17. Jahrgang | Nummer 21 | 13. Oktober 2014

Sanktionen – eine russische Sicht

von Valentin P. Fedorow

Schon die Gestaltung friedlicher internationaler Beziehungen,
mehr aber noch die Vermeidung und schon gar die Lösung
von zwischenstaatlichen Konflikten haben zur Voraussetzung,
dass die beteiligten Akteure gegenseitig die jeweilige Sicht
der anderen Seite auf bestehende Probleme zur Kenntnis nehmen.
Was nicht mit Tolerierung oder gar Akzeptanz
gegensätzlicher Auffassungen gleichzusetzen ist.
Aber auch für die Lösung der Ukraine-Krise gilt:
„It takes two to tango.“
Die Redaktion

 

In diesem Jahr verschärften sich die Beziehungen zwischen Russland und der EU, was sich insbesondere in der Verhängung von Sanktionen gegen unser Land zeigte, nicht zuletzt unter dem Druck der USA. Als Antwort führte auch Russland Sanktionen ein. Damit wurden die in Jahrzehnten erreichten ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und anderen gegenseitige Verbindungen bedroht. Als Anlass für diese Entwicklung dienten der EU die ukrainischen Ereignisse, bei deren Einschätzung sich die Meinungen der Seiten erheblich unterscheiden. Es bildete sich eine außerordentlich schwierige internationale Lage heraus, die eine eingehende Interpretation verlangt.

I

Die Anfangsetappe der Selbstauflösung der Sowjetunion verlief ohne großes Blutvergießen. Allerdings führte die weitere Entwicklung der Ereignisse zu bedeutenden Opfern. Erinnert sei hier an die kriegerischen Handlungen Georgiens 2008. Die damalige georgische Führung hielt den Zerfall der UdSSR für eine normale Sache, konnte oder wollte aber nicht verstehen, dass Georgien ebenfalls zerbrechen könnte.
Ihr Blitzkrieg scheiterte. Darunter litt Südossetien erheblich. Auch viele Soldaten der russischen Friedenstruppe starben, weil die russische Truppenführung das Syndrom „22. Juni 1941“ empfand (auf mögliche Provokationen nicht antworten und ein halber Tag Untätigkeit von unserer Seite). Noch ist nicht gewiss, wie die gegenwärtige brüchige Waffenruhe dort enden wird. Es handelt sich um die Lage, die sich im Kaukasus im Zusammenhang mit der Abspaltung Südossetiens und Abchasiens herausgebildet hat.
Die nächste blutige Etappe erleben wir jetzt in der Ukraine. Die Krim schied freiwillig aus deren Bestand aus und kehrte genauso freiwillig zu Russland zurück. In den südöstlichen Gebieten des Landes findet ein Bürgerkrieg statt. Die Mentalität der EU ist bezeichnend: Die Sowjetunion verschwand, man applaudierte, aber zur Integrität der Ukraine bestehe gar keine Beziehung. Gibt es aber. Wodurch ist denn die Ukraine besser oder schlechter als die Sowjetunion? Wie in ihr wurden in der Ukraine die dort lebenden Völker gewaltsam vereint. Jetzt wurde die historische Ungerechtigkeit beseitigt – die Kontrolle der Ukraine über die Krim. Beachtenswert ist hier die Position des Altkanzlers der BRD, Helmut Schmidt, der erklärte, er würde Putins Vorgehen verstehen.
Die Behauptung von einer noch nicht vollendeten ukrainischen Nation ist sehr befremdlich. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieses Volk seine Identität verteidigt, seine Kultur, Sprache und geistige Einheit bewahrt, ungeachtet der Versuche der zaristischen Verwaltung, die Ukrainer in Russen zu verwandeln. So beinhaltete der Erlass Alexanders II. von 1876 beträchtliche Begrenzungen und Verbote hinsichtlich der Nutzung der ukrainischen Sprache und Literatur.
In der postsowjetischen Ukraine war das Gegenteil zu beobachten, nämlich das Bestreben, die Russen in Ukrainer zu verwandeln. In beiden Fällen war die Politik nicht richtig, was auch einer der Faktoren des schweren inneren Konfliktes von 2014 war.
Die komplizierten gegenseitigen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern beschrieb der ehemalige Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, in seinem inhaltsreichen Buch „Die Ukraine ist nicht Russland“: „Ich versuche zu erklären, dass Russen und Ukrainer zwei separate und in Vielem unähnliche Nationen sind, jede mit ihrer Kultur, zwar mit verwandten, jedoch deutlich unterschiedlichen Sprachen. Die Ukraine hat eine ernste Vergangenheit und, da bin ich mir sicher, eine Zukunft. Eine eigene Zukunft.“ Das Buch ist im wohlwollenden Geist geschrieben und kann als Handbuch für diejenigen dienen, die sich für das Thema interessieren.
Der Übergang der Halbinsel Krim in den Bestand des russischen Staates verhinderte, dass sie in den Bereich der NATO geriet. In der westlichen Welt reagierte man natürlich negativ. Innerhalb kürzester Zeit wurde ein alter Traum der Russen und der Einwohner der Krim verwirklicht. Wenige Tage waren nötig, um alle Vorbereitungen für die Lösung einer äußerst komplizierten Aufgabe zu treffen: Erklärung der Unabhängigkeit der Halbinsel, Ausscheiden aus der Ukraine und Aufnahme in die Russische Föderation. Zu vermerken ist auch die von russischen Experten (vor dem Referendum) durchgeführte heimliche Befragung der Bürger der Krim, welche den unerschütterlichen Wunsch bestätigte, nach Russland zurückzukehren. Der Westen wurde überrascht, was seinen Ärger über das Vorgefallene verstärkte. Es gab keine militärischen Aktionen, keine Proteste der Bevölkerung. Woher auch, wenn beim Referendum 97 Prozent für den Übertritt zu Russland stimmten. Ein ähnliches Ergebnis war in Sewastopol zu verzeichnen. Im Falle des Kosovo, der in diesem Zusammenhang oft genannt wird, gab es mehr als zehn Jahre gewaltsame Aktionen, eine große Anzahl von Opfern und Verlusten. Im Unterschied zur Krim ist jedoch das Kosovo-Problem bis heute nicht gelöst. Der Fall der Krim wird in die Geschichte als Beispiel politischer Kunst eingehen.
Die Gesundung der Lage auf der Krim förderte der Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation über Maßnahmen zur Rehabilitierung der armenischen, bulgarischen, griechischen, krimtatarischen und deutschen Bevölkerung und über die staatliche Unterstützung ihrer Wiederaufrichtung und Entwicklung, der am 21. April 2014 unterschrieben wurde.

