14. Jahrgang | Nummer 2 | 24. Januar 2011

Der kommende Aufstand

Die Debatte um gesellschaftlichen Wandel im 21. Jahrhundert ist hierzulande gerade durch einen Zeitungsbeitrag der PDS-Vorsitzenden Gesine Lötzsch belebt worden, und es bleibt zu hoffen, dass diese Belebung – über die sofort hoch schießende moralinsaure Empörung und Gegenbewegung in der Politik und quer durch die so genannten Mainstreammedien hinaus – von längerfristiger Wirkung bleibt, denn dass auch in Deutschland der soziale Druck im Kessel steigt, ist längst nicht mehr zu übersehen. Wer aber Eruption vermeiden will, der darf Veränderung nicht zu deckeln oder abzuwürgen versuchen, der muss sie gestalten.
Wer schon bei der bloßen Verwendung des Begriffes Kommunismus zum Generalangriff auf die Verwenderin und deren politische Freunde bläst, der sollte sich vor Augen halten, dass sich gesellschaftliche Veränderungen auch auf gänzlich anderem Wege als im Rahmen und nach den Spielregeln parlamentarischer Demokratie Bahn brechen können – siehe die Schrift „Der kommende Aufstand“, unter dem Titel „L‘insurrection qui vient“ in Frankreich bereits 2007 erschienen.
Das nur knapp 100 Seiten umfassende Buch stammt von anonymen französischen Autoren, die sich „Unsichtbares Komitee“ nennen. Eine deutsche Übersetzung ist im Internet zu finden. Durch die Feuilletons deutscher Zeitungen ging die Schrift so richtig erst im vergangenen Jahr. Der Spiegel urteilte: „Tatsächlich ruft ‚Der kommende Aufstand’ zu Sabotage, Subversion und auch zu Gewalt auf. In einem glühenden Untergangsszenario wird der postmoderne Kapitalismus beschrieben, in dem der Mensch nurmehr als ein ortloses, beziehungsarmes und maximal entfremdetes Wesen vorkommt … In ihren Anleitungen zum Aufstand empfehlen die Autoren die Gründung von Kommunen, die aus der Unsichtbarkeit heraus agieren und den Staat durch eine umfassende Unterwanderung zu Fall bringen sollen …“
Nachfolgend dokumentieren wir zunächste Auszüge in drei Kapiteln, deren Zusammenstellung und Überschriften die Blättchen-Redaktion zu verantworten hat, sowie eine Analyse der Diskussion der Schrift in Deutschland und eine weitere Wortmeldung der Autoren der Schrift.

