21. Jahrgang | Nummer 9 | 23. April 2018

“Leben mit der Bombe”

von Wolfgang Kubiczek

Nach der Besprechung des Buches „Leben mit der Bombe. Atomwaffen in Deutschland“ durch Wolfgang Kubiczek in der Ausgabe 3/2018 erreichte uns folgende Zuschrift des Autors Werner Sonne:
„Wenn Sie mir […] eine Anmerkung gestatten, dann würde ich darauf verweisen, dass ein wichtiger Aspekt fehlt. Das Buch beschäftigt sich ausführlich mit den Plänen der Nato im Kalten Krieg und liefert hier viele Details, die gewiss ein düsteres Bild dieser Zeit zeichnen. Ich denke, hier wird nichts beschönigt. Das Buch enthält aber auch ein Kapitel zum Thema ‚Die DDR und die Bombe‘, in dem ebenfalls sehr im Detail die atomaren Angriffspläne der Sowjetunion unter Einbeziehung der NVA mit einer massiv nuklear unterlegten Blitzkampagne bis hin zum Atlantik unter Inkaufnahme von Hunderttausenden von Opfern auch in der DDR beschrieben wird. Darüber finde ich leider nichts in der ansonsten umfassenden Wiedergabe des Buches. Hier hat man den Eindruck, dass man an alten Erzählmustern festhält, wonach nur der böse Klassenfeind im Westen erschreckende atomare Angriffspläne hatte.“
Wir baten Wolfgang Kubiczek um einen „Nachtrag“.

