18. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2015

Kirchenschiff, Kirchenwrack

von Heino Bosselmann

Zu den besonders tragischen Wendeverlierern gehören die ostdeutschen evangelischen Pfarrer, die der 89er Bürgerbewegung einst Raum und Stimme liehen. Durchaus als politische Helden! Einerseits mag es eine Art Auszeichnung sein, wenn einer von ihnen, der Rostocker Pastor Joachim Gauck, ins hohe Amt der Bundespräsidentschaft gehoben wurde, andererseits zeigt gerade dies, dass die hohe Dynamik besonderen Wirkens nunmehr lediglich als Ornament des längst Vergangenen fortlebt, gänzlich einvernommen von offiziöser Traditionspflege.
Ist es gar so, dass dem evangelischen Pfarrhaus mit dem Ausklingen der Wende und dem Wandel der DDR zum bloßen „Beitrittsgebiet“ der Bundesrepublik kulturgeschichtlich die letzte Stunde schlug? Immerhin sehr hellen Tones, denn die sogenannte Wende wäre ohne Theologen nicht zu denken gewesen, insofern die Theologie das einzige zukräftige Gegengewicht zur herrschenden Ideologie gewesen sein mochte. Beide – Ideologie wie Theologie – erscheinen ihren Ansprüchen nach totalitär, nur war damals erstere tatsächlich politisch allmächtig, die andere machtlos.
Vielleicht endet mit Vollzug der Einheit gar kultur- und alltagsgeschichtlich eine letzte „protestantische“ Wirkung, jene, auf deren kulturgeschichtliche Bedeutung Cord Aschenbrenners im Siedler-Verlag erschienene Monografie verwies: „Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht. Eine Familiengeschichte“. Bei allen historischen und Glaubensverdiensten für Gemeinden und Gesellschaft gehen derzeit kaum mehr Impulse von Pfarrhaus und Kirche aus, die mit den furiosen Ereignissen des Wendeherbstes von 1989 zu vergleichen wären.
Ein tragischer Bedeutungsverlust: Innerhalb der gleichgeschalteten und in sich hermetischen DDR stellten Pfarrhaus und Kirche immerhin ein politisch exterritoriales Gebiet dar. Wer es betrat, befand sich mitten im Land außerhalb der SED-Herrschaft – gewissermaßen in einem Refugium dessen, was Pfarrer Gauck immer noch mit seinem häufig ventilierten und pauschalisierten Lieblingsbegriff der „Freiheit“ zu besetzen versucht. Ganz abgesehen davon, dass er selbst mitnichten zu den wagemutigsten Enthusiasten der „friedlichen Revolution“ gehörte, es jedoch mit großem Geschick und einer Portion Narzissmus verstand, Verdienste der anderen für sich in seiner Rolle als späterer Stasi-Aufklärer und Funktionsträger geltend zu machen – nicht zuletzt in der Weise, aus eigenem Revisionsbedürfnis heraus mittelbar alte Rechnungen zu begleichen.
Aber zurück zur DDR-Kirche: Mehr noch als innerhalb gottesdienstlicher Liturgie fand man sich unterm Dach von Pfarrhaus und Gemeinderaum per se subversiv versammelt, noch bevor der erste kritische Satz ausgesprochen und die erste Flasche bulgarischen Cabernets aufgekorkt war. Dieses Milieu war schon deswegen mit informellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit durchsetzt, weil Kirchenkreise und insbesondere die agile Junge Gemeinde von den Mächtigen als staatsfeindlich und als veritable Widerstandsorganisationen aufgefasst wurden. Und tatsächlich erschien namentlich die evangelisch-lutherische Kirche als einzig bedeutsame Kraft in der DDR, die – im Gegensatz zu ihren äußeren Loyalitätserklärungen – innerlich nie ihren Frieden mit dem atheistischen System der realsozialistischen DDR gemacht hatte. Natürlich nicht!
Schon der Studienwunsch Theologie eines Abiturienten musste den Volksbildungsbehörden als abweichlerisches Bekenntnis, ja als Kampfansage gelten, insbesondere dann, wenn er – wie oft – mit der weitgehenden Wehrdienstverweigerung des „Spaten-Soldaten“ verbunden war. Die theologischen Sektionen an den DDR-Universitäten bildeten zwar traditionell die Pfarrer für die Landeskirchen aus, waren darüber hinaus aber viel bedeutsamer als Konzentrationspunkte von Jungintellektuellen, die nach Alternativen zum DDR-Sozialismus suchten und diesem Bestreben ausschließlich dort, also innerhalb der evangelischen Kirche, nachkommen konnten, vermittelten die Kirchen eben nicht nur Theologisches, sondern zeigten sich weit darüber hinausweisend philosophischen und literarischen Autoren offen, die in der DDR lange Zeit oder gar nicht verlegt wurden.