Alfons Markuske

L‘insurrection qui vient

I. Anamnese

Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg. Das ist nicht die geringste ihrer Tugenden. Denjenigen, die unbedingt hoffen möchten, raubt sie jeden Halt. Diejenigen, die vorgeben, Lösungen zu haben, werden sofort entkräftet. Es ist bekannt, dass alles nur noch schlimmer werden kann …
Die Sphäre der politischen Repräsentation schließt sich. Von Links nach Rechts nimmt die gleiche Nichtigkeit mal die Pose von Mackern, mal ein jungfräuliches Gehabe an, sind es die gleichen Ausverkäufer, die ihre Rede gemäß den neuesten Erfindungen der Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit austauschen. Diejenigen, die noch wählen, scheinen dies nur noch mit der Absicht zu tun, die Urnen durch pure Proteststimmen hochgehen zu lassen … Der Deckel des sozialen Kochtopfs verschließt sich dreifach, während der innere Druck stetig steigt  …
Für die gegenwärtige Situation wird es keine soziale Lösung geben. Zuerst, weil die verschwommene Anhäufung von Milieus, Institutionen und individuellen Blasen, die ironischerweise als „Gesellschaft“ bezeichnet wird, keine Konsistenz hat, des Weiteren, weil keine Sprache mehr für die gemeinsame Erfahrung existiert. Und Reichtümer können nicht geteilt werden, wenn man keine Sprache teilt. Es bedurfte eines halben Jahrhundert des Kampfes um die Aufklärung, um die Französische Revolution zu ermöglichen, und ein Jahrhundert von Kämpfen um die Arbeit, um den furchterregenden Wohlfahrtsstaat hervorzubringen. Die Kämpfe schaffen die Sprache, in der sich die neue Ordnung ausdrückt. Anders heute. Europa ist ein Kontinent, der pleitegegangen ist, der im Geheimen bei Lidl einkauft und der Billigflüge nutzt, um überhaupt noch reisen zu können. Keines der in der sozialen Sprache formulierten „Probleme“ führt darin zu einer Lösung. Die Fragen der „Renten“, jene der „Prekarität“, der „Jugendlichen“ und ihrer „Gewalt“ können nur in der Schwebe bleiben, während jene Gewalt, die immer verblüffender zur Tat übergeht, mit polizeilichen Maßnahmen verwaltet wird. Es wird sich nicht beschönigen lassen, den Hintern von alten Leuten zum Spottpreis zu wischen, die von den Ihren verlassen wurden und nichts zu sagen haben. Diejenigen, welche auf kriminellem Wege weniger Erniedrigung und mehr Profit gefunden haben als in der Arbeit als Reinigungskraft, werden ihre Waffen nicht strecken. Das Gefängnis wird ihnen nicht die Liebe zur Gesellschaft eintrichtern. Die auf Genuss abgehenden Horden von Rentnern werden die drastischen Kürzungen ihres monatlichen Einkommens nicht auf den Knien hinnehmen und sich nur noch mehr aufregen, dass eine breite Fraktion der Jugend die Arbeit verweigert …
Eine Explosion schallenden Gelächters ist die angemessene Antwort auf all die ernsten „Fragen“, die es der Tagesschau zu stellen gefällt. Angefangen mit der abgedroschensten: Es gibt keine „Frage der Immigration“. Wer wächst noch da auf, wo er geboren wurde? Wer wohnt da, wo er aufgewachsen ist? Wer arbeitet da, wo er wohnt? Wer wohnt dort, wo seine Vorfahren gelebt haben? Und von wem sind die Kinder dieser Epoche, vom Fernsehen oder von ihren Eltern? Die Wahrheit ist, dass wir massenhaft aus jeder Zugehörigkeit gerissen wurden, dass wir von nirgendwo mehr herkommen, und dass sich daraus, gleichzeitig mit einer ungewöhnlichen Neigung zum Tourismus, ein nicht zu leugnendes Leiden ergibt. Unsere Geschichte ist jene der Kolonisierungen, der Migrationen, Kriege, Exile, der Zerstörung sämtlicher Verwurzelungen. Es ist die Geschichte all dessen, was uns zu Fremden in dieser Welt gemacht hat, zu Gästen in unserer eigenen Familie. Wir wurden unserer Sprache enteignet durch die Schule, unserer Lieder durch die Hitparade, unseres Fleisches durch die Massenpornografie, unserer Stadt durch die Polizei, unserer Freunde durch die Lohnarbeit.
Das Volk von Fremden, in deren Mitte wir leben, als „Gesellschaft“ zu bezeichnen, stellt einen derartigen Betrug dar, dass sich sogar die Soziologen überlegen, sich von einem Konzept zu verabschieden, das ein Jahrhundert lang ihr Broterwerb war. Sie bevorzugen heute die Metapher des Netzwerks, um die Art und Weise zu beschreiben, wie sich die kybernetischen Einsamkeiten verbinden, wie sich die schwachen Interaktionen, bekannt unter den Namen „Kollege“, „Kontakt“, „Kumpel“, „Beziehung“ oder „Affaire“ verknüpfen …
Es wäre Zeitverschwendung, alles genau aufzuführen, was in den existierenden sozialen Verhältnissen im Sterben liegt. Die Familie kehrt zurück, sagt man, das Paar kehrt zurück. Doch die Familie, die zurückkehrt, ist nicht die, die gegangen ist. Ihre Rückkehr ist nur eine Vertiefung der herrschenden Trennung, die sie vertuschen soll, wobei sie selbst zur Täuschung wird. Jeder kann die Dosen von Traurigkeit bezeugen, die sich Jahr für Jahr an Familienfesten kristallisieren, dieses mühsame Lächeln, diese Verlegenheit, alle vergeblich simulieren zu sehen, dieses Gefühl, dass da ein Kadaver liegt, auf dem Tisch, und alle tun so, als ob nichts wäre …
Wir gehören einer Generation an, die sehr gut ohne diese Fiktion lebt. Die noch nie auf die Rente oder das Arbeitsrecht und schon gar nicht auf das Recht auf Arbeit gezählt hat. Die nicht einmal prekär ist, wie es die fortschrittlichsten Fraktionen des linken Aktivismus gerne theoretisieren. Weil prekär sein noch immer heißt, sich in Bezug auf die Sphäre der Arbeit zu definieren, in diesem Fall: in Bezug auf ihren Zerfall. Wir anerkennen die Notwendigkeit, Geld zu finden, mit welchen Mitteln auch immer, denn es ist zur Zeit unmöglich, darauf zu verzichten. Wir anerkennen nicht die Notwendigkeit der Arbeit. Außerdem arbeiten wir nicht mehr: wir jobben. Das Unternehmen ist kein Ort, an dem wir existieren, es ist ein Ort, den wir durchqueren. Wir sind nicht zynisch, wir scheuen nur, uns missbrauchen zu lassen …
Die Vervielfältigung der Transport- und Kommunikationsmittel entreißt uns unablässig dem Hier und Jetzt, durch die Verführung, immer woanders zu sein. Einen TGV, eine RER (Regionalexpress – d. Red.) oder ein Telefon nehmen, um bereits dort zu sein. Diese Mobilität beinhaltet nur Zerrissenheit, Isolation und Exil …
… die Metropole (ist) eine der verwundbarsten menschlichen Formationen, die jemals existiert hat. Biegsam, subtil, aber verwundbar. Eine brutale Schließung der Grenzen aufgrund einer wütenden Epidemie, irgendein Mangel in der lebenswichtigen Versorgung, eine organisierte Blockade der Kommunikationswege, und das gesamte Bühnenbild bricht zusammen, schafft es nicht mehr, die Szenen des Gemetzels zu verdecken, die es zu jeder Zeit heimsuchen. Diese Welt wäre nicht so schnell, wenn sie nicht stetig von der Nähe ihres eigenen Zusammenbruchs verfolgt würde. Ihre netzartige Struktur, all ihre technologische Infrastruktur der Knoten und Verbindungen, ihre dezentralisierte Architektur möchte die Metropole vor den unvermeidlichen Betriebsstörungen schützen. Das Internet muss einem nuklearen Angriff standhalten. Die permanente Kontrolle der Flüsse von Informationen, Menschen und Waren muss die metropolitane Mobilität sichern, die Rückverfolgbarkeit, sicherstellen, dass niemals eine Palette im Warenbestand fehlt, dass niemals ein gestohlener Geldschein auf dem Markt zu finden ist oder ein Terrorist im Flugzeug. Dank einem RFID-Chip, einem biometrischen Pass, einer DNA-Datenbank. Aber die Metropole produziert auch die Mittel ihrer eigenen Zerstörung. Ein amerikanischer Sicherheitsexperte erklärt die Niederlage im Irak mit der Fähigkeit der Guerilla, aus den neuen Kommunikationsmethoden Profit zu schlagen. Mit ihrer Invasion haben die USA weniger die Demokratie als die kybernetischen Netzwerke eingeführt. Mit sich brachten sie eine der Waffen ihrer Niederlage. Die Vervielfachung der Handys und Internetzugänge haben die Guerilla mit neuartigen Mitteln versorgt, sich zu organisieren und sich selbst so schwer angreifbar zu machen …