Die auf den Zerfall der Sowjetunion folgenden Jahre zeigten, dass, zu allem Übrigen, der Zerfall übermäßig war, das heißt, es zerfiel mehr, als zerfallen konnte. Das mag merkwürdig klingen. Dazu einige Beweise. Erstens denken die Einwohner einer Reihe früherer sowjetischer Republiken, die selbständige Staaten wurden, nostalgisch an das damalige gemeinsame Vaterland. Solche Gefühle teilen natürlich nicht alle Bürger, aber, wie Umfragen zeigen ist ihr Anteil ist in einigen Regionen erheblich hoch. Zweitens beschränkt sich die Sache nicht auf die Trauer über das Vergangene. Der aufständische Süden und Osten der Ukraine wurde das Opfer des unkontrollierten Scheiterns der Sowjetunion. Mit den Waffen in der Hand und mit dem Wunsch nach Hause, nach Russland zurückzukehren, ist man bestrebt, noch einen geopolitischen Fehler zu berichtigen, das heißt, die Einbeziehung der Territorien in die sowjetische Ukraine.
Wenn das so ist, wie kann man dann aber dem heutigen Russland irgendwelche aggressiven Absichten oder Handlungen unterstellen? Es tritt nicht als Initiator der Regeneration auf, sondern vielmehr die abgetrennten Teile eines einstmals einheitlichen Ganzen. Nicht Russland bricht den Status quo in Europa, sondern die Subjekte, mit denen man nicht gerecht beim Zerfall der UdSSR umging.
Zur Zukunft der Ukraine gibt es verschiedene Vorstellungen, darunter auch eine über ihre territoriale Spaltung. Argumentiert wird folgendermaßen: Weil die Ukraine niemals auf den Anspruch auf die Krim verzichten und kein freundschaftlicher Staat wird, woran auch russischen Geschenke nichts ändern werden, bestehen die Interessen Russlands darin, diese Spaltung nicht zu verhindern.
Niemand kann sich dafür verbürgen, dass es nicht zu neuen Phasen des Bruches des Organismus’ kommt, der die große Bezeichnung UdSSR trug. Die Ereignisse in der Ukraine dienen entweder als Warnung oder als Omen für andere Regionen, sowohl außerhalb der Russischen Föderation (die früheren sowjetischen Republiken) als auch in ihr. Warum innerhalb der Föderation? Weil Russland auch ein multiethnischer Staat ist, mit allen Gefahren, die einer Konstruktion solchen Typs eigen sind. Die Unveränderlichkeit der Grenzen zählt nicht zu den unabdingbaren Zügen der politischen Weltkarte. Mit Talleyrands Worten: Solche Veränderungen sind nur eine Frage des Datums.
Der Kollaps der Sowjetunion schuf die Bedingungen für eine friedliche territoriale Aufteilung und eine staatliche Trennung der dort lebenden Nationen. Moskau entließ seine Unionsrepubliken in die Freiheit. Damit bekam jede Nation die Möglichkeit der Satisfaktion, das heißt der Beseitigung möglicher Übergriffe und Ungerechtigkeiten von Seiten des „Reiches des Bösen“ (Ronald Reagan), falls solche stattgefunden hatten.
Eigentlich hätte die EU die natürlichen Bestrebungen der „befreiten“ Völker begrüßen müssen, nämlich ihre freie Wahl mit wem und wie sie weiter leben wollen. Allerdings legt sie in Bezug auf Georgien wie auch die Ukraine Wert auf den früheren Status quo, auf das Einfrieren der damaligen staatlichen Zugehörigkeit der Menschen. Merkwürdigerweise wird sie damit zum Bewahrer des sowjetischen Überbleibsels und zum Bremser auf dem Weg der Willensäußerung des Volkes. Wenn Russland aber damit nicht einverstanden ist, wird es mit Sanktionen belegt. Stellt sich die Frage, wer der Erbe Lenins und Stalins in der nationalen Frage ist?
Als Nachfolger der der Sowjetunion verhielt sich das neue Russland positiv gegenüber den nationalen Bestrebungen der verschiedenen Völker auf seinem Territorium, ungeachtet der offensichtlichen Übertreibungen auf diesem Gebiet. In Gebrauch kam damals der Ausdruck „Parade der Souveränitäten“. Trotz allem wurden die in dieser schwierigen Periode entstandenen Probleme auf der Basis gegenseitigen Einvernehmens gelöst, darunter auch in Tschetschenien.
Das politische System der Ukraine zeigte seine Schwächen. Gemäß Verfassung war die Krim autonom, was sie aber Kiew nicht angenähert hat, das am Ende seine „Perle“ verlor. In dieser Zeit erwies sich die Einheit der übrigen Ukraine als Schimäre, sodass der Südosten dagegen auftrat und seine territoriale Abtrennung forderte.

