von Hajo Jasper
Es könnte das Wort des Jahres werden: Populismus. Kaum ein parteipolitischer Lautsprecher, der diesen Anwurf der Gegenseite nicht bitterböse und voll moralischen Abscheus um die Ohren schlägt. Allen voran muß Oskar Lafontaine den Watschenmann geben. Was immer der vigilante und in Sachen Parteipolitik in der Tat mit allen Wassern gewaschene Mann zu sagen weiß – nahezu unisono hallt das mediale Echo: Igitt, welch Populist! Daß ebendieser Lafontaine es war, der 1990 auch um den Preis der Wahlniederlage im Gegensatz zum Verkündiger blühender Landschaften die warnende Wahrheit über die Konsequenzen der deutschen Vereinigung sagte, und der 1999 aus dem Kabinett Schröders ausstieg, nicht zuletzt weil dieser sein populistisches Wahlkampfwort von der Wiedereinführung der Vermögenssteuer nicht hielt, spielt bei all den hochempörten Sitten- und Tugendwächtern natürlich längst keine Rolle mehr; was kümmert uns unser Geschwätz von gestern?
Als längst vertraute Praxis all unserer »Volksparteien«, mit ihren politischen Antipoden bevorzugt demagogisch umzugehen – wobei man Demagogie wiederum ebenfalls ausschließlich an Lafontaine und der Linken festmacht –, wäre das alles nicht der Rede wert. Nähert man sich aber dieser Propagandapraxis einmal von der semantischen Seite, wirds schon interessanter. Denn wiewohl der Begriff Populismus in der Tat auf eine Instrumentalisierung von Unzufriedenheiten und Ängsten im Volk abhebt, bleibt Volksnähe allemal sein Kern. Wer politische Vorstellungen hat, die von der Mehrheit des Staatsvolkes begrüßt werden, leistet demnach etwas Verabscheuungswürdiges, nun ja. Wobei freilich die Umkehrung, daß eine vielzählige, gar mehrheitliche Zustimmung zu einer politischen Zielvorstellung schon für deren Ehrbarkeit oder gar Richtigkeit spräche, keineswegs per se gültig ist; die »demokratische« Machterringung durch die Nazis gemahnt warnend …
So sehr wohl Demokratie allein schon deshalb die beste Gesellschaftsform ist, da alle anderen Varianten sich bislang als verderblicher erwiesen haben, zeigt sich doch immer wieder aufs Neue, daß es mit ihr allweil eine vertrackte Angelegenheit ist. Denn darin besteht ja der Spagat: Einerseits beruht Demokratie auf der Teilhabe der Massen an den Geschicken ihrer Gesellschaft, andererseits setzt sie damit etwas voraus, was sie selbst erst zu schaffen hat, da es leider nicht naturgegeben ist. Denn obgleich die breite Mehrheit eines Volkes immer für Ziele und Programme zu haben ist, die ihr Wohl und Wehe angenehm zu befördern vorgeben, ist offenkundig nur eine Minderheit fähig und bereit, sich auch der Mühe solch demokratischer Teilhabe zu unterziehen.
Und Mühe macht es allemal, sich in – wenigstens die wichtigsten all jener komplexen – Zusammenhänge hineinzuversetzen und so in die Lage zu gelangen, die Auslassungen der Polit- und Wirtschaftsexperten leidlich nachvollziehen und beurteilen sowie dann gemeinwohlorientierte wie wirklich realistische Ziele definieren und verfolgen zu können. Selbst am noch zu nichts verpflichtenden Aufruf zu mehr direkter Demokratie, wie sich dies in Berlin grade bei einem entsprechenden Volksbegehren zeigt, ist das Interesse marginal. Sehr viel lieber delegiert Martin Mustermann Verantwortung, folgt freudvoll Tribunen, deren Versprechungen ihm genehm sind, und verdammt sie stante pede, wenn deren Politik fehlschlägt oder sich als Täuschung entpuppt.
Nun ist dieses Dilemma nicht wegzudekretieren. Verringern läßt es sich wohl nur durch ein »learning by doing«, das fast so mühevoll wie die Quälerei des Sisyphos sein mag, auf ganz, ganz lange Sicht aber wohl der einzige und vielleicht ja doch – im Gegensatz zu des gestraften Korinthischen Königs Vergeblichkeit – erfolgreiche Weg. Dies allerdings setzt ein Wohlverständnis von Demokratie auch in den Parteien voraus, zu denen als Vertreter real existenter Interessenverschiedenheit nach wie vor noch keine probate Alternative gefunden ist.
Davon allerdings kann leider keine Rede sein, was nicht eben ermutigend wirkt auf den, der die Hoffnung noch nicht verloren hat. Demagogisches Gezänk, wo Sachdebatten vonnöten wären. Machtgerangel statt lösungsorientierter Kooperation – die Bevölkerung wird dabei in der Tat zu jenem »Urnenpöbel« degradiert, den Kabarettist Georg Schramm so bitter persifliert. Angesichts schon seinerzeit nicht wirklich erkennbarer Fortschritte auf dem Wege zur Demokratie – denn auch die Weimarer Republik als bis dato einzige deutsche Erfahrung war nicht eben ermutigend –, hatte selbst Thomas Mann dereinst in seinen Tagebüchern den Gedanken notiert, daß möglicherweise nur eine aufgeklärte Diktatur dieses Dilemma aufheben könne. Ganz abgesehen davon, daß er diese resignative Überlegung zugunsten wünschenswerter Demokratie freilich rasch wieder aufgab, dürfte einem solchen Gedanken wohl auch nur die – etwas perverse – Illusion zugrunde liegen, daß sich Aufklärung und Diktatur vereinigen ließen.
»Um uns selber müssen wir uns selber kümmern«, heißt es im Brechtschen Text eines Liedes, das die Mehrheit der heurigen Demokraten wohl eher schaudern macht, da jenes Aufbaulied von 1948 schließlich revolutionär gemeint war. Und wiewohl auch dessen Versen nicht mehr so ohne weiteres ungeprüfte Gültigkeit zu unterstellen ist – die Grundvoraussetzung wirklich funktionierender (nicht identisch mit problem- und konfliktloser) Demokratie wird durchaus treffend beschrieben.
Solange es weiterhin Parteien sind, die als Sachwalter von Interessen agieren, hätten sie eigentlich die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, für immer mehr Menschen den Weg zur Interessenvertretung zu ebnen. Daß sie diese Aufgabe in ihrem mehrheitlichen Tun und Lassen eher konterkarieren, einer engagierten Teilhabe also viel mehr entgegenwirken als diese zu befördern, kann uns allen noch sehr auf die Füße fallen.
»Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen«, sagt Albert Camus in seinem Mythos des Sisyphos. »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Also dann, Sisyphos: weitermachen!
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