II. Therapie

Sich als Kommunen zusammentun. Die Kommune ist, was passiert, wenn Wesen sich finden, sich verstehen und entscheiden, gemeinsam voranzuschreiten … Eine Kommune bildet sich jedes Mal, wenn einige, befreit von der individuellen Zwangsjacke, sich entscheiden nur auf sich selbst zu zählen und ihre Kraft an der Realität zu messen. Jeder wilde Streik ist eine Kommune, jedes kollektiv besetzte Haus, das auf einer klaren Basis steht, ist eine Kommune, die Aktionskomitees von 68 waren Kommunen, so wie es die Cimarrones geflohener Sklaven in den Vereinigten Staaten waren … Kommunen, so wie es die Dörfer der entlaufenen Sklaven in den Vereinigten Staaten waren. Jede Kommune will für sich selbst die eigene Basis sein. Jede Kommune will sich selbst die Basis sein. Sie will die Frage der Bedürfnisse auflösen. Sie will gleichzeitig mit jeglicher wirtschaftlichen Abhängigkeit jede politische Unterwerfung zerschlagen …
Sich organisieren, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Es ist wohlbekannt, dass das Individuum so wenig existiert, dass es sich sein Leben verdienen muss, dass es seine Zeit gegen ein bisschen soziale Existenz tauschen muss. Persönliche Zeit gegen soziale Existenz: so ist die Arbeit, so ist der Markt. Die Zeit der Kommune entzieht sich sofort der Arbeit, sie fällt nicht auf den Trick herein … Es gilt, Geld für die Kommune zu suchen, auf keinen Fall muss das Leben verdient werden. Alle Kommunen haben ihre schwarzen Kassen. Die Tricks sind vielfältig. Neben dem RMI (Sozialhilfe – d. Red.) gibt es das Kindergeld, das Krankfeiern, mehrfache Stipendien, erschwindelte Prämien für fiktive Geburten, alle Arten von Geschäften und so viele andere Mittel, die bei jeder Mutation der Kontrolle entstehen … Was wichtig ist zu kultivieren, zu verbreiten, ist jene notwendige Bereitschaft zum Betrug und zum Teilen seiner Innovationen … Der Anspruch der Kommune ist es, für alle so viel Zeit wie möglich freizumachen … Die unbesetzte Zeit, die tote Zeit, die Zeit der Leere und der Angst vor der Leere, das ist die Zeit der Arbeit. Von nun an gibt es keine Zeit mehr zu füllen, aber eine Befreiung von Energie, die keine „Zeit“ beinhaltet; Linien, die sich abzeichnen, die deutlicher werden, denen wir nach Belieben folgen können, bis zum Ende, bis wir sehen, wie sie andere kreuzen.
Plündern, anbauen, herstellen. Einerseits kann eine Kommune nicht auf die Ewigkeit des Wohlfahrtsstaates zählen, andererseits kann sie nicht damit rechnen, auf lange Sicht von Ladendiebstahl, vom Containern des Abfalls aus den Mülltonnen der Supermärkte oder des Nachts aus den Warenlagern der Industriezonen, vom Abzweigen von Subventionen, vom Versicherungs- und sonstigen Betrug, kurz: vom Plündern zu leben. Sie muss sich also permanent damit beschäftigen, wie sie das Niveau und die Ausbreitung ihrer Selbstorganisation steigert. Nichts wäre logischer, als dass die Drehbänke, die Fräsen und Fotokopierer, die bei Schließung einer Fabrik mit Rabatt verkauft werden, später zur Bekräftigung irgendeiner Verschwörung gegen die Warengesellschaft dienen.
Alle Hindernisse umstürzen, eins nach dem anderen. Was die Methode angeht, behalten wir für die Sabotage folgendes Prinzip: ein Minimum an Risiko bei der Aktion, ein Minimum an Zeit, ein Maximum an Schaden … Die technische Infrastruktur der Metropole ist verletzbar: ihre Flüsse bestehen nicht nur im Transport von Personen und Waren, Informationen und Energie zirkulieren durch Netze aus Kabeln, Glasfasern und Rohren, die angegriffen werden können … Wie können eine TGV-Linie oder ein Stromnetz unbrauchbar gemacht werden? Wie können die Schwachstellen der Computer-Netzwerke gefunden, wie die Radiofrequenzen gestört und die Flimmerkiste wieder zum Rauschen gebracht werden? … Dieses Nichts zu vernichten hat nichts von einer traurigen Aufgabe. Das Handeln findet darin zu neuer Jugend … Im Elend der Zeit dient „scheiß auf alles“ vielleicht – nicht ohne Grund, wie man zugeben muss – als letzte kollektive Verführung.
Die Sichtbarkeit fliehen. Die Anonymität in eine offensive Position wenden. Sichtbar zu sein bedeutet ohne Deckung, das heißt vor allem verletzbar zu sein. Wenn die Linken aller Länder nicht aufhören ihre Sache „sichtbar“ zu machen – sei es die der Obdachlosen, der Frauen oder der Sans-Papiers – in der Hoffnung, dass man sich darum kümmert, tun sie genau das Gegenteil dessen, was getan werden müsste. Nicht sich sichtbar zu machen, sondern die Anonymität, in die wir abgeschoben wurden, zu unserem Vorteil zu wenden und daraus, mittels der Verschwörung, der nächtlichen oder vermummten Aktion, eine unangreifbare Position des Angriffs zu machen … Kein Führer, keine Forderung, keine Organisation, sondern Worte, Gesten, Komplizenschaften. Gesellschaftlich nichts zu sein ist kein erniedrigender Stand, die Quelle eines tragischen Mangels an Anerkennung – anerkannt: von wem? – vielmehr ist es die Bedingung einer maximalen Aktionsfreiheit. Seine Untaten nicht zu unterzeichnen, … ist eine Art, diese Freiheit zu bewahren.
Bewaffnet sein. Alles daran setzen, die Nutzung der Waffen überflüssig zu machen. Gegen die Armee ist der Sieg politisch. Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Waffen sind notwendig: Es geht darum, alles daran zu setzen, ihre Nutzung überflüssig zu machen. Ein Aufstand ist vielmehr ein Griff zu den Waffen, eine „bewaffnete Permanenz“ als ein Schritt in den bewaffneten Kampf. Wir haben alles Interesse daran, die Bewaffnung von der Nutzung der Waffen zu unterscheiden. Die Waffen sind eine revolutionäre Konstante, auch wenn ihre Nutzung selten war, oder selten entscheidend war, in den Momenten großer Umwälzungen: Der 10. August 1792, der 18. März 1871, Oktober 1917. Wenn die Macht in der Gosse liegt, genügt es, sie zu zertreten. In der Distanz, die uns von ihnen trennt, haben Waffen jenen doppelten… Von einem strategischen Blickpunkt erscheint die indirekte, asymmetrische Aktion die lohnendste, die der Epoche am besten angepasste: Man greift eine Besatzungsarmee nicht frontal an … Die Militarisierung des Bürgerkriegs ist das Scheitern des Aufstands …

