlich geht es mir darum, daß die geistige Tendenz solcher Sende“tendenz“ fast die logische Fortsetzung von HartzIV und ähnlichem ist. Es ist eine Verletzung der Würde des Menschen an und für sich. Muß man das begründen?

Gut – so sei es: Daß es sich bei diesen körperlichen Dingen um sehr Intimes, meist ganz Individuelles und sonst nur einzeln, paarweise oder so Ausgetragenes handelt und nichtöffentlich Ausgebreitetes, ist unbestritten. Wer davon die sprichwörtliche Decke zieht, ist verletzend, brüskierend. Er nimmt ihm den Schutz, setzt ihn der Lächerlichkeit aus, will in’s Allerpersönlichste die gnadenlose Leistungskonkurrenz tragen. Das Individuum wird nicht nur des nötigen Geldes für’s Leben, des Fingerabdrucks und rumoriger Gedanken enteignet, sondern auch noch nackt gemacht mit den restlichen körperlichen Bedürfnissen und Befriedigungen hier auf Erden.

Die Gesellschaft hat das ihr eigene Fernsehen bis in die letzte Konsequenz ausgestaltet.

Frank Schubert

Wenn Stühle sprechen …

Im Frühjahr 2009 verließ der Berliner Haushaltspolitiker Carl Wechselberg (Die Linke) im Zorn seine Partei. Kenner der Szene sprachen von nicht erfüllten Karrierehoffnungen, er selbst erklärte, daß er Oskar Lafontaines Kurs nicht mittragen könne. Die Linke verfiel monatelang in eine Art Schockstarre. Niemand wollte die fragile Koalitionsmehrheit von zwei Stimmen gefährden. Die Befürchtungen waren unbegründet, Wechselberg wechselte zum Koalitionspartner SPD. Unter Mitnahme des Mandates natürlich, schließlich habe er dieses „direkt geholt“, wie er nicht müde wurde mitzuteilen.

Bemerkenswert gestaltete sich der erste Auftritt des neugebackenen SPD-Politikers im Haushaltsauschuß des Parlamentes. Beim Versuch des Platznehmens krachte unter ihm mit lautem Getöse der Stuhl zusammen.

Manchmal zeigen Möbel mehr Charakter als politische Parteien.

Günter Hayn

Grunewald-Alpinisten und Frontstadt-Wanderwege

Daß eine Zeitung am Tag ihres Erscheinens und dann erst einhundert Jahre später wieder von Interesse sei, ist eine Binsenweisheit. Aber auch nach drei oder vier Jahrzehnten kann es sehr spannend sein, Beiträge aus Printmedien wieder zu lesen. Das beweisen auch jene Reportagen und Glossen, die der Romancier und Journalist Rudolf Lorenzen (Jg. 1922) über West-Berlin schrieb und die jetzt als Buch vorliegen. „Paradies zwischen den Fronten“ hat er seine Sammlung von Texten genannt, die zwischen 1965 und 1972 erschienen. Es sind allesamt penibel recherchierte, faktenreiche und stets flott geschriebene Artikel, die seinerzeit in der „Weltwoche Zürich“, der Berliner Tageszeitung „Der Abend“ sowie im Magazin „Berliner Leben“ veröffentlicht wurden und 2009 von erheblichem kulturhistorischen Wert sind.

Wir besuchen mit Rudolf Lorenzen im Jahr 1966 die Siegessäule und lauschen ihren Besuchern. Wir staunen mit dem Autor über jene „Grunewald-Alpinisten“, die bereits 1965 am Teufelsberg auf Skiern zu Tale jagten. Lorenzen weiß auch zu berichten, daß das alte West-Berlin 1969 über nahezu 200 Kilometer U-Bahn-Netz, 1970 über 120 Kilometer schiffbare Flüsse und Kanäle sowie über 680 Kilometer Waldwanderwege verfügte. Und immerhin: Auf einen West-Berliner Bürger kamen damals statistisch gesehen gut drei Bäume.

