von Heribert Prantl
Soeben habe ich meine Rede noch einmal nachgelesen, die ich 1996 gehalten habe, als ich mit dem „Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik“ ausgezeichnet wurde. Sie begann mit einem der Tucholsky-Sätze, die sich mir mindestens so eingeprägt haben wie die Texte der Songs von Uriah Heep. „Politik kann man in diesem Land definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung“. Der Satz aus dem Jahr 1919, so sagte ich damals, das war 1996, sei so pointiert präzise, dass er „heute“ noch träfe.
Dieses „heute“ ist nun schon fast zwanzig Jahre her, damals regierte noch Helmut Kohl. Als dann der Sozialdemokrat Gerhard Schröder Bundeskanzler war, konnte man den Tucholsky-Satz über Wirtschaft und Politik zehnmal unterstreichen. Man hätte ihn als Motto an Schröders Kanzleramt malen können. Das ist das Verblüffende und Erstaunliche, das Spannende an Kurt Tucholsky: seine gnadenlose Aktualität in Inhalt und Sprache: Da hat einer vor acht, neun Jahrzehnten, also vor journalistischen Ewigkeiten, die Tagespolitik durchdrungen und ist auf den Grund der Dinge vorgedrungen. Und wenn Politik und Justiz bis in die jüngste Zeit außer sich geraten wegen dreier Wörter von Tucholsky, dann zeigt das, wie sehr er den Nerv getroffen hat: „Soldaten sind Mörder“. Das war und ist der Aufschrei des Pazifisten gegen den Krieg, eine Anklage gegen die Brutalität und deren organisierte Form, den Militarismus. Und wenn es sich heute keiner mehr zu schreien traut, weil wieder so viel von „Verantwortung“ die Rede ist, die von deutschen Soldaten eingelöst werden müsse, dann hallt der alte Ruf Tucholskys durch die Jahrhunderte ins Heute: Soldaten sind Mörder.
Tucholsky war hellsichtig, er war ein Prophet, er hat das bevorstehende Unglück eines Landes, das sich bald daran gewöhnen würde, seine Bücher zu verbrennen, hellsichtig beschrieben, er hat die Katastrophe geahnt, gerochen und sie immer verzweifelter abzuwehren versucht. Er war ein Kämpfer mit der Schreibmaschine, er hat politisiert, als ginge es um sein Leben. Und genau so war es. Er war ein Publizist mit Geist, Herz und Seele, er hat sich eingemischt, er hat es mit allen ihm schreiberisch zur Verfügung stehenden Mitteln getan: zuspitzend, pointiert, provokant. Er hat sich multipliziert um seine Wirkung zu potenzieren, er war Kaspar Hauser, Theobald Tiger, Peter Panther, Ignaz Wrobel – er war Kaspar Theobald Peter Ignaz Kurt Tucholsky. Er war ungeheuer fleißig – nicht weil er ein Streber war, sondern weil er eine Aufgabe hatte. Er wollte eine Katastrophe aufhalten. Er hat es nicht geschafft. Aber er hat es versucht. Und dieser Versuch gehört zu dem Endrucksvollsten, was der Journalismus im 20. Jahrhundert geleistet hat.
Der Politologe Kurt Sontheimer hat Tucholsky „Destruktivität“ vorgeworfen. Er habe die Weimarer Republik so ätzend kritisiert, dass er in deren Untergang und im Scheitern des deutschen Parlamentarismus der Zwischenkriegszeit eine gewisse Rolle spiele. Gewiss hat Tucholsky auch Fehler gedacht und Fehler gemacht. Aber die Destruktivität, die Sontheimer ihm vorwarf, war mitnichten destruktiv. Sie war der immer verzweifeltere Versuch, die Weimarer Republik Konstruktivität zu lehren. Gordon A. Craig, der britische Historiker, hat geschrieben, der linken Intelligenz der Weimarer Republik habe das „notwendige politische Augenmaß“ gefehlt. Ja – das Maß der Ideale und der Sehnsüchte Tucholskys war vielleicht das Maß von Utopia. Es ist ein gutes Maß.
Er war brillant. Er war so brillant, dass man sich fürchten kann. Und er war so hellsichtig, dass man verzweifeln kann. Wenn selbst so einer die Katastrophe nicht abwenden konnte … Er hat es versucht. Er hat gezeigt, dass man es versuchen muss. Und daher ist er ein Vorbild auch und gerade in Zeiten, die lang nicht so schwierig sind wie seine es waren. Er war ein großer Journalist, ein Großjournalist – aber kein Großkotz. Das ist das ganz besonders Vorbildhafte an ihm.
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Schlagwörter: Frieden, Heribert Prantl, Journalismus, Krieg, Kurt Tucholsky, Weimarer Republik