III. Ausblick

Ein Aufstand, wir können uns nicht mal mehr vorstellen, wo er beginnt. Sechzig Jahre der Befriedung, ausgesetzter historischer Umwälzungen, sechzig Jahre demokratischer Anästhesie und Verwaltung der Ereignisse haben in uns eine gewisse abrupte Wahrnehmung des Realen geschwächt, den parteilichen Sinn für den laufenden Krieg. Es ist diese Wahrnehmung, die wir wiedererlangen müssen, um zu beginnen …
Es gibt keinen Grund, sich in diesem oder jenem Bürgerkollektiv zu engagieren, in dieser oder jener Sackgasse der radikalen Linken, in der letzten vereinten Hochstapelei. Alle Organisationen, die vorgeben, die gegenwärtige Ordnung anzufechten, haben selbst wie Marionetten die Form, die Sitten und die Sprache von Miniaturstaaten. Alle Anwandlungen, „Politik anders zu machen“, haben bis zum heutigen Tag nur zur unbestimmten Ausdehnung des staatlichen biomechanischen Apparats beigetragen …
Es gibt keinen Grund mehr zu warten – auf eine Aufheiterung, die Revolution, die atomare Apokalypse oder eine soziale Bewegung. Noch zu warten ist Wahnsinn. Die Katastrophe ist nicht, was kommt, sondern was da ist. Wir verorten uns bereits jetzt in der Bewegung des Zusammenbruchs einer Zivilisation. Dort ist es, wo man Partei ergreifen muss.
Nicht mehr zu warten heißt, auf die eine oder andere Weise in die aufständische Logik einzutreten. Es bedeutet, aufs Neue das leicht erschreckte Zittern in der Stimme unserer Regierenden zu hören, das sie nie verlässt. Denn regieren war niemals etwas anderes als mit tausend Listen den Moment, wo die Menge sie aufhängen wird, zu verschieben, und jeder Akt des Regierens ist nichts als die Weise, die Kontrolle über die Bevölkerung nicht zu verlieren.
Wir gehen aus von einem Punkt der extremen Isolation, der extremen Ohnmacht. Alles ist aufzubauen im aufständischen Prozess. Nichts scheint unwahrscheinlicher als ein Aufstand, aber nichts ist notwendiger …

