19. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2016

Bemerkungen

Wunschzettel

Eine Schule hatte den lobenswerten Einfall, zum Jubelfest die Jüngsten unter den Schülern zu bitten, ihre Wünsche aufzuschreiben. Für die fernere Zukunft. Und für die Erwachsenen, um ihnen zur Kenntnis zu geben, was die Kleinen bewegt. Die Wunschzettel wurden sorgfältig zu Papierfliegern gefaltet und dem Wind anvertraut. Wie ein Schwarm bunter Vögel flogen sie auf und davon. Manche landeten zwischen Bänken, in der Hecke, auf der Festwiese und einer der Wunschsegler, himmelblau, zu meinen Füßen. Ich hob ihn auf und entfaltete ihn voller Neugier. Junge oder Mädchen? Welchen Namens? Welchen Temperaments? Eine Unterschrift gibt es nicht. – Große Schriftzüge und abfallend in der Zeile. Noch etwas ungelenk, aber kraftvoll und bestimmt. Was wünscht sich ein junges Menschenkind auf seinem Lebensweg?
„Ich will in die Natur gehen.“
Ein guter Vorsatz. In ihm verbirgt sich der Drang, Reichtum und Vielfalt der umgebenden Welt zu entdecken, ihre Wunder aufzuspüren, die anregende Wirkung wahrzunehmen, welche von ihr ausgeht und die besänftigende Ruhe zu erfahren. Vielleicht auch schon das Bedürfnis, die Natur zu schützen.
„Ich möchte gerne mal Bücher schreiben.“
Das offenbart Erlebnisbereitschaft und Fantasie und Mitteilungswillen (allerdings muss sich zur Umsetzung dieses Wunsches die Orthografie noch ein wenig verbessern).
„Ich möchte gerne ein Pferd haben auf den ich reiten kann.“
Hier deuten sich Sportlichkeit und Tierliebe an. Noch unbekannt dürften dem oder der Wünschenden die Nebenerscheinungen dieser Sportart sein: Straffes Training, Muskelkater; striegeln, Hufe auskratzen, ausmisten, füttern.
„Ich will in einen großen Schlos wonnen.“
Es ist das Verlangen nach Weiträumigkeit, welches sich bemerkbar macht. Auch der Hang zum Märchenhaften und Geheimnisvollen.
„Ich will zwei Mädchen bekomen.“
Nun klärt sich die Geschlechtszugehörigkeit und kündet zugleich vom Familiensinn der Schreiberin. – Anna Maria möchte ich sie nennen. Es wird ein prallgefülltes Leben mit vielen Angeboten auf sie warten.
Ich wünsche gutes Gelingen, Anna Maria.