Die Redaktion

Der besondere Wert von Werner Sonnes Buch besteht aus meiner Sicht in dem aufgezeigten kontinuierlichen Streben (west)deutscher Eliten nach Atomwaffen vom „Dritten Reich“ bis in die aktuelle Politik in Gestalt der sogenannten nuklearen Teilhabe. Und so sind die Schwerpunkte meiner Rezension gesetzt, während die Besprechung anderer Abschnitte zurückstehen musste. Die DDR jedenfalls hatte mit dieser Traditionslinie gebrochen. Es gab zu keinem Zeitpunkt ihrer vierzigjährigen Geschichte ein irgendwie geartetes Streben nach eigenen Atomwaffen, was übrigens im Buch keinerlei Würdigung erfährt. Allerdings gab es auf dem Territorium der DDR eine große Zahl sowjetischer Atomwaffen, die vom Westen als Bedrohung empfunden wurden, wie es umgekehrt auch der Fall war. Über die „DDR und die Bombe“ schreibt der Autor auf knapp siebeneinhalb Seiten. Hier einige seiner Erkenntnisse:
Erstens – In der DDR hielten die sowjetischen Streitkräfte für einen möglichen Nuklearkrieg ein großes Arsenal an Atomwaffen, deren genaue Anzahl bis heute unbekannt ist, vor. Die NVA-Truppen waren in die sowjetischen Planungen fest eingebunden, allerdings blieben die nuklearen Sprengköpfe stets unter sowjetischer Kontrolle. Erst im Kriegsfall wären Gefechtsköpfe an die DDR-Einheiten übergeben worden.
Zweitens – Die Sowjetunion unterhielt „atomare Angriffspläne […] unter Einbeziehung der NVA mit einer massiv nuklear unterlegten Blitzkampagne bis hin zum Atlantik unter Inkaufnahme von Hunderttausenden von Opfern auch in der DDR“.
Drittens – Im Unterschied dazu hätte die NATO an der innerdeutschen Grenze gestoppt. Die Absicht der „Vorne-Verteidigung“ der Allianz war es, den Angriff so dicht wie möglich an der Grenze aufzuhalten.
Viertens – Trotz gegenteiliger Beteuerungen des Warschauer Vertrages wurde ein „zuvorkommender Kernwaffeneinsatz“ befürwortet.
Zum ersten Punkt gibt es von meiner Seite wenig Widerspruch: Warschauer Vertrag und NATO hatten sich in der Zeit des Kalten Krieges militärisch in einen „Aktion-Reaktion-Zyklus“ manövriert. Danach provozieren einseitige Schritte zur Aufrüstung Gegenreaktionen der anderen Seite, wodurch die Sicherheit der ersteren wiederum untergraben wird und erneut Gegenmaßnahmen provoziert. Es ist die dümmste Variante internationaler Sicherheitspolitik und endet entweder im Totrüsten einer Seite oder sogar in einem Krieg. Das Gegenstück wäre eine Politik der gemeinsamen Sicherheit mit ihrem Kernstück Rüstungsbegrenzung und Abrüstung gewesen. Ich erwähne es hier auch, weil wir uns im Verhältnis NATO-Russland bereits wieder auf diesem verheerenden Weg befinden. Jedenfalls unterhielt die Sowjetunion auf DDR-Territorium ein aus ihrer Sicht ausreichendes Kernwaffenpotenzial, um die Gegenseite abzuschrecken oder im angenommenen Kriegsfall die Oberhand zu behalten. Die NVA war logischerweise als Verbündeter in diese Planungen integriert, aber, wie der Autor selbst einen Ex-NVA-Offizier zitiert: „Kein NVA-Offizier hat je einen sowjetischen Sprengkopf gesehen.“
Die These des Autors von den „atomaren Angriffsplänen der Sowjetunion […] bis hin zum Atlantik unter Inkaufnahme von Hunderttausenden von Opfern auch in der DDR“ insinuiert die Bereitschaft zu einem nicht provozierten atomaren Überraschungsangriff gegen die NATO. Das widerspricht jedoch zum einen der Faktenlage und negiert zum anderen die Entwicklung des militär-politischen Denkens in der Sowjetunion.
Der im Buch als Kronzeuge benannte ehemalige Oberstleutnant der NVA, Siegfried Lautsch, nach der Wende Offizier in der Bundeswehr, beschreibt die strategischen Planungen des Warschauer Vertrages wesentlich differenzierter: „Die operativen Planungen der Bündnisstreitkräfte des Warschauer Vertrages gingen stets von einem Kriegsbeginn durch die NATO aus.“ In der Neuen Zürcher Zeitung schreibt Lautsch: „Die UdSSR und die Warschaupakt-Vertragsstaaten planten nicht, Kriegshandlungen als Erste zu beginnen, sondern im Falle einer äusseren Aggression alle erforderlichen Massnahmen zu ihrer Abwehr und zur Bekämpfung des Gegners durchzuführen, was die Bereitschaft und Fähigkeit voraussetzt, bei der sich bietenden Gelegenheit, noch im Verlauf der Abwehr, entschlossen anzugreifen.“ Dabei wurden, so Lautsch über seinen „Frontabschnitt“, „offensive und defensive Kampfhandlungen (geplant), zwei Optionen, die je nach politisch-militärischer Lageentwicklung angewendet werden konnten. Dabei war der konventionelle Einsatz von erstrangiger Bedeutung. Im Gegensatz zur Warschauer Vertragsorganisation (WVO) war der Ersteinsatz von Nuklearwaffen fester Bestandteil der NATO-Planungen. Dennoch wurde und wird dies kaum in der Öffentlichkeit thematisiert, weil die Realität der Bevölkerung anscheinend nicht zumutbar erscheint.“
Das Argument der „Inkaufnahme von Hunderttausenden von Opfern auch in der DDR“ kann nicht als Alleinstellungsmerkmal für die Strategie des Warschauer Vertrages angeführt werden, denn spiegelbildlich hätte dies auch auf die NATO-Kriegführung zugetroffen. Jeglicher Krieg zwischen Warschauer Vertrag und NATO hätte „Hunderttausende von Opfern“ in Mitteleuropa, vor allem aber in beiden deutschen Staaten gefordert, was von der Absurdität der militärischen Planungen jener Zeit zeugte.
