16. Jahrgang | Sonderausgabe | 16. Dezember 2013

Editorial

von Gabriele Muthesius


[…] es gab niemals ein größeres, ein länger und besser vorberei­tetes
und trotzdem weniger vorhergesehenes Ereignis.
Selbst Friedrich der Große, bei all seinem Genie,
ahnte sie nicht voraus.

Alexis de Tocqueville
über die Französische Revolution

Es sind immer gefährliche Zeiten,
wo der Mensch lebendig erkennt,
wie wichtig er ist und was er vermag.

Georg Christoph Lichtenberg

[…] Gottseidank denken wir nicht über alles gleich,
das wäre ja fürchterlich.

Kurt Tucholsky

„Es sieht so aus, als […] hätten wir es tatsächlich mit einer Krise des Systems zu tun und nicht etwa nur mit einem Fehler im System“, bemerkt Egon Bahr in seinen 2013 erschienenen „Erinnerungen an Willy Brandt“ zur aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. So recht verwunderlich ist es daher nicht, dass die Kapitalismus-Kritik mittlerweile auch im Herzen des bürgerlichen Lagers angekommen ist. Exemplarisch dafür waren und sind solche Beiträge wie Charles Moores „I’m starting to think that the Left might actually be right“ im britischen Telegraph und dessen „Fortsetzung“ in der FAZ durch Frank Schirrmacher.
Auch konkrete Therapieansätze gibt es nicht wenige – in diesem Magazin unter anderem vorgetragen durch Sahra Wagenknecht und Heiner Flassbeck. Bei der Frage allerdings, wie beziehungsweise durch wen, durch welche Kräfte entsprechende gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden sollen, verlieren sich selbst professionelle marxistische Kritiker in wenig substanziellen Allgemeinplätzen. Sahra Wagenknecht etwa meinte: „Für Europa kann ich mir vorstellen, dass grundlegende gesellschaftliche Veränderungen mit einer breiten außerparlamentarischen Opposition, mit einer starken Streikbewegung und entsprechenden Wahlergebnissen durchsetzbar sind.“ Wo diese Trinität aus APO, Streiks und Wahlergebnissen herkommen soll? Sendepause …
Das soll hier nur konstatiert und insofern nicht kritisiert werden, als Das Blättchen leider auch keine wohlfeilen Rezepte parat hat. Allerdings sind die Redaktion und einige Autoren bei ihrer Suche nach Antworten auf diese und andere Fragen auf einige historische Texte gestoßen, deren Wiederlesen im Rahmen der gegenwärtigen Debatte sowohl weitere Fragen aufgeworfen, als auch das Weiterdenken in dieser und jener Richtung angeregt hat. Eine dieser Fragen zielt darauf, ob die in den westlichen Ländern derzeit dominierende repräsentantive parlamentarische Demokratie überhaupt geeignete Voraussetzungen und Instrumente bereit hält, um nachhaltige gesamtgesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

Exkurs – An dieser Stelle sei an ein Diktum Lenis erinnert, der in „Staat und Revolution“ vermerkte: „Die demokratische Republik ist die denk­bar beste politische Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht derart zuver­lässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Per­sonen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.“
Und ebenfalls an dieser Stelle eine historische Abschweifung: Der Begriff Demokratie erfüllte schon „von Geburt an“ auch den Tatbestand des Euphemismus, insoweit er als Herrschaft des Volkes übersetzt oder besser missverstanden wurde. Auf der Agora von Athen war Demokratie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zweifelsohne ein historischer Fortschritt gegenüber der bis dato herrschenden Tyrannis, nur – eine Herrschaft des Volkes war sie mitnichten. Zugelassen zum Ostrakismos, dem so genannten Scherbengericht, mit dem die maßgeblichen Fragen der Staatspolitik entschieden wurden, waren lediglich freie erwachsene männliche Bürger – keine Frauen, keine Metöken (Bewohner Athens auswärtiger Herkunft) und Sklaven schon gar nicht. Demokratie an ihrem Ursprung war insofern die Herrschaft einer eher geringen Minderheit über die übergroße Mehrheit.

Einige historische Texte sollen nachfolgend – auszugsweise oder komplett – zur Verfügung gestellt werden. Dass diese Zusammenstellung einerseits Stückwerk und höchst eklektizistisch ist, wird dabei ohne Schamesröte ebenso eingestanden wie ihre teilweise Widersprüchlichkeit. Hinzu kommt: Auf die Anregung beispielsweise, Machiavellis Schrift „Il Principe“ mal ganz anders als auf die vorherrschende Weise und vor allem im Zusammenhang mit den „Discorsi“ aus der Feder desselben Autors zu lesen, wurden wir erst zu einem Zeitpunkt hingewiesen, als die Arbeiten an dieser Sonderausgabe so gut wie abgeschlossen waren und ihr Inhalt nicht noch umfangreicher werden sollte. Anderseits waren es bei Schriften von Autoren aus dem 20. Jahrhundert wie etwa José Ortega y Gasset („Der Aufstand der Massen“) nicht zuletzt auch Fragen des Urheberrechts, die uns veranlassten, auf eine selbst auszugsweise Übernahme in diese Sonderausgabe zu verzichten. Aber es ist ja jedem Interessierten unbenommen, selbst weiter zu suchen in den schier unendlichen Jagdgründen des Internets …
Und es muss natürlich nicht bei der Beschäftigung mit historischen Texten bleiben. Auch „Der kommende Aufstand“ zum Beispiel ist nach wie vor durchaus auf- und anregende Lektüre.

P.S.: Nicht aus den Augen verloren werden sollte auch die Frage, wie (soweit es marxistische Ansätze für gesellschaftliche Veränderungen anbetrifft) bei künftiger Umsetzung eine solche Pervertierung derselben, wie sie der Stalinismus und – allerdings ohne vergleichbaren physischen Terror und vor allem ohne Massenmorde – auch der real existierende Sozialismus darstellten, zu verhindern wäre. Nicht unnütz dafür dürfte die (gegebenenfalls erneute) Lektüre solcher Klassiker wie Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems oder André Gide: Zurück aus Sowjetrussland und Derselbe: Retuschen zu meinem Russlandbuch sein.
Und was Das Blättchen anbetrifft, so passen zum vorliegenden Konvolut auch etliche ältere Texte – wie etwa:

Trial and error
Dauerauftrag für Sisyphos
Vom Glanz und Elend der Demokratie

Bei allen nachfolgenden Texten wurde jeweils die Orthographie der Quelle beibehalten. Auf die Übernahme von Quellenangaben, Fußnoten und Anmerkungen wurde verzichtet.