Kleiner Text, großer Aufruhr

von Gerhard Hanloser

Ein kleiner Text sorgt für große Aufregung. Ein „Unsichtbares Komitee“ hat 2007 eine poetisch-radikale Flugschrift namens „Der kommende Aufstand“ („L’insurrection qui vient“) herausgebracht, die jüngst auf Deutsch beim Verlag Edition Nautilus erschien, aber auch frei im Internet verfügbar ist. Der Text ist mehr als Diskurs, auf jeden Fall wird er als etwas Anderes, Größeres, Gefährlicheres denn als bloßer Text rezipiert – was nicht zuletzt die Verfasser freuen und bestätigen dürfte: Diskursive und praktische Unsicherheitszonen sind es, die sie produzieren wollen. Sie sehen die Schrift als Teil einer gegen die bestehenden Ordnung gerichteten Praxis. Deshalb auch die Anonymität der Verfasser. In Zeiten von Google Street View, Vorratsdatenspeicherung, digitalen Fingerabdrücken, einem Meer von Überwachungskameras will sich das „Unsichtbare Komitee“ dem neuen Terror der Sichtbarkeit entziehen. Ob mit Erfolg, das weiß man nicht.
In Frankreich nahm die Polizei Ende 2008 acht Personen fest, beschuldigte sie, Verfasser der Broschüre zu sein, für Anschläge auf TGV-Oberleitungen verantwortlich zu zeichnen und in einer »anarcho-autonomen Kommune« zu leben. Als Kopf hinter dem Ganzen wurde Julian Coupat, Schüler und Freund des Philosophen Giorgio Agamben, ausgemacht, der prompt hochkarätige Unterstützung durch offene Briefe und Solidaritätserklärungen erfuhr. Coupat und die anderen Beschuldigten mussten schließlich freigelassen werden. Ein weiterer großer medialer Aufschrei erfolgte durch Glenn Beck, Moderator des US-amerikanischen Fernsehsenders FOX, der zwar zugestand, das Büchlein gar nicht gelesen zu haben, aber dennoch, Bilder der griechischen Revolte im Dezember 2008 und andere Straßenkampf-Szenen beschwörend, vor einem neuen linken Radikalismus warnte.
Die apokalyptische Predigt des „kommenden Aufstands“, die das Leben im Kapitalismus als Hölle schildert und den eigenen Revolt-Weg als einzigen Weg aus dem Jammertal vorschlägt, trug also Früchte und provozierte die Gegenpredigt derjenigen, die das Bestehende zementieren wollen und dafür die Hölle der kommunistischen Aufsässigkeit in blutigen Bilder vorführen müssen.
„L’insurrection qui vient“ bezieht sich positiv auf die Revolte in den französischen Vorstädten und griechischen Universitätsvierteln und will ein Aufstandsprogramm zur Zertrümmerung des globalen Kapitalismus liefern. Die Verfasser machen sich keine Gedanken über linke Bündnispolitik, über Rahmen- und Richtungsforderungen, über Wahlempfehlungen und ähnlich brave Beschäftigungen. Es geht ihnen um die revolutionäre Tat: Man will nicht mehr warten, sondern zuschlagen. Jenseits der bestehenden Organisationen, Parteien und linken Milieus soll man in Freundschaft verbundene Kommunen aufbauen, die sich so organisieren, dass man der Arbeit entfliehen und sich auf ein widerständiges Leben konzentrieren kann. Gegen die Entfremdung und die Zumutungen der Lohnarbeit soll der Mensch in der Revolte sich allumfassend bilden und befähigen. Diese lokalen Kommunen organisieren dann den Aufstand gegen die Warengesellschaft und schaffen befreite Zonen: „Es geht darum, kämpfen zu können, Schlösser zu knacken, Knochenbrüche ebenso zu heilen wie eine Angina, einen Piratensender zu bauen, Volksküchen einzurichten, genau zu zielen, aber auch darum, zerstreutes Wissen zu sammeln und eine Landwirtschaft des Krieges zu schaffen, die Biologie des Planktons und die Zusammensetzung des Bodens zu verstehen, das Zusammenwirken der Pflanzen zu studieren…“.
Im verschlafenen Deutschland kam die in den Feuilletons ausgetragene Debatte um „Der unsichtbare Aufstand“ erst während der letzten Wochen so richtig in Fahrt. Doch mit welch hanebüchener Unwissenheit! Die einen bemühen den Skandalschriftsteller Michel Houellebecq, um den Text inhaltlich einordnen zu können. Das einzig Verbindende zwischen ihm und dem „Komitee“ dürfte – abgesehen von der Herkunft aus Frankreich – eine pessimistische Zeichnung der Sexualität sein, die als Teil der vom Kapitalismus allumfassend zerstörten Zwischenmenschlichkeit dargestellt wird. Andere fühlen sich an Ernst Jüngers „Waldgänger“ erinnert, obwohl dieser in seiner Fünfziger-Jahre-Schrift „Der Waldgang“ deutsches Volk, Theologie, Wahrung des Eigentums über alles stellt; Kategorien, die dem anarchistischen „Komitee“ offenkundig reichlich fremd sind.
Der Traditionsbestand, aus dem das „Unsichtbare Komitee“ schöpft, ist eindeutig. Ein Strang ist die alt-anarchistische Idee der moralisch gerechtfertigten Aneignung in einer unterdrückerischen und herrschaftlich eingerichteten Gesellschaft, ein weiterer die radikale Negation der bestehenden Zivilisation, wie man sie bei den Surrealisten um André Breton findet. Das Ganze mischt sich mit der polemischen Abgrenzung von der traditionellen, verbürgerlichten Alt-Linken, wie sie bereits die Situationisten um Guy Debord in den sechziger Jahren genüsslich zelebrierten.
Wenig Kenntnis von der Geschichte des französischen Spät-Situationismus beweisen Rezensenten, die sich angesichts der tiefen Zivilisationsskepsis und Abrechnung mit der kapitalistischen Moderne lediglich an Martin Heidegger erinnert fühlen, um sogleich „Nazi!“ schreien zu können. Radikale, aus dem undogmatischen Marxismus kommende Essayisten wie Guy Debord oder der im August 2010 verstorbene Jaime Semprun haben sich in den achtziger Jahren von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt verabschiedet und setzten auf radikale Minderheiten, die das Bestehende in Frage stellen können. Sie brachen angesichts einer apokalyptisch sich zuspitzenden Umweltfrage mit dem Fortschrittsoptimismus des Marxismus, der sich stets auf eine Dialektik der Produktivkraftentfaltung bezog, und verwarfen die herrschende Zivilisation mit ihrem technologischen Potenzial in toto.
Wer meint, Technikkritik könne nur politisch rechts sein, der sollte zur Kenntnis nehmen, dass es auf der Linken immer eine solche radikale Unterströmung gab – von dem romantischen Anarchisten Gustav Landauer bis zur Kritischen Theorie des Weltbürgers Walter Benjamin, von dem das »Komitee« auch die Einsicht übernommen hat, dass die Katastrophe nicht das ist, was kommt, sondern bereits eingetreten ist. Und wer allen ernstes das „Komitee“ wegen dessen Technikkritik der Konservativen Revolution zuschlagen will, sollte Ernst Jüngers protofaschistisches Manifest „Der Arbeiter“ von 1932 zur Hand nehmen, in dem die Technik mitsamt ihres Zerstörungspotenzials gefeiert wird wie in keiner anderen Schrift des 20. Jahrhunderts, jene des italienischen Futurismus an der Schwelle zum Faschismus vielleicht ausgenommen.
Doch es ist mehr als nur Unwissenheit, wenn in nominell linken Publikationen wie „taz“ und „Jungle World“ die Schrift in die braune Ecke gestellt und dabei schlicht mit unbegründeten Behauptungen operiert wird. Das »Unsichtbare Komitee« beziehe sich auf den nationalsozialistischen Staatsrechtler Carl Schmitt und den zumindest anfangs von Hitler begeisterten Philosophen Martin Heidegger; einen Beleg dafür sucht man vergebens. Entgegen der Feuilletonkultur in „FAZ“, „SZ“ und „Die Zeit“ zeigt sich im poplinken und im dem grünen Mittelschichts-Milieu verbundenen Feuilleton eine inhaltlich entgrenzte Kultur des Vorwurfs und der Unterstellung, in der es nur noch darum geht, auf der Seite der Ordnung zu stehen. Die Revolte war offensichtlich biografisch mal zu nah an der eigenen Lebenswelt angesiedelt, als dass man sie sich jetzt anders als mit schweren pseudo-antifaschistischen Geschützen vom Leib halten kann. Der „taz“- und „Jungle World“-Rezensent Johannes Thumfart kommt zu dem wenig erstaunlichen Ergebnis, es handele sich um ein „antidemokratisches Pamphlet“, das gegen „Demokratie und Rechtsstaat wettert“. Ja, richtig, doch um diese Stoßrichtung mehr moralisch als argumentativ zu diskreditieren, braucht er schon den Passepartout-Begriff „Ressentiment“ und die ohne viel Federlesens vorgenommenen Nazi-Vergleiche, die der Logik des Extremismusbegriffs auf eine Weise folgen, dass es Leuten wie der Familienministerin Kristina Schröder und dem Extremismusforscher Eckhard Jesse eine wahre Freude sein dürfte. Hier geriert sich der Feuilletonist als Staatsschützer und das, wo man doch immer dachte, dass zumindest auf den Kulturseiten der eine oder andere Staatsferne mal schreiben darf.
Wird „Der kommende Aufstand“ in den hiesigen Milieus des Linksradikalismus aufgegriffen, in der Hoffnung, dass diese mal ordentlich durcheinandergewirbelt werden und eine Poesie der Widerständigkeit entwickeln? Ein guter Bekannter, der es wissen sollte, meinte, Leute wie die Verfasser der Flugschrift würden höchstwahrscheinlich wegen „dominanten Redeverhaltens“ aus den einschlägigen Lokalitäten verbannt werden.