Ein multinationales Land ist schwerer zu regieren als ein mononationales, die Gefahr des Zerfalls ist dort um ein Vielfaches höher, was der Fall der Sowjetunion zeigte. Aber das erkannten viele nicht, die nötigen Lehren wurden nicht gezogen. Am Beispiel der Ukraine tritt das nun wieder zutage. Dort treffen jetzt zwei Grundprinzipien aufeinander – das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung bis hin zur Abtrennung und die Integrität des Staates beziehungsweise die Unverletzlichkeit der Grenzen. Man kann nicht voraussagen welches Prinzip gewinnen wird.

II

Die Erfahrung lehrt, dass die Folgen von Sanktionen nicht immer dieselben sind. Falls ihr Objekt ein kleiner Staat ist, können die Folgen für ihn natürlich sehr schwer sein. Bei anderen Staaten ist das Bild schon komplizierter. Die Kontinentalsperre Napoleons gegen England brachte ihm nicht die gewünschten Ergebnisse, förderte aber dort die nationale Produktion.
Schaut man sich die heutige Wirtschaft an, so wird das noch interessanter. Bekanntlich führt Deutschland traditionell viel mehr Waren aus als es importiert, womit es seinen Handelspartnern „Brot wegnimmt“. Das führt dort zu großer Unzufriedenheit und mitunter zur scharfen Kritik seiner Außenhandelsstrategie. Ja, man ruft es auf, entweder den Umfang der Exporte zu reduzieren oder die Importe zu erhöhen und eine sechsprozentige Barriere nicht zu überschreiten, also den Überhang der Exporte über die Importe im Bruttoinlandsprodukt abzubauen. Um die wirtschaftliche Außenexpansion zu begrenzen, schlägt man Deutschland vor, Ressourcen auf den inneren Markt und seine Erweiterung zu richten, das heißt im „guten Sinne“ eine Art Strafsanktionen gegenüber dem eigenen Export einzuführen. So betrug 2013 die genannte Kennziffer 7,2 Prozent. Die betroffenen Partner der Bundesrepublik verweisen darauf, dass die hohe internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Waren insbesondere durch eine Zurückhaltung beim Wachstum des Arbeitslohns und die Reformen des Kanzlers Gerhard Schröder auf Basis der Agenda 2010 erreicht wurde.
In der BRD finden solche Forderungen der Verbündeten eine geharnischte Aufnahme, sie lässt sich von ihren eigenen Interessen leiten. Solche nachdrücklichen Forderungen richten die Europäer auch an China.
Was folgt daraus? Wir wollen jetzt nicht beim Bumerang-Effekt bleiben. Die Sanktionen gegen Russland geben ihm Anlass, die eigene Politik teilweise zu überdenken, insbesondere der inneren wirtschaftlichen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es geht um die Notwendigkeit eines richtigen Kurses. Russland zwang 2008 Georgien zum Frieden, aber jetzt zwingt man uns zur Umorientierung unserer Politik zu Gunsten der inneren Entwicklung. Der Gerechtigkeit halber ist festzustellen, dass unsere Wirtschaftswissenschaft die Regierung schon lange vor den ukrainischen Ereignissen aufrief, die innere Nachfrage zu entwickeln. Bei uns wurde in ganzen Regionen unzureichend investiert, wie auch in Bereichen der Wirtschaft, der sozialen und produktiven Infrastruktur und so weiter. In allen entsprechenden Lehrbüchern steht der Grundsatz: Wenn schon kämpfen, dann auf fremdem Territorium, aber gut organisieren muss man sein eigenes.
Ein erster positiver Schritt im Gefolge der ukrainischen Ereignissen war die Ankündigung von russischer Seite, die Schaffung eines nationalen Zahlungssystems zu beschleunigen. Die vorrangige Orientierung auf die Nutzung der Plastikkarten VISA und MasterCard, deren Zentralen sich in New York befinden, zeigte erneut, dass es nicht günstig ist, wenn unser Finanzsystem von äußeren Faktoren abhängt. Obwohl die Idee eines eigenen Zahlungssystems nicht neu ist, unternahmen Wirtschaft und Politik keine entscheidenden Schritte in diese Richtung.
Die amerikanischen Repressalien trafen die Bank „Rossija“, die sich als Antwort darauf vollständig auf den inneren Markt umorientierte und bei Rechnungen ausschließlich Rubel nutzt. Die Sanktionen zwangen die Regierung zur Lösung der offensichtlichen Aufgabe, im militärisch-industriellen Komplex Importe zu ersetzen, um von niemandem bei der Umrüstung von Armee und Flotte abhängig zu sein.