Renate Hoffmann 

Es becherte in Jena

Der wie ein Berserker arbeitende Philosoph, Publizist, Chefredakteur einer Zeitschrift, Gestalter und Büchermacher Jens F. Dwars hat aus Anlass des 125. Geburtstages von Johannes R. Becher im Jenaer Romantiker-Haus eine Ausstellung präsentiert. Als Becher-Biograph und Autor eines Becher-Films – für den er den Grimme-Preis erhielt – war er bestens auf das Thema vorbereitet. Wieder einmal konnte er aus dem Vollen schöpfen, da er aus der „Sammlung Dwars“ Erstdrucke und Arbeiten von Malern und Graphikern zur Verfügung hatte.
In Jena hat es zu DDR-Zeiten mächtig gebechert: Alle zwei Jahre gab es eine Konferenz zu seinem Werk, das Becher-Stipendium wurde an sehr gute Germanistikstudenten verliehen, es gab eine Erweiterte Oberschule „Becher“, die Becher-Festspiele veranstaltete, ein Becher-Wohnheim, gar eine Becher-Kaserne… Vor allem galt Becher als Staatsdichter und Autor der Nationalhymne, seit 1951 auch als Ehrenbürger der Stadt Jena. Noch heute ist er dies.
Begründet wurde die Wahl damals damit, dass der Poet der berühmteste Student Jenas gewesen sei. Richtig ist, das zeigt die Exposition an der Klaus Schwarz vom Romantiker-Haus mitwirkte, dass Becher in Jena Medizin studieren wollte. Da er 1918 einige wesentliche Papiere nicht beibringen konnte, scheiterte dieser Plan. Vor alle war er (wie Nietzsche und Fallada auch) Patient der berühmten Psychiatrischen Klinik von Professor Binswanger, um von seiner Morphiumsucht wegzukommen.
Die Ausstellung geht zudem der Frage nach, wo die Jenaer Becher-Büste verblieben ist, die immerhin Fritz Cremer schuf. Der Sockel mit Bechers Lebensdaten, Teil des Kunstwerkes, ist noch erhalten und steht im Garten eines Dorfbürgermeisters. Ein Blumentopf ziert die Stele. Hat ein Kunstkenner die zugewucherte Büste entwendet oder war es gar ein schnöder Dieb, der sich lediglich für das Material Bronze interessierte? Wie verhält sich die Stadt Jena zu dem so „entsorgten“ Ehrenbürger? Die Gipsabdrücke von Cremers Kunstwerk sind noch vorhanden…Ein Erzähler ist Dwars, der Geschichten aufspürt, sie weiterführt, um diese mit der Gegenwart zu konfrontieren.
Die zweigeteilte Ausstellung widmet sich zunächst der Jenaer Episode Bechers. In einem anderen Raum wird gezeigt, wie namentlich bildende Künstler (Ludwig Meidner, Bernhard Heise, Dieter Tucholke und andere) Leben und Werk Bechers rezipierten. Einen weiteren Splitter der Rezeptionsgeschichte zeigt uns der Kurator der Ausstellung: Die Zeile aus Bechers Nationalhymne „Deutschland einig Vaterland“ war in der „Wende“, die 1989 eher ein Umbruch war, auf den Straßen wieder präsent, auch wenn der Name des Dichters nicht fiel. Zahlreiche Hörproben, darunter einige von Becher selbst sowie die glänzenden Vertonungen durch Hans-Eckardt Wenzel, runden die Exposition ab.
Das Wesentliche an der Ausstellung ist, dass sie nichts von einer Huldigung hat. Schon das Faltblatt mit dem hintersinnigen Titel „Fahndung nach einem Ehrenbürger“ weist Risse im Porträt des jungen Poeten auf. An seiner Biographie und seinem Werk könnten junge Besucher die ganze Zerrissenheit des vorigen Jahrhunderts begreifen. Ja, Becher war ein Vielschreiber, es sind circa 4000 lyrische Texte bekannt. Es gelte die „Goldkörner“ darunter zu finden In der Auswahl „100 Gedichte“ hat dies Dwars für den Aufbau-Verlag vor Jahren getan Der Dichter war ein Parteisoldat und Staatsdichter, aber als Gründer des Kulturbundes ging er von einem gesamtdeutschen Konzept aus. Ihm gelang es, auch Schriftsteller der inneren Emigration (wie etwa Hans Fallada) in ein Konzept zur Erneuerung der deutschen Kultur einzubinden. Für zwei Jahre war Johannes R. Becher Kulturminister der DDR. In dieser Funktion, meinte Hans Mayer, sei er für sein Land ein „Glücksfall“ gewesen.

Ulrich Kaufmann

SES – Revival

Im Januar 1989, das zum Umbruchjahr werden sollte, hatten sich in Berlin, damals noch Hauptstadt der DDR, einige jüngere sicherheitspolitische Experten verschiedener ziviler und militärischer politikwissenschaftlicher Forschungs- und Lehreinrichtungen zu einer unabhängigen Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit (SES) zusammengeschlossen – in dem Bestreben, die sich abzeichnenden tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse auch für einen so grundlegenden sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel zu nutzen, wie ihn bereits die Namensgebung der Gruppe programmatisch auf den Punkt brachte.
Im „Papier 1 / Thesen zur Entmilitarisierung der Sicherheit in Europa“ formulierte die SES seinerzeit ihren konzeptionellen Ansatz:

„Was heißt Entmilitarisierung der Sicherheit als internationales Problem?

  • Radikaler geistiger Bruch mit dem klassischen, aber heute potentiell selbstmörderischen sicherheitspolitischen Grundsatz „si vis pacem para bellum“; Begreifen, daß Sicherheit in einer interdependenten Welt nicht durch militärische Abschreckung zwischen Staaten, sondern nur durch deren möglichst komplexe Annäherung und Verzahnung zu haben ist.
  • Entmilitarisierung des Umgangs miteinander in und zwischen den Gesellschaften; Entwicklung einer nationalen und internationalen Kultur der Konfliktbewältigung ohne Rückgriffe auf militärische Mittel.
  • Abrüstung und Konversion der für Europa disfunktionalen militärischen Potentiale als Materialisierung dieser Erkenntnisse und Grundsätze.“