Erstveröffentlichung in  „Neues Deutschland“. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors.

Verwaltet weiter, verschweigt! Eine Intervention

Comité Invisible

Wodurch ist eine ausweglose Situation charakterisiert? Durch Markierungen, die zwar alternative Wege aufblitzen lassen, aber durch ein vielfältiges Instrumentarium die Möglichkeit ihrer Begehung blockieren – politisch, moralisch oder durch Gewalt. Die Markierungen verlaufen dabei nicht nur zwischen den offensichtlichsten Institutionen der Normalisierung: der Schulpflicht, dem Strafgesetzbuch, den Wahlkomitees oder der Vergeldlichung unserer Umwelten. Wir erlauben uns, eine Vulgarität auszusprechen: Es ist der Gedanke, nicht das Bataillon, der Territorien einnimmt, absichert und ihre Begrenzungen festlegt. Der psychologische Sündenfall jeder Ordnung, deren Fundamente am Beben sind, ist die Lobeshymne, mit der ihre letzten Verwalter sich an sie schmiegen, auf dass die »beste aller Welten« nicht zugrunde gehe – jetzt, da ihnen das kaum fassbare Glück zuteil wurde, unter Milliarden von Menschen und Jahrtausenden menschlicher Zivilisation auserwählt zu sein und in ihr leben zu dürfen.
Was nützt es, daran zu erinnern, dass sich nahezu jede Ordnung mit diesem Label schmückt? Die Idiosynkrasie (Überempfindlichkeit – d. Red.) jeder Ordnung erreicht ihr Maximum kurz vor ihrem eigenen Tod; dort ist sie auch am destruktivsten. Die Zerfallserscheinungen unserer modernen Konstruktionen, trotz aller Beharrlichkeit und Liebe, mit der ihr Funktionieren sichergestellt wird, sind heute keine extraordinären Phänomene mehr. Noch weigert sich die Gesellschaft, auf eine Interpretation einzugehen, die ihr gefährlich werden könnte. Wenn sie es tut, wird ihr eigentliches Fundament zum Vorschein kommen, die Fratze der nackten Gewalt, die sie unter dem Schleier der „Zivilisiertheit“ kaschiert, um dadurch unbegrenzt und unverdächtig über sie verfügen zu können. Dann ist es im Übrigen egal, ob gestern noch von der Gewaltlosigkeit als dem großen Asset (Plus – d. Red.) gesprochen wurde, das die liberalen Demokratien in ihrem Kern auszeichne. Wenn das Fundament auf dem Spiel steht, werden keine Gefangenen gemacht.

