Hegemoniale Perspektiven

von Erhard Crome

Aus der Politik und dem konzeptionellen Denken in Deutschland ist die hegemoniale Perspektive nicht verschwunden, trotz der Turbulenzen in der Flüchtlingsfrage. Im Grunde ist auch der Versuch der Bundeskanzlerin, zunächst einseitig – das heißt jenseits der in der EU vereinbarten Regelungen – die deutsche Grenze für Kriegsflüchtlinge zu öffnen und anschließend von den anderen EU-Ländern zu verlangen, dem deutschen Kurs zu folgen, Ausdruck eines hegemonialen Verständnisses der deutschen Rolle in Europa. Dies ist des Pudels Kern, jenseits aller humanitären Erwägungen und Belobigungen der deutschen Regierungspolitik.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler machte bereits vor zehn Jahren geltend, Imperien sollten „als eine Form von Problembearbeitung neben der des Staates und anderer Organisationsformen des Politischen angesehen“ werden. Die Europäische Union müsse nach außen als Imperium agieren, sich zu den „übermächtigen USA“ ins Verhältnis setzen und zugleich den Herausforderungen ihrer Umgebung begegnen. Europa müsse sich gegenüber den USA als ein „Subzentrum des imperialen Raumes behaupten und darauf achten, dass sich zwischen den USA und ihm kein Zentrum-Peripherie-Gefälle herausbildet“. Auf der anderen Seite sollten die Europäer aber ihre instabile Peripherie im Osten und Südosten in den Blick nehmen. Dort gelte es, Zusammenbrüche und Kriege zu verhindern, „ohne dabei in eine Spirale der Expansion hineingezogen zu werden, die das verfasste Europa in seiner gegenwärtigen Gestalt überfordern würde“.
Der Zwang zum gemeinsamen Handeln der EU komme von außen, und die innere Entwicklung müsse ihm folgen. Das meint, die imperiale Politik der EU nach außen sei der eigentliche Zweck, aber im Innern müssten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Es gelte, an der europäischen Peripherie stabilisierend zu wirken. Dabei gehe es nicht nur um den überschaubaren Balkan, „sondern um einen Bogen, der von Weißrussland und der Ukraine über den Kaukasus in den Nahen und Mittleren Osten reicht und sich von da über die afrikanische Mittelmeerküste bis nach Marokko erstreckt“. Das „imperiale Ordnungsmodell“ biete sich zur Stabilisierung der verschiedenen Grenzlinien an. Es gelte, „die europäischen Außengrenzen stabil und elastisch zu machen. Das schließt Einflussnahmen auf die Peripherie ein, die eher imperialen als zwischenstaatlichen Vorgaben ähneln. Europas Zukunft wird darum ohne Anleihen beim Ordnungsmodell der Imperien nicht auskommen.“
Das wurde in den vergangenen Jahren versucht. Aber die Kraft der EU reichte dafür nicht aus. Tatsächlich ist sie heute von einem Ring von Kriegen umgeben, der von der Ukraine über die Türkei (die führt im Osten des Landes Krieg gegen die eigene Bevölkerung und ist faktisch kriegsführende Macht in Syrien), Irak, Syrien, Israel/Palästina bis nach Libyen reicht. Der Libanon versucht, seine fragilen Verhältnisse trotz Kriegen und Flüchtlingen mühsam zu erhalten. Ägypten, Algerien und Marokko werden autoritär geführt, sind angesichts der islamistischen Angriffe aber instabil. Das gilt auch für „die Demokratie“ Tunesien. Die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge sind eines der Ergebnisse dieser Entwicklungen. Die Kriege der USA und anderer NATO-Staaten haben diese Lage geschaffen. Im Falle der Ukraine hat sich die EU offenbar bereits übernommen – wovor Münkler gewarnt hatte – und leidet an dem durch die eigene Expansion geschaffenen Desaster. Die Beziehungen zu Russland sind nachhaltig verschlechtert. Zugleich wissen alle, dass es ohne Russland weder in der Ukraine noch in Syrien Frieden geben wird.
Im vergangenen Jahr hat Münkler eine neue Beraterschrift an die Adresse der Berliner Politik publiziert. Da es zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht gekommen ist und in absehbarer Zeit nicht kommen wird, muss ein gemeinsames EU-europäisches Handeln auf andere Weise hergestellt werden. Hier sieht Münkler nun eine der großen Aufgaben, die sich für Deutschland, „die Macht in der Mitte“ stellen. Es sei Aufgabe Deutschlands, „die Europäer auf eine gemeinsame Linie zu bringen und für eine gesamteuropäische Solidarität gegenüber den Mitgliedstaaten zu sorgen, die den Bedrohungen aus der Peripherie in besonderer Weise ausgesetzt sind. Nur wenn das gelingt, wird die Europäische Union als regionale Ordnungsmacht auftreten können.“ Zum Wie betont Münkler: „Die Zentralmacht Europas muss den gemeinsamen Willensbildungsprozess der EU-Mitgliedsländer moderieren, sie muss dafür Sorge tragen, dass am Schluss möglichst alle der beschlossenen Linie folgen […]. Das schließt nicht grundsätzlich aus, dass die Zentralmacht Europas Entscheidungsprozesse auch einmal forcieren kann und auf entschiedenes Auftreten drängen muss […]. Deutschland muss in Europa führen, aber es muss dies in einer umsichtigen, auf möglichst breite und nachhaltige Unterstützung bedachten Art und Weise tun.“ Kurzum: Keine deutsche Führung in der EU, ohne dass die Unterstützung der anderen Staaten und Regierungen dafür erwirkt wird, auf welchem Wege auch immer, es soll nur nicht – es sei denn, es geht um den Euro – wie Zwang aussehen.
Frank Deppe, der die neue deutsche imperiale Politik unter der Perspektive linker Alternativen kritisiert, kommt in seiner Analyse zu einem analogen Befund wie Münkler: Deutschlands Positionierung und Politik ziele auf eine globale Rolle, habe jedoch nur dann eine Chance hat, „als ‚Global Player‘ respektiert zu werden, wenn es seine Führungsposition in der EU hält und ausbaut“. Das habe zur Folge, „dass deutsche imperiale Politik nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie in die Ökonomie und die institutionelle und Verfassungsstruktur der EU eingebettet ist“. So ist deutsche Politik in der EU darauf angewiesen, „Mehrheitsentscheidungen oder Voten des Rates durch Kompromissbereitschaft und stabile Bündnisbeziehungen mit Partnern herzustellen“. Anders gesagt: Als imperiale Macht in der Welt soll aus Sicht ihrer herrschenden Kräfte die EU agieren, während diese im Innern hegemonial strukturiert ist, mit Deutschland als Machtzentrum.
In der Flüchtlingskrise jetzt entscheidet sich, ob das auf Dauer gestellt werden kann, oder aber ob der dritte Versuch Deutschlands, Europa zu beherrschen – diesmal mit nichtmilitärischen Mitteln – wieder auf Sand gebaut war.

Herfried Münkler: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, edition Körber Stiftung, Hamburg 2015.
Frank Deppe: Imperialer Realismus. Deutsche Außenpolitik: Führungsmacht in „neuer Verantwortung“, VSA Verlag, Hamburg 2014.