All die oppositionellen Zirkel und Gesprächskreise innerhalb der zwar kleinen, aber vielfältigen Subkultur der DDR boten nicht die komfortablen Möglichkeiten einer funktionierenden institutionellen Struktur und des damit verbundenen Schutzes wie die alten evangelischen Landeskirchen, die sich in einem ganz ursprünglichen, ja urchristlichen Sinne als Hüterin der „Freiheit der Andersdenkenden“ gerieren konnten, am offensivsten in den Achtzigern, als sie mit der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ eine eigenständige pazifistische Friedensbewegung behausten, die wiederum maßgeblich durch die Junge Gemeinde getragen wurde. Dass die Ost-Kirche zudem vom Westgeld der EKD alimentiert war, kennzeichnete ganz explizit ihre Nähe zur Bundesrepublik, also – in der Wahrnehmung der Staatsorgane – zum „Gegner“ schlechthin. Der Stasi galt sie – in deren Logik folgerichtig – als Diversionsorgan des Westens, als fünfte Kolonne, die es zu observieren und zu bekämpfen galt. Vermutlich gab es für die Stasi gar kein größeres internes Problem als die evangelischen Landeskirchen mit ihrem flächendeckenden Netz. Im Fokus des Argwohns der Stasi zu stehen, das machte der Kirche zwar schwer zu schaffen, verlieh ihr aber die einzigartige und exponierte Bedeutung der maßgeblichen weltanschaulichen Konkurrentin, die sie so vermutlich nie wieder erlangen wird. Kaum eine Institution dürfte seit der sogenannten Wende einen für sich tragischeren Bedeutungsverlust erlitten haben.
Als mit dem Sommer 1989 die dramatischen Wendeereignisse begannen, bot die Kirche eine Struktur an, in der Aktionen vorgedacht und gestaltet wurden. Sie bewies sich als Think Tank und Organisationsraum in einem; nahezu die gesamte Bürgerbewegung ging aus ihr hervor, ganz abgesehen davon, dass die Kirchen zu Beginn der Wende zum Hauptversammlungsort avancierten. Das Kirchenschiff barst beinahe von der Fülle jener, die etwas bewegen und verändern wollten. In jener Zeit der Turbulenzen und Fährnisse manövrierte es gleich einer politischen Arche in schwerer See. Und aus ihren mutigen Steuermännern rekrutierten sich die Neu-Politiker einer vermeintlich neuen Gesellschaft, die es dann aber – Beginn der Tragik – so nicht geben sollte, jedenfalls nicht im Sinne eines dritten Weges, sondern eher mit Tendenz der Restauration westkapitalistischer Verhältnisse im Osten. Als die Lokatoren der Treuhand das Land wie eine Konkursmasse an solvente Eigentümer verteilten, verloren Bürgerbewegung und Kirche so schnell an Bedeutung, wie sie diese kurz davor gewonnen hatten. Dem agilen Kapital hatten sie nichts entgegenzusetzen. Es besorgte letztlich auf ökonomischem Wege jene Säkularisierung, zu der die DDR politisch nie in der Lage war.
In der Weise, wie sich die Kirchen 1989 mit hoher Dynamik hoffnungsschwer gefüllt hatten, leerten sie sich, als die Einheit beschlossene Sache war und in deren Folge Ökonomismus und Konsumismus ihre rein pragmatisch ausgerichtete profane Herrschaft etablierten, die von den Kirchen sogleich beklagt wurde. Super-Markt statt Gottesdienst und Friedensgebet. Was der propagandistische Atheismus der SED-Herrschaft nicht vermocht hatte, das erledigte der neue Hedonismus mit rasanter Gründlichkeit: Die evangelischen Kirchen im Osten verloren mindestens ihre politische Bedeutung. Ihre eindrucksvoll subversive Rolle wurde zwar noch als historisches Verdienst dokumentiert, aber damit Teil geschichtlicher Mythologisierungen; die Kirchen und Pfarrhäuser jedoch gingen in der eher seichten gesamtdeutschen EKD auf, während einige gerade noch politisch reüssierende Pfarrer schließlich auf die parlamentarischen Hinterbänke rückten. Die Kirchen fielen mit wieder ältlichem Gesicht auf die übliche Rolle bürgerlicher Religiosität und Seelsorge zurück und litten überdies an innerkirchlicher Rationalisierung. Beließ selbst der misstrauische DDR-Sozialismus die Kirche noch im Dorf, wurden deren Pfarrbezirke nach 1990 alsbald ausgedehnt, die Pfarrstellen ausgedünnt und die Kirche mindestens im Osten in einen Dämmerzustand versetzt, der jeden engagierten Pastor deprimieren muss, der vor fünfundzwanzig Jahren noch erleben konnte, welche Dynamik seine Kirche erfasste oder gar auslöste. Jetzt predigt er wieder schwindenden Gemeinden und absolviert mehr Begräbnisse als Taufen. Und dabei wird es innerhalb der freiheitlichen Gesellschaft der Konsumenten wohl bleiben. Leere Gotteshäuser können sehr kalt sein. – Mit Gottfried Benn, dem Pfarrersohn und Dichter: „Sela, Psalmenende.“

Hören Sie diesen und andere Beiträge zukünftig auf Radio Wanderbuehne. Informationen dazu finden Sie hier.

⇓ Audio herunterladen