Organisation der Stimmen

Warum sehen wir uns genötigt, in die deutsche Debatte zu intervenieren? In Frankreich greift der Staat zu physischer und juristischer Gewalt, um die Irritationen zu unterdrücken, die auf den Straßen liegen, Irritationen, deren Motive er nicht versteht, und denen wir ein Medium gegeben haben. Anders verhält es sich im deutschen Kontext. Dort haben die Mechanismen der Tabuisierung, Reglementierung und Aussperrung des Nicht-Sagbaren zwar keine andere Rationalität, doch eine andere Anatomie: subtiler, intellektueller, durchdringender, effektiver. Nirgendwo kann eine Gesellschaft wirksamer ihre Diskurse organisieren als an den Orten, wo „Debatte“ geführt wird, jene Plattformen der öffentlichen Sphäre, auf denen die demokratische Gesellschaft, so weiß man, zu sich kommt: Als Garanten für Freiheit und Selbstbestimmung fungieren diese Orte als ihr Symptom, Mittel und Fundament zugleich. Ihre Teilnehmer: Metaphern von individualisierten Subjekten, die ihre inneren und äußeren Umwelten kontrollieren, Subjekte und Objekte sauber voneinander trennen, und die ihre Liebe einer Rationalität widmen, die ihre eigene Historizität und Kontingenz (fehlende Zwangsläufigkeit – d. Red.) nicht wahrhaben möchte; Subjekte, die alles Mögliche identifizieren können, nur nicht sich selbst; die ihre eigene Verortung nicht kennen, oder sie kennen sie, aber akzeptieren die Folgen nicht. Die Wortführer dieser „Debatten“ sind die ewig Gleichen: Neben den üblichen Verdächtigen aus den herrschenden Zirkeln sind es diejenigen, die deswegen eine Stimme zugeteilt bekommen, weil sie entweder die Diskursregeln virtuos beherrschen oder weil sie ihre Stimme als profitable Ware haben platzieren können – und nicht etwa, weil sie Wahrheiten aussprechen oder Möglichkeiten benennen.
Die äußerste Form der Repression des Gedankens ist nicht die Vernichtung des menschlichen Körpers, der ihn äußert, sondern der Anschlag auf den Gedanken selbst. Die effektivste Form des Anschlags: seine Delegitimierung. Man müsste eine Geschichte schreiben über die vielen Spielarten und Techniken dieser Delegitimierung, die erst das „aufgeklärte Zeitalter“ hervorgebracht hat. Leere Signifikanten wie „reaktionär“ und „anti-modern“ zählen in der aktuellen diskursiven Verfasstheit der westeuropäischen Länder zu den wirksamsten Werkzeugen, mit denen sich die „Debatte“ abweichende Ansätze vom Hals hält. Eine Herrschaft, die solche Feinde hat, ist heute unverdächtig und total. Eine geschützte Herrschaft. „Wir sind anti-modern – man braucht sich nicht mehr um uns zu kümmern. Legt den Fall zu den Akten“, liest man zwischen unseren Zeilen. Wir erwidern nichts. Kein Argument. Beschreibt uns, wie Ihr wollt. Verwaltet weiter, igelt Euch ein, verschweigt die Irritationen. Wir erlauben uns eine weitere Vulgarität: Wir scheißen darauf. Die Distanz zur Straße wird Euch irgendwann einholen.
In hundert Jahren, nach dem Übergang dieser Ordnung in ihre zukünftigen Formen – seien sie kapitalistischer, kommunistischer oder sonstiger Natur –, wird die Historiografie ihre eigene Sprache für unsere Epoche entwickelt haben. Ihr wird nicht entgehen, wie breit und vielfältig das Klammern an der Ordnung wurde, von links wie von rechts, von oben wie von unten. Ihr werden die Verteidigungsstrategien nicht entgehen, die sie als endgültige Ordnung inszenierten, zur letzten, zu der die vernunftbasierten Menschen fähig seien. Ihr wird die Arroganz nicht entgehen, mit der das Ende aller Welten, Orte, Gerüche, Leidenschaften, Spiritualitäten, Überzeugungssysteme und Rationalitäten behauptet wurde, und wie sie wie alle Ordnungen zuvor agierte, die sich als die fortschrittlichsten verstanden haben, während sie alle anderen als defizitär oder kontingent klassifizierte. Sie wird sich fragen, warum wir uns nicht fragten, ob wir überhaupt so rational sein können, wie unser Selbstbild und unsere Systeme es von uns verlangen.

