18. Jahrgang | Sonderausgabe | 9. Januar 2015

Editorial

Lieber Tucho …

„Wie mein Nachruf aussehen soll, weiß ich nicht“, hast Du 1927 auf eine entsprechende Rundfrage hin geantwortet. „Ich weiß nur, wie er aussehen wird. Er wird aus einer Silbe bestehen.
Pappa und Mamma sitzen am abgegessenen Abendbrottisch und vertreiben sich ihre Ehe mit Zeitungslektüre. Da hebt Er plötzlich, durch ein Bild von Dolbin erschreckt, den Kopf und sagt: ‚Denk mal, der Theobald Tiger ist gestorben!‘ Und dann wird Sie meinen Nachruf sprechen. Sie sagt:
‚Ach –!‘“
Es mag sein, lieber Tucho, dass der in Deutschland damals wie heute weit verbreitete Typus geistig-kulturell schlichter Ausstattung so auf Deinen Tod reagiert hat. Sofern er am Ende des Jahres 1935 davon überhaupt erfahren haben sollte, dass Du im schwedischen Exil aus dem Leben gegangen bist. Wenn die Presse der gehassten Nazis diesen Tod vermeldet hat, dann als Triumph.
All die vielen anderen aber, die Dich kannten, schätzten und liebten, sind nie mit einem schulterzuckenden „Ach!“ ausgekommen, bis heute nicht. Wer Du der deutschen Literatur und Geisteswelt überhaupt warst, muss der Gemeinde der Blättchen-Leser nicht erklärt werden, sehr Junge unter ihnen mögen diesbezüglich seriöse Quellen zu Rate ziehen.
Anlässlich Deines 125. Geburtstages am 9. Januar 2015 soll Deiner über das hinaus gedacht werden: Dich nämlich mittels Abdrucks einiger Deiner Texte in der Erinnerung dieser Leserschaft zu befestigen. Schwer ist uns die Auswahl dabei lediglich hinsichtlich der Menge infrage kommender Beiträge gefallen, vor allem aus der legendären Weltbühne. Was gültige Zeitbezogenheit für uns Nachgeborene angeht, musste hingegen nie auf längere Suche gegangen werden.
Dafür, dass Du uns so beispielhaft und eben wichtig bist, gibt es einen kurz zu fassenden Grund: Wir sehen in Dir einen Bruder im Geiste. Ich weiß, das mag anmaßend klingen, und das ist es für jemanden, der journalistisch-publizistisch mehrere Ligen tiefer spielt als Du, auch. Definiert man Deine Geisteshaltung aber in ihrem Kern als die eines kämpferischen Humanisten, der die Menschen liebte, auch wenn er zuletzt an ihnen verzweifelte, dann sei die Überhebung vielleicht entschuldbar. Sich wenigstens in Deinen Schatten und den Deiner geistesverwandten Zeitgenossen zu stellen – nicht mehr, aber auch nicht weniger – war und ist unser Anspruch. Inwieweit uns das gelingt, fällt dem Urteil der Leser anheim; Dich können wir dabei ja leider nicht mehr zu Rate ziehen.
Was Deine geistige Unabhängigkeit betrifft, so haben nicht wenige Macher und Leser des Blättchens, die ostelbisch sozialisiert worden sind, des längeren die Erfahrung machen müssen, nur bedingt sie selbst sein zu können, zumindest sofern es sich um veröffentlichte Geisteshaltungen handelte. Haben wir doch in jenem „Sozialismus“ gelebt, über den Du Dir schon lange vorher sicher warst, dass er erst siegen könne, wenn es ihn nicht mehr gibt. Obwohl die siebenbändige DDR-Edition Deiner Werke in summa sehr verdienstvoll zu nennen ist, hat uns erst der geöffnete Büchermarkt der Nachwende auch das zugänglich gemacht, was zuvor durch das Sieb der Zensur oder vorauseilender Weglassung gefallen war. Wobei: Seinerzeit eher „dissidentisch“ zu lesende Texte wie Blick in ferne Zukunft von 1930 oder Dein vom bevorstehenden Ende gezeichneter Brief an Arnold Zweig waren auch vorher schon zu lesen – ohne dass man allerdings auf sie aufmerksam gemacht worden wäre.
Was mich betrifft, so bin ich auf Dich im zarten Jungmannesalter gestoßen. Deine Romane Gripsholm und Rheinsberg verzückten meine gerade romantisch eingefärbte Seele. Per Anschaffung besagter Volk-und-Welt-Edition habe ich mich dann weiter „in Dich“ hineingelesen – und in Dich verliebt. Eine Zuneigung, die sich später noch gesteigert hat, als ich Michael Hepps biografische Annäherung las, die Dich als viel mehr als „nur“ wunderbaren Autor wunderbarer Texte offenbarte, sondern auch als „Ritter mit Fehl und Tadel“ – mit all Deinen Zweifeln, Widersprüchen und auch Opportunismen, als einen Menschen also und nicht als einen Heiligen, weder in politischer noch allzu menschlicher Hinsicht. Wenn es der Vollendung meiner Zuneigung zu Dir bedurft hätte – das war sie; mein Bedarf an „anempfohlenen Helden“ war gedeckt. Dass auch Du bei aller Standhaftigkeit Deines unabhängigen Denkens und schriftstellerischen Wirkens nicht zum Glaubens-Denkmal taugst, hat Dich mir näher gebracht als schon zuvor.