Kein Land kann alles selbst machen, sich in allen Branchen und Phasen an der Schaffung des Bruttoprodukts beteiligen. Zugleich kann die übermäßige Begeisterung für die Globalisierung, gefördert auch durch die Expertenwelt, negative Folgen für die souveräne Politik einzelner Staaten haben. Dieser Aspekt der Überschätzung des Globalen im Vergleich zum Nationalen ist besonders wichtig für Russland. Man darf keine unnötige Abhängigkeit vom Ausland zum Schaden der eigenen Interessen zulassen. Russland muss immer bereit sein, dem Westen auf den verschiedensten Gebieten zu widerstehen, seien es Antiraketensysteme in Europa, die Arktis oder die ukrainischen Ereignisse. Wie die Erfahrung zeigt, einigen den Westen Differenzen mit Russland, was uns aber nicht desorientieren sollte. Nicht alles, was vom Gesichtspunkt der internationalen Arbeitsteilung ökonomisch günstig ist muss auch nutzbar sein. Entscheidend für die Auswahl ist die Sicherheit des Staates.
In den Ländern, die ökonomische Sanktionen betreiben, erleiden vor allem große und kleine Unternehmen Verluste. Letztere sind oft Lieferanten großer Firmen. Obwohl sie sich kritisch zu den Sanktionen äußern, sind die Wirtschaftskapitäne zugleich gezwungen, der Regierung nachzugeben und damit die Priorität der Politik vor der Wirtschaft anzuerkennen. In jedem Land ist ein Streit mit der Regierung immer teuer. Die Nichtbeachtung staatlicher Sanktionen durch die Wirtschaft kann zu großen Unannehmlichkeiten führen, bis hin zur Strafverfolgung. Allerdings ist die Beziehung zwischen Business und Macht keine Einbahnstraße. Die Wirtschaft stellt sich die Frage, was das für eine Politik ist, wegen der man die Früchte langjähriger Arbeit zur Anbahnung einer vorteilhaften zwischenstaatlichen Kooperation opfern soll. Vielleicht sind personelle oder parteimäßige Änderungen angebracht? So wird jedenfalls gedacht.
Gleichzeitig erfordern die westlichen Wirtschaftssanktionen eine gewisse Verstärkung der so genannten mobilisierenden Steuerung in Russland (der Staat konzentriert alle vorhandenen Ressourcen in seinen Händen und lenkt die wirtschaftlichen Prozesse) zum Nachteil der marktwirtschaftlichen, das heißt, der Raum für die Durchführung ökonomischer Reformen wird eingeengt, was wiederum Kritik von Seiten des Westens hervorruft. Bei der mobilisierenden Steuerung hält der Staat die Funktionen aufrecht, die das Privatkapital ausführen kann, oder vergrößert sie sogar.
Die derzeit vor sich gehende Wendung Russlands nach Osten bedeutet eine gewisse geopolitische Schwächung Europas, was dieses bald spüren wird. Eine Umorientierung der Politik und der Lieferungen von Naturressourcen zugunsten von Europa weit entfernter Staaten ist unumgänglich. Als selbständige Großmacht kann es sich Russland gemeinsam mit seinen Unternehmen erlauben, sich von der früheren Anhänglichkeit an Europa zu entfernen, während dieses in größerem Maße als bisher um russische Aufträge mit östlichen Teilnehmern des Weltmarktes konkurrieren muss. Die Lage des Landes auf zwei Kontinenten sowie seine arktischen Räume sind eine riesige und in Vielem noch nicht genutzte Chance für Russland. Dabei tritt es hier nicht als einfache Brücke zwischen Europa und Asien auf (auf einer Brücke kann man nichts Substanzielles bauen), auch nicht als Verbindung zwischen ihnen, sondern als selbständige Zivilisation, die niemanden kopieren muss.
Die verringerte Bedeutung Europas in der russischen Wirklichkeit muss nicht uns beunruhigen, sondern Europa. In der Retrospektive wird es entdecken, dass es unverdient die große Aufmerksamkeit Russlands genossen hat. Europa fürchtete immer Russland, hat aber selbst als erster Russland überfallen und ihm gewaltigen demografischen und materiellen Schaden zugefügt (die polnisch-schwedische Intervention in der Zeit der Wirren, Poltawa, Napoleon, Hitler). Von den 48 Heldenstädten und Städten des kriegerischen Ruhms befindet sich die überwiegende Mehrheit im europäischen Teil Russlands.
Ein sehr wichtiges Moment bei der Wende Russlands nach Osten war der Besuch von Präsident Wladimir Putin in China im Mai 2014, bei dem 51 Abkommen über die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten unterschrieben wurden. Besonders bedeutsam ist der Vertrag über Gaslieferungen, der sich auf 30 Jahre erstreckt und nach seinen Kennziffern kein Beispiel hat in der extraktiven Industrie der Russischen Föderation und der UdSSR. Sein Gesamtwert erreicht 400 Milliarden Dollar bei einem Jahresumfang von 38 Milliarden Kubikmetern. Gleichzeitig haben die Seiten den künftigen Bau einer weiteren Gaspipeline vereinbart, die auch beeindruckende technische und finanzielle Merkmale aufweist.