Und: „Entmilitarisierung bedeutet den schrittweisen Übergang zu einem neuen, komplexen, nichtmilitärischen Sicherheitsdenken und einem entsprechenden internationalen Sicherheitssystem. Ein solcher Prozeß hat globale Aspekte, die im UNO-System zu regeln wären. Er hat regionale, in unserem Fall europäische Aspekte. Hier muß der sicherheitspolitischen Dimension des KSZE-Prozesses durch Abrüstung und militärische Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen eine neue neue Qualität gegeben werden. Und ein solcher Prozeß hat nationalstaatliche Aspekte. Er stellt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die auch gesamtgesellschaftlich angegangen werden muß.“
Im März 1990 war die SES maßgeblich am Zustandekommen einer internationalen Konferenz an der damaligen Militärpolitischen Hochschule der NVA in Berlin-Grünau beteiligt, die sich mit „Notwendigkeit, Möglichkeiten, Bedingungen und Folgen einer Entmilitarisierung der DDR“ befasste. Das Hauptreferat hatte die Gruppe ausgearbeitet.
Doch nach den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 nahm der Umbruch eine Richtung und eine Dynamik an, die nahezu alle Mitglieder der Gruppe zwang, ihre angestammten Sach- und Fachgebiete, teilweise bis zum Ende ihres beruflichen Erwerbslebens, zu verlassen. Die Gruppe musste ihre Arbeit einstellen.
Im Juni dieses Jahres trafen einige SES-Gründungsmitglieder erneut zusammen und fassten – insbesondere angesichts der gefährlichen Zuspitzung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland und der Zunahme kriegerischer Konflikte in verschiedenen Weltregionen – den Entschluss, den Faden in der einen oder anderen Form gemeinsam wieder aufzunehmen.
Es sind dies im Einzelnen:
Dr. Siegfried Fischer, Unternehmensberater und Publizist, Berlin;
Prof. Dr. Hajo Gießmann, Politikwissenschaftler und Konfliktforscher, Hamburg;
Prof. Dr. Lutz Kleinwächter, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Potsdam;
Prof. Dr. Wilfried Schreiber, Publizist, Berlin;
Dr. sc. Wolfgang Schwarz, Publizist und Chefredakteur DAS BLÄTTCHEN, Berlin.

Alfons Markuske 

Ehrlich gesagt… und gesungen

Ehrlich gesagt, macht sich grundsätzlich eine gewisse Skepsis beim Rezensenten breit, wenn es sich um deutschsprachiges Musikgut handelt. Die Herz-auf-Schmerz-Reimkultur ist ja schon hinlänglich beklagt worden.
Das Musiker-Ehepaar Carolin und Andreas Obieglo firmiert als künstlerisches Duo „Carolin No“. Knapp zehn Jahre nach ihrem Debütalbum haben sie mit „Ehrlich gesagt“ eine komplett deutschsprachige CD eingespielt.
Carolin Obieglo drückt den Liedern mit ihrem intensiven Gesang ihren Stempel auf, während Andreas Obieglo an diversen Tasten- und Saiteninstrumenten brilliert. Sie liefern poetische Momentaufnahmen und glänzen dabei mit Spielfreude und -witz.
Der musikalische Reigen reicht von der nachdenklichen Ballade „Eins in Dur“ über das melancholische „Lichter unserer Stadt“ bis zum zerbrechlich dargebotenem Liebeslied „Herz“. Einen starken Nachklang ruft das Lied „Abend wird es wieder“ hervor – der einzige Fremdtext stammt übrigens von Hoffmann von Fallersleben.
Eindeutiger Höhepunkt des Albums ist das titelgebende Stück:

„Ehrlich gesagt
Hab ich schon lange nichts mehr
Ehrlich gesagt
Und daran was zu ändern
Ehrlich gesagt
Kontinuierlich vertagt…“

Das Lied hat wirkliche Hitqualitäten und drängt dabei anrührend, leicht verquer und verstörend, dynamisch und kraftvoll ins Ohr.
Ehrlich gesagt: intelligente deutschsprachige Popmusik ist möglich!

Thomas Rüger

Carolin No: Ehrlich gesagt, CD 2016, Label: Fuego, 16,00 Euro.

Pascal-Sprüche

Es gibt zwei gefährliche Abwege: die Vernunft schlechthin abzulegen und außer der Vernunft nichts anzuerkennen.

