von Horst Jakob
Jörn Schütrumpfs Beitrag über Der Linken Selbstverwirrung im Heft 11 habe ich mit großem Interesse gelesen. Und auch mit Zustimmung, decken sich seine Erfahrungen und die daraus abgeleiteten Feststellungen – jedenfalls weitgehend – doch mit den meinen.
Nur in einem, allerdings denn doch wieder recht Grundsätzlichem, vermag ich dem Autor nicht ganz zu folgen. Denn bei allem, was Schütrumpf meines Erachtens zutreffend bemerkt: Sein Bewertungsmaßstab des Linksseins scheint mir von einer Linken auszugehen, die es – fürchte ich – nicht gibt, nämlich der Linken. Oder zugespitzter: der wahren Linken, einem Gremium, das gleichsam der Jury beim Eiskunstlauf nach Pflicht oder Kür der Akteure auf dem glatten Eis eine Note zieht, die das Vorgetragene am Ideal mißt: Sechskommanull etwa für Perfektion, Zweikommavier, wenn die Darbietung vermasselt war.
Was also ist das eigentliche, das »wahre« Linke, das zum Abgleich unserer Erfahrungen und der daraus abgeleiteten Urteile taugt? Freilich – das geht nun weit über das hinaus, was Jörn Schütrumpf behandeln und ganz und gar beantworten wollte und konnte. Auch mir wird dies nicht gelingen; die Gretchenfrage scheint es mir aber nicht minder zu bleiben.
Die Existenz ihres Daseins im Gesellschaftlichen verdankt die Linke der Opposition zu den bestehenden sozialökonomischen, später auch ökologischen und Geschlechterverhältnissen. Bis auf das Intermezzo des Realsozialismus auf der Weltbühne ist das auch immer so geblieben. Die oder das Linke hat sich also weitgehend vor allem mit der Frage befaßt, was nicht geht und also strukturell verändert werden solle und müsse. Und immer stand man dabei vor der gleichen Alternative: radikale Umwälzungen. Was aber, wenn diese nachhaltige Wirkungen haben sollen, objektiver und subjektiver Voraussetzungen bedarf. Oder eben schrittweise Veränderungen des Gegebenen zum Besseren hin, im Rahmen der parlamentarischen Demokratie, seit es diese gibt. Dieses dann freilich samt aller Kompromisse, Vergeblichkeiten und Niederlagen. Samt der Anwürfe aus den Reihen des politischen Gegners – und gegebenenfalls mehr noch aus denen des eigenen linken Lagers mit all seinen einzelnen Wagenburgen.
So war es stets. Und das es heute wieder so ist – inklusive der Übernahme des tradiert gelernten Schwarz-Weiß-Rasters: die Prinzipienfesten ins Kröpfchen, die Reformwilligen ins Töpfchen – kann schwerlich ein Zufall sein. Um diese Polkappen des Fundamentalismus herum wird nun bereits seit hundert Jahren getanzt. Vermutlich doch wohl, weil ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis der Bescheidwisser aller Flügel eben niemand da ist, der verbindlich weiß, wie es anzufangen ist, eine generelle Änderung zu organisieren – und zwar praktikabel! Vielleicht ist es das, was zu verinnerlichen wäre – selbst, wenn es die Glut revolutionären Denkens und Fühlens nicht eben nährt: Das Gesellschaftliche entwickelt sich nicht über vom Menschen aufgestellte Prinzipien und Regeln, so sehr diese als Orientierungsstangen und Haltegriffe allemal notwendig, sinnvoll, und auch hilfreich sind. Wiewohl aus letzterem wichtige Initialzündungen und also Prozeßbeschleunigungen (oder eben -hemmungen) entspringen können: Das bestimmende Entwicklungsprinzip trägt noch immer den Namen »Trial and Error«!
Selbst Revolutionen sind lediglich Bestandteil von »Versuch und Irrtum«, diesem Urmuster menschlicher Lern- und Veränderungsfähigkeit. Das ursprüngliche Fehlschlagen durchweg aller ersten großen Revolutionen (gegen die Sklaverei, der Bauernkrieg oder die Französische Revolution), belegt das auch dann, wenn sich deren Ideen später doch durchgesetzt haben, diese Revolutionen im historischen Kontext also keineswegs vergeblich waren.
Das dürfte auch nach dem Niedergang des aus der Oktoberrevolution erwachsenen Realsozialismus nicht anders sein. Denn freilich: Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte. »Die Entdeckung der Evolution schließt die Einsicht ein, daß unsere Gegenwart mit absoluter Sicherheit nicht das Ende (oder gar das Ziel) der Entwicklung sein kann.« (Hoimar von Ditfurth).
Aber diese Gesellschaftsordnung wird wohl kaum wegrevolutioniert werden durch die Rufe nach ihrer Abschaffung. Der Kapitalismus wird, und ist ja auch kräftig dabei, an seine eigenen Grenzen stoßen. Er wird an seinen eigenen Triebkräften scheitern, wenn diese sich irgendwann dank des Nichtmehrweiterkönnens der Profiteure und des – allerdings mehrheitlichen! – Nichtmehrweiterwollens der Verlierer auf der anderen Seite überlebt haben, das für die Produktivkräfte nun zur Fessel gewordene Korsett der Produktionsweise gesprengt und etwas Neues entstehen wird. Wie immer dies sich dann auch gestaltet, und ganz und gar wie es heißen mag, wird die Zukunft zeigen.
Nun werden wir das trotz aller Dynamik der gegenwärtigen Entwicklung unserer Welt demnächst wohl nicht mehr erleben – aber die Linken sehe ich denn doch schon vor mir, die von dem dann sagen werden, daß sie genau das schon immer gemeint, gewollt und gewußt hätten. Vielleicht sollte man ein wenig Bescheidenheit walten lassen und es mit Goethe halten, der dereinst in seinen Maximen und Reflexionen empfahl: »Derjenige, der sich mit Einsicht für beschränkt erklärt, ist der Vollkommenheit am nächsten.« Aber welcher Linke mag schon mit dem Gedanken leben, er sei beschränkt …
Schlagwörter: Horst Jakob