Lieber Tucho,
so, wie an dieser Stelle Dein Leben und Dein Werk nicht referiert werden, so soll auch mein Hofknicks vor Dir hiermit sein höchst unvollständiges Bewenden haben. Wer mehr darüber wissen will, dem steht bibliophil nicht zuletzt all das zur Verfügung, was vor allem Fritz J. Raddatz als langjähriger Vorsitzender der Tucholsky-Stiftung getan hat, um Dein An-Denken wenigstens im intellektuellen Lager der Nachgeborenen zu verankern.
Ein Hut, wie Du ihn, dem Geschmack Deiner Zeit folgend, gern und oft trugst, und den wir allzu gern nun vor Dir ziehen würden, ist heute unüblich geworden, wir müssen diesbezüglich leider passen. Gleichwertig verbleibt uns eine Verbeugung vor Dir, Peter Panter, Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Kaspar Hauser, die nicht zuletzt in dieser Sonderausgabe ihren festgeschriebenen Ausdruck finden soll. Unser Opus ist unvollständig, aber ja; was die Zahl der infrage kommenden Laudatoren angeht, und was Dein Werk betrifft, sowieso. Aber es ist aufrichtig und von einer verinnerlichten Treue zu Dir für das gespeist, was jene Inschrift ausdrückt, die Du für Dein Grab einst selbst vorgeschlagen hattest: „Hier ruht ein goldenes Herz und eine eiserne Schnauze – Gute Nacht.“
Dass wir für uns hoffen, nicht jener Resignation zu erliegen, derentwegen Du Dein Leben beendet hast, sei aber angemerkt. Die Verhältnisse hier und heute sind ja nicht so fürchterlich wie in den Zeiten Deiner letzten Lebensjahre, obwohl …
Im Folgenden erweisen Dir – einmal mehr – die Ehre:

Fritz J. Raddatz, Essayist, Biograph, Romancier, Feuilletonist, Literaturkritiker, gemeinsam mit Mary Gerold-Tucholsky Gründer der Kurt-Tucholsky-Stiftung, die bis 2005 die Urheberrechte Kurt Tucholskys verwaltete und bis heute Stipendien an junge Wissenschaftler vergibt. Fritz J. Raddatz ist Autor mehrerer Bücher und Essays über Dich. Zuletzt erschien von ihm im Herder-Verlag „Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme“.
Daniela Dahn, Publizistin und Schriftstellerin, Mitherausgeberin von Ossietzky, Tucholsky-Preisträgerin 1999.
Heribert Prantl, Jurist, Journalist, Autor, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, Tucholsky-Preisträger 1996.
Georg Schramm, Kabarettist und Autor.
Konstantin Wecker, Musiker, Liedermacher, Schauspieler, Autor, Tucholsky-Preisträger 1995.
Uwe Steimle, Kabarettist, Schauspieler, Autor.

PS: Lieber Tucho, dass ich Dich in dieser bescheidenen Hommage geduzt habe, ist sicher unstatthaft, nicht zuletzt, weil es den Eindruck einer auf Anbiederung hinauslaufenden Hingezogenheit erwecken kann. An der ist mir nicht gelegen. Indes: Ich lasse das Du im Text stehen und entschuldige mich dafür lieber in diesem Postscriptum.

Heinz Jakubowski