Chaos regiert

„Ich sehe sie, die vielen Unzulänglichkeiten, und ich bedaure sie, ja bekämpfe sie. Doch müssen wir froh sein, von allem Schlechten auf der Welt das am wenigsten Schlechte gefunden zu haben. Wir müssen hier aufhören, still halten, die Waffen niederlegen. Denn nach dem Gewaltmonopol bricht sich Bahn: das Chaos.“ Man muss den Satz fünf, zwölf, hundert Mal wiederholen, bis der Schleier der Abstraktion fällt und seine Absurdität zum Vorschein kommt. Die Parteigänger des Gewaltmonopols sind sich sicher: Rational ist, eine Gesellschaft am Leben zu halten, in der Gewaltmittel aufs Unendliche angehäuft und, im Falle der Aktualisierung, in den Zugriffsraum einiger Weniger gestellt werden. Als naiv und utopisch gelten hingegen soziale Formationen, die sich dieser Irrationalität verweigern: all jene Räume, die sich in den metropolitanen Territorien bereits der Kontrolle der Maschine entzogen haben, und die neue, kommunale Wege des Zusammenlebens erzeugt haben; all jene Arbeit, die tagtäglich und in astronomischen Ausmaßen verrichtet wird, ohne dass Geld oder Zwang die Motivation zum Arbeiten herstellen; all jene Netzwerke und Nischen innerhalb des totalen Raumes, dort, wo die Argusaugen des Staates erblinden, in den Keimzellen der Selbstorganisation, an die die Gesellschaft nicht glauben will – weil sie eine ihrer letzten Wahrheiten aufs Spiel setzen: dass der Mensch ohne Staat zum Berserker wird.
In der Regel reicht allein der Hinweis auf den afrikanischen Kontinent, dessen imaginierte Finsternis uns erst die zivilisatorische Strahlkraft verleiht. „Sieh’ genau hin! Wohin man blickt: Chaos regiert.“ Neben Auschwitz, oder wahlweise dem Gulag, wird häufig genug auch Somalia als Kronzeuge für die Unmöglichkeit einer radikalen Alternative gehandelt. Zugleich ist das Land der mythische Ort, von dem man uns berichtet, dass der Mensch dort zu sich komme oder schon bei sich sei. Losgelöst vom staatlichen Sanktions- und Regulationsapparat, würde er endlich er selbst. Ein Monster: für sich wie für andere. Verschwiegen wird in dieser Konstruktion, dass dieser Mensch nicht ist, sondern bereits geworden ist. Wir kennen keine Gesellschaft, wo der Mensch zu sich kommt. Gesellschaft heißt gerade, dass er nicht bei sich ist. Er ist geworden in einer Umwelt, in der konkurrierende und hochgerüstete Gewaltmonopole über Jahrhunderte hinweg gewütet haben und in der sie nur fragiles, traumatisiertes und ausgebeutetes Menschenmaterial zurückließen, das sich in einem Wettlauf um das schnellere Sterben befindet. Selbst die Gewaltmittel lieferten sie mit und lehrten die so Subjektivierten die Mechanik der industriellen Vernichtung, bevor sie schließlich abzogen und schon bald begannen, über die Brutalität der „natürlichen“ Zustände zu lästern, die sich ohne liberal-demokratische Gewaltapparate einstellten.
Denjenigen, die noch bei Verstand sind, fällt auf, dass der Staat nicht die Instanz der materiellen Gewalt ist, sondern eine Fiktion, ein Bild, das die menschlichen Verkehrsströme reguliert, Grenzen von Geschmack und Urteilskraft definiert, Entscheidungen nahelegt und individuelle Präferenzen bestimmt. Wäre der Staat wirklich nur dieses hässliche Monster, das allein durch die Kraft seiner Bedrohlichkeit seinen Status absichert, so befänden wir uns wahrlich in einem chaotischen Zustand, in dem konkurrierende Akteure permanent auf die Gelegenheiten der Übernahme warten würden – außerhalb oder innerhalb eines als legal definierten Raumes. Wir fordern diese Fiktion heraus, weil sie die Katastrophe zu verschulden hat, die sich nun überall Bahn bricht, die sich nicht nur gegen Einzelne richtet, sondern, strukturell und potenziell, gegen alle: Unkontrollierbar und selektiv, produziert sie täglich neue Opfer. Wir stellen entgegen eine neue Fiktion, die strukturiert, ohne zu zerstören.

Reaktionäre Gewalt – Gewalt als Reaktion

Dieses komische Konglomerat aus Milieus, Gewaltapparaten, kontrollierten Räumen und individuellen Stilen, das wir Gesellschaft nennen, hat ein pathologisches Verhältnis zur Gewalt. Ihre Pathologie besteht darin, die legitimen Gewaltformen zu definieren, aber sie öffentlich zu verschweigen und zu leugnen – notfalls mit Gewalt und ohne den Widerspruch zu akzeptieren. Wie ein Kranker, der andere Krankheiten, die ihm bisher erspart blieben, aussperrt, geißelt, tabuisiert. Wir fordern eine Öffnung des Diskurses über die Gewalt – erweitert um deren zu beobachtende Ubiquität (Allgegenwart – d. Red.). Früher oder später wird sie als das anerkannt werden müssen, was sie ist, nämlich als die allgegenwärtige Spur, tief verankert in der Grammatik unserer Zeit und anzutreffen an den verschiedensten Orten unseres Alltags: in der Separierung der gesellschaftlichen Subjekte, in der Totalität der Verwertungsmaschine, im Tod eines x-beliebigen betrunkenen Obdachlosen auf der metro-politanen Straße, in der Lust am Ressentiment und in der Gewissheit, es sich leisten zu können. Das Ende der Geschichte ist ein Ende mit Schrecken, zumindest für diejenigen, deren Stimme die „Debatte“ aussortiert oder kastriert, bevor sie sie integriert.
Wir werden die Gewalt nicht weiter ertragen können. Während die zivilisierte, heißt: ausschließende „Debatte“ weiterläuft, sehen wir uns gezwungen aufzurüsten: so lange, bis wir uns den Pazifismus leisten können. Leise, maulwurfsartig, unstrategisch und spontan müssen unsere Gesten sein. Der Impuls, seine Impulsion, seine Impulsivität – eine mächtige Triade. Es sei übrigens bemerkt, dass wir auf die Konsequenzen vorbereitet sind.