Der Mensch handelt nicht nach der Vernunft, die sein Wesen ausmacht

Da die Menschen kein Heilmittel gegen den Tod, gegen das Elend und gegen die Unwissenheit haben, sind sie, um glücklich zu werden, darauf verfallen, nicht an diese Dinge zu denken.

Jeder Wahrheit sollte man hinzufügen, daß man sich auch der entgegengesetzten Wahrheit entsinne.

Das Recht ohne Macht ist machtlos – die Macht ohne Recht ist tyrannisch. Also muß man dafür sorgen, daß das was Recht ist, mächtig und das was mächtig ist, gerecht sei.

Blaise Pascal, 1623–1662, französischer Religionsphilosoph und Naturwissenschaftler

Berliner Debatte Initial

Heft 2 des vierteljährlich erscheinenden „Sozial- und gesiteswissenschaftlichen Journals“ hat sich des Themas Utopien angenommen, mit dem Dreischritt im Titel „Kritik, Ermächtigung, Trost“. Anlass ist das Erscheinen von Thomas Morus’ „Utopia“ im Jahre 1516. Das war ein Novum: Die Utopie legte die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in die Hand des Menschen. Nach dem Fiasko des Realsozialismus wurde das Ende der Utopien verkündet. Zugleich hat die dystopische Ernüchterung des letzten Vierteljahrhunderts den Ruf nach Utopien wieder lauter werden lassen.
Der Schwerpunkt enthält lesenswerte Beiträge zu Thomas Morus als „utopischer Politikberatung“, zur Legende von Libertalia, der utopischen Republik der Seeräuber, zum Gesamtkunstwerk als Form des Utopischen, unter anderem unter Bezug auf Richard Wagner, und zu Funktionen utopischen Denkens. Besonderes Interesse dürfte der Text von Ulrich Busch zur „Postsozialistischen Romantik“ finden. Bei Marx und Engels wurde die Verwissenschaftlichung des Sozialismus proklamiert; wissenschaftlich begründet war allerdings nur die Analyse des Kapitalismus, also der Gegenwart, während die sozialistische Zukunft dem phantastischen Reich der Utopie verhaftet blieb. Der „reale“ Sozialismus nahm für sich in Anspruch, aus dem Reich der Utopie in das der Wirklichkeit getreten zu sein. Nach dessen Scheitern wurde dies zum Verlust der Utopie erklärt.
Soll die Idee des Sozialismus wieder aufleben, gibt es dafür zwei Möglichkeiten: die Neuformulierung als Wissenschaft unter Verzicht auf Utopie oder die Reanimierung als Utopie ohne wissenschaftlichen Anspruch. Das derzeitige Reden von einer „linken Transformationsperspektive“ hat Kapitalismuskritik mit einer Abkehr von Fortschritt und mit Technikabstinenz verbunden, enthält ein Ökonomiedefizit und ist moralisierend rückwärtsgewandt. Die realen Transformationsprozesse der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft in den vergangenen 150 Jahren haben die antikapitalistischen Forderungen und Utopien immer wieder überholt. Schon allein deshalb gilt Sozialismus breiten Kreisen als „geistiges Geschöpf der Vergangenheit“.

WL

WeltTrends aktuell

Flüchtlingskrise, weitere Integration – die EU steht vor vielen Herausforderungen. Ihre Mitglieder aus Mittelosteuropa wollen stärkeren Einfluss nehmen.  Auf die EU-Bühne kehrte damit ein 25 Jahre altes Format zurück, das in den letzten Jahren eher ein Schattendasein führte – die Visegrád-Gruppe, zu der Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei gehören, die am 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernahm. Im Thema beschäftigen sich vor allem Experten aus der Region mit der Politik ihrer Länder.
Nach Ende des Kalten Krieges sei die Chance zu einer Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok“ vertan worden, kritisiert General a. D. Harald Kujat und plädiert dafür, der Realpolitik eine Chance zu geben. Weitere Artikel des WeltBlick sind jüngsten Entwicklungen in Argentinien, den Philippinen und der Eurasischen Wirtschaftsunion gewidmet.
In der Analyse blickt Thorsten Hasche auf den „Arabischen Frühling“ und die von der EU dazu betriebene Außenpolitik zurück. Donald Trump werde im Präsidentenwahlkampf notorisch unterschätzt, während Hillary Clinton bei aller Kompetenz den Funken noch nicht entzünden konnte, den es braucht, um die Präsidentschaft zu gewinnen, betont Petra Erler im Kommentar.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 117 (Juli) 2016 (Schwerpunktthema: „Neue Seidenstraßen“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.