Ein abgeschlossenes Kapitel der Stadtgeschichte ist der Flughafen Tempelhof. Rudolf Lorenzen hat ihn an einem kalten Januartag (minus 17,7 Grad) des Jahres 1971 aufgesucht. Im Beitrag „Airport im Winter“ berichtet er anschaulich über das Funktionieren dieses komplexen Verkehrs-Organismus unter extremen äußeren Bedingungen. Am Anfang steht ein ebenfalls 1971 entstandener Beitrag, der dem Buch auch den Titel lieh: „Das Paradies zwischen Fronten“ meint die Exklave Steinstücken, die erst 1964 und damit drei Jahre nach dem Mauerbau offiziell ein Stück jener Insel wurde, die im Westen die „Frontstadt“, im DDR-Sprachgebrauch aber „die selbständige politische Einheit West-Berlin“ genannt wurde.

Wer etwas über das Selbstverständnis von West-Berlin, das dort herrschende Lebensgefühl und die Themen erfahren möchte, die die Stadt in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren bewegten, der sollte zu den Reportagen und Glossen von Rudolf Lorenzen greifen.

Rudolf Lorenzen: Zwischen den Fronten. Reportagen und Glossen aus Berlin (West), Verbrecher Verlag, Berlin 2009, 226 Seiten, 12 Euro

K. A.

Erleuchtung

Michel! Fallen dir die Schuppen
Von den Augen? Merkst du itzt,
Daß man dir die besten Suppen
Vor dem Munde wegstibitzt?

Als Ersatz ward dir versprochen
Reinverklärte Himmelsfreud´
Droben, wo die Engel kochen
Ohne Fleisch und Seligkeit!

Michel! Wird dein Glaube schwächer
Oder stärker dein App´tit?
Du ergreifst den Lebensbecher
Und du singst ein Heldenlied!

Michel! Fürchte nichts und labe
Schon hieniden deinen Wanst,
Später liegen wir im Grabe,
Wo du still verdauen kannst.

Heinrich Heine

Liberal und modern

Vizekanzler Westerwelle muss allenthalben viel Kritik einstecken, insbesondere wegen seines Engagements für unterschiedliche Lebensverhältnisse in Deutschland. Dabei haben alle Leute, die überhaupt etwas wissen, gewusst, dass er ein Liberaler ist. Und „…liberal gedacht ist es, zu sagen: wenn es schon nicht allen gut gehen kann, soll es wenigstens einem Teil gut gehen, damit des Daseins Fülle nur irgendwo Wirklichkeit werde, vorausgesetzt, dass dieses Glück eines Teils nicht durch Ausbeutung der anderen Teile erlangt ist.“ (E. Hurwitz: Vom Liberalismus. In: Die Weltbühne. Nachdruck 1978, Bd. 14, Jhrg. 1918, 1.Teil, S. 516)

Der Liberalismus hat sich allerdings seitdem auch weiterentwickelt und an die Stelle des Wortes „Ausbeutung“ ist „Ausnutzung“ getreten!

Ove Lieh

Die Klassikerstadt

Ein altes Gauforum, dessen Errichtung sie bestaunte, ein Konsumtempel, in dem sie einst tanzte, eine Tiefgarage, deren Bau sie kopfschüttelnd bedachte. Hübsch zu recht gemachte Mädchen mit kleinen Geigen unter den Armen, rote Rollkoffer hinter sich her ziehend, fliehend aus dem „Mittelding zwischen Dorf und Stadt.”

Leinwände schleppende Hausbauer. Hübsche Fassaden, vor ihrer Restaurierung die Warnung in einem Gästebuch auf hohem Hang: „Fahrt nicht nach W., JW. würde sich Grabe verrenken.“

JW. und seine Brüder im Geiste waren schwergewichtige Gründe, aus den Bewohnern Kulturhauptstädter zu machen – eine hübsche Fassadenstadt als Resultat.