*

Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist kein „Ende der Geschichte“ eingetreten. Einige Staaten haben den Test in Bezug auf Friedensliebe und gute Nachbarschaft nicht bestanden. Die Probleme sind nicht weniger geworden. Die ukrainischen Ereignisse haben die Welt an den Rand eines Kalten Krieges gebracht. Notwendig ist eine maximale Mobilisierung politischer und diplomatischer Bemühungen mit dem Ziel, die äußerst gefährliche Situation würdig zu lösen, die Konfrontation nicht anzuheizen und die Verhandlungen miteinander nicht zu verringern. Ungeachtet der substanziellen inneren Probleme verfügt die EU über ein bedeutendes Potenzial für die Lösung internationaler Konflikte, insbesondere in Europa. Allerdings haben sich dem Neuen Denken nicht alle angeschlossen, obwohl es auf der Expertenebene in den westlichen Staaten schon weit verbreitet ist, nämlich der Gedanke, dass man Sicherheit nicht im Kampf gegen den anderen erreichen kann, sondern nur gemeinsam. Diese Wahrheit bedarf aber ihrer Umsetzung.

Übersetzung: Hubert Thielicke

Prof. Dr. Valentin P. Fedorow ist stellvertretender Direktor des Europa-Institutes der Russischen Akademie der Wissenschaften.