Ein anderer Aspekt der östlichen Militärdoktrin bleibt im Buch leider unerwähnt, obwohl Kronzeuge Lautsch darauf in seinen Publikationen ausführlich eingeht. So erläutert er in der Military Power Review der Schweizer Armee, dass der Warschauer Vertrag in den achtziger Jahren die Angriffsfähigkeit seiner Streitkräfte reduzierte, da er von der Nichtführ- und Gewinnbarkeit eines konventionellen oder Kernwaffenkrieges in Europa ausging: „Ab 1985 ging das östliche Militärbündnis in seinen strategischen Überlegungen davon aus“, so Lautsch, „die Unantastbarkeit seiner westlichen Staatsgrenzen durch die Vorbereitung einer standhaften Verteidigung in der Grenzzone zu gewährleisten. Der ‚Aggressor‘ sollte unter Einsatz konventioneller Mittel und durch Gegenschläge, bei Notwendigkeit aber auch durch einen Kernwaffeneinsatz, abgewehrt und der ‚Status quo ante‘ wieder hergestellt werden …Mit ihrer Defensivplanung von 1985 machten die UdSSR und die Warschauer Vertragsstaaten deutlich, keine Kriegshandlungen beginnen und nicht als Erste Atomwaffen anwenden zu wollen.“ Der Zeitpunkt macht übrigens deutlich, dass diese Korrekturen der Militärstrategie bereits weit vor der Regierungszeit von Michail Gorbatschow eingeleitet wurden, da dafür ein zeitlicher Vorlauf erforderlich ist.
Kritisch ist zu vermerken, dass in diesem Abschnitt des Buches auch die politischen Rahmenbedingungen vernachlässigt werden. So hatte sich beispielsweise die UdSSR auf der 2. Sondertagung der UN-Vollversammlung zur Abrüstung 1982 einseitig verpflichtet, nicht als erste Kernwaffen einzusetzen. Die DDR brachte seitdem regelmäßig in den UN-Vollversammlungen eine von weit über 100 Staaten unterstützte Resolution ein, ein völkerrechtlich verbindliches Dokument über die Verpflichtung zur Nichterstanwendung von Kernwaffen auszuarbeiten. Die NATO-Kernwaffenstaaten lehnten dies regelmäßig ab. Der Warschauer Vertrag bot auch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre an, Konsultationen mit der NATO über die jeweiligen Militärdoktrinen zu führen, mit dem Ziel, die Streitkräfte auf ein für die Verteidigungszwecke notwendiges Mindestniveau zu reduzieren, das die gegenseitige Nichtangriffsfähigkeit gewährleisten würde. Schließlich hätte in einem Beitrag über die DDR und die Atomwaffen zumindest die 1983 von Erich Honecker, gegen den Willen Moskaus, aufgestellte Forderung „Das Teufelszeug muss weg!“ erwähnt werden müssen. Gemeint waren die Pershing II-Raketen und Cruise Missiles im Westen und die in der DDR stationierten Atomraketen der UdSSR. Für die DDR-Führung war das ein gewagter und risikoreicher Schritt.
Dagegen zitiert der Autor als Beweis für den Aggressionsdrang des WVO einen ehemaligen Bausoldaten der NVA, dessen NVA-Ausbilder damit prahlte, nach dem Krieg als Oberbürgermeister von Köln zu reüssieren. Dass dieser Ex-Bausoldat der NVA, kurzzeitig letzter DDR-Verteidigungsminister, dann auch noch fertige Straßenschilder auf Niederländisch in den Kammern von Strausberg fand, macht die „Beweislage“ bezüglich der Aggressionsabsichten komplett. Werner Sonne möchte man allerdings zugutehalten, dass ein so schweres Thema gelegentlich journalistischer Auflockerung bedarf, zumal die seriöse Quellenlage für diesen Teil objektiv nicht üppig ist.
Und schließlich die Behauptung, die NATO hätte im Kriegsfall an der innerdeutschen Grenze gestoppt.
Auch für die NATO galt und gilt: Die detaillierten militärischen Vorgaben, die für eine richtige Interpretation der strategischen Ziele erforderlich wären, unterliegen der Geheimhaltung. Fest steht jedenfalls, dass sich die Militärstrategie der NATO in Europa, die sogenannte flexible response, nicht auf die Vorne-Verteidigung beschränkt hat, wie Sonne im Übrigen selbst in seinem Kapitel „Apokalypse im Bunker“ am Beispiel der NATO-Übung Fallex-Wintex deutlich macht, in der es unter anderem um einen Einsatz von „etwa 40 Atomwaffen auf das Gebiet südlich von Berlin“ ging. Der selektive Ersteinsatz von mindestens taktischen Atomwaffen auf gegenerischem Territorium war fester Bestandteil der flexible response.
Hier ist nicht der Platz, detailliert auf weitere NATO-Planungen einzugehen. Daher seien nur einige kurz erwähnt: die Airland-Battle-Doktrin für die US-Streitkräfte (1982–1990) sah unter anderem vor, den Angriff mit hoher Intensität vornehmlich ins Hinterland des Gegners (Deep strike) voranzutreiben. Sogar hochrangige Militärs der Bundeswehr kritisierten, wie der Spiegel 1983 unter der Überschrift „Aggressives Konzept“ zu berichten wusste, „Tendenzen einer Kriegsführungsstrategie, besonders hinsichtlich A- und C-Waffeneinsatz“, „US-orientierte globalstrategische Vorstellungen, …die Möglichkeit von Operationen präventiven Charakters …“. Andere Konzepte wie FOFA (Follow-on-Forces Attack) zielten ebenfalls auf die Bekämpfung des Gegners auf seinem eigenen Territorium. Das wird im Buch auch eingeräumt, allerdings mit dem Hinweis, Moskau habe die Absicht gehabt, das kommunistische System bis zum Atlantik auszudehnen. Eine solche Zielstellung ist in keinem Militärdokument des Warschauer Vertrages enthalten, zumal nach den massiven Zerstörungen in Folge eines Atomkrieges die Frage nach dem Gesellschaftssystem für die Überlebenden in Europa ohnehin über lange Zeit irrelevant geblieben wäre.
Die Behauptung Sonnes, der Warschauer Vertrag habe auch einen „zuvorkommenden Kernwaffeneinsatz“ befürwortet, liegt im Bereich der Glaubensbekenntnisse. Die als Beweis angeführten Aussagen zweier ehemaliger, vom Rang subalterner NVA-Offiziere sind dafür nicht ausreichender Beleg. Der Befehl zu einem Ersteinsatz von Kernwaffen hätte nur von der obersten Führung in Moskau kommen können, da er den Charakter des Krieges grundlegend geändert hätte – in Richtung eines gegenseitigen atomaren Vernichtungskrieges. Ob solche Planungen in Moskau vorlagen ist unbekannt. Offizielle Politik waren sie nicht.
Unter dem Strich leidet dieser Abschnitt von Werner Sonnes Buch unter dem objektiv bedingten Mangel an seriösem Quellenmaterial, was aber dem Autor letztlich nicht anzurechnen ist.