Die Avantgarde sitzt im Zug: „In W. ist heile Welt. Dort sieht man keine Armut, keine Nasen, wenn dann ganz wenige.“

„Naja, aber in West, wo das Bauhaus in billigem Hausbau mündete, dort ist das anders.“

„Das hat mit W. nichts zu tun.“

Aus West kommt auch sie, ein Schatten in Erscheinung und in Stimme: “Junger Mann, haben sie kurz Zeit?”

Ein offenes Ohr, sie hängt den Krückstock ein.

“Haben sie eine kleine Spende? Tun sie es bitte da rein, die Hände sind so kalt”, sie zieht die Henkel ihres Stoffbeutels auseinander. Eine Pumpernickeldose mit rotem Plastikdeckel als Spendendose liegt darin, ein Schlitz vom Küchenmesser – Ausdruck des letzten verzweifelten Aufbäumens – bisher ward alles überstanden, also auch dies.

Sie dankt, wird wieder zum Schatten zwischen den Artefakten des deutschen Geistes, umringt von laufenden Geigen und fliegenden Leinwänden.

Paul

Medien-Mosaik

Seit einem knappen Jahr können wir in unserem Kino immer öfter in die Leinwand hineinschauen, denn die 3 D-Technik boomt. Zwar läuft es noch immer nach der rund 40 Jahre alten Methode, die nicht ohne Spezialbrillen funktioniert, aber die Herstellung dieser Filme ist unkomplizierter geworden, und es lassen sich überwältigende Effekte erreichen. Nach allerlei Schnickschnack kommt mit „Drachenzähmen leicht gemacht“ ein hübscher Trickfilm für die ganze Familie in die Kinos. Chris Sanders und Dean DeBlois, die für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnen, erzählen ein Märchen aus der Zeit der Wikinger. Auf der Insel Berg leiden sie unter besonderem Ungeziefer: Flugdrachen terrorisieren die Bewohner und müssen dafür oft genug mit ihrem Leben bezahlen. Hicks ist ein liebenswerter Drachentöterlehrling, der so ganz anders ist, als die anderen Wikinger, und gerade dadurch dazu berufen ist, das Verhältnis von Mensch und Drachen zu verändern. Er freundet sich gar mit einem der gefährlichsten Biester an. So wird er zum Auslöser für das Umdenken einer ganzen Gesellschaft. Leider vergessen die Filmemacher besonders in einigen Kampfszenen ihr Zielpublikum. Hier wird so schnell geschnitten und John Powells Soundtrack so dröhnend eingespielt, daß dem Brillenträger schwindlig werden kann. Also: für die ganze Familie – außer den ganz Jungen und den ganz Alten.

Ab 25.3. in zahlreichen Kinos

*

Daran, daß auch früher kindgerechte Filme gedreht wurden, und davon ein großer Teil nicht aus Hollywood, sondern von der DEFA aus Babelsberg kam, erinnert ein Buch, in dem der Medienpädagoge Klaus-Dieter Felsmann und der Filmemacher Bernd Sahling die Wirkung (und Nachwirkung) der DEFA-Kinderfilmproduktion betrachten. Dabei erweist sich, daß seit den späten siebziger Jahren auch im bundesdeutschen Kino (und Fernsehen) der Kinderfilm aus der DDR eine wichtige Stellung einnahm. In Interviews mit den Regisseuren Helmut Dziuba, Rolf Losansky, Günter Meyer und Hanneloren Unterberg werden die Enstehungsbedingungen dieser Filme beleuchtet. Sowohl Märchen- als auch Gegenwartsfilme für Kinder aus dem Hause DEFA haben zum überwiegenden Teil bis heute Bestand.

Klaus-Dieter Felsmann/Bernd Sahling, Deutsche Kinderfilme aus Babelsberg, Schriftenreihe der DEFA-Stiftung, 12,50 Euro

bebe