13. Jahrgang | Nummer 5 | 15. März 2010

Die reizlose Seite des Humanismus oder: Zum Verhältnis von Juden und DDR

von Daniel Rapoport

Betrachtungen, entstanden bei der widerwilligen Beschäftigung mit der Frage, ob der Dichter Peter Hacks ein Antisemit gewesen sei

Nachdem der Dichter Peter Hacks gestorben war, mehrten sich öffentlich vorgetragene Verdächtigungen, er hätte vielleicht ein heimliches Ressentiment gegen die Juden gehegt. Aus der Beschäftigung mit dieser Unterstellung ist der vorliegende Aufsatz entstanden. In ihm geht es auch um das Verhältnis von Juden und DDR. Allerdings, und diese Einschränkung soll Botschaft des Vorwortes sein, stoffbedingt finden diese Dinge nur nebenläufige Erwähnung. So fehlt beispielsweise jegliche Einordnung des religiösen Judentums in die Umstände. Wer aber die wohlwollende Bereitschaft aufbringt, auf Umfassendheit und Letztbegründetheit vorläufigen Verzicht zu leisten, wird die vorliegende Lektüre, das sei versprochen, in hohem Maße denkwürdig finden.

Zurüstung: Theorie des Selbstverhehlten

Wenn die Begriffe „Volk“, „Humanismus“ und „Sinn“ in einen wechselseitig erhellenden Zusammenhang gesetzt werden sollen, muß man sehr tief in dunkle Gründe. Keiner dieser Begriffe offenbart sich leicht. Wer sich ihnen gänzlich ungerüstet nähert, der, nun: Er käme nicht unbedingt gleich darin um, aber er wird sich doch einige Hirnschwielen zuziehen. Also rüsten wir zu! Eignen wir uns ein klein wenig Theorie an. Trockenübungen können mitunter ihren Nutzen haben.

Beginnen wir mit dem Selbstkonzept. Selbstkonzept, das meint den dispositionalen, relativ stabilen, unveränderlichen Teil dessen, was man im Sinn hat, wenn man „ich” sagt. Das schließt beispielsweise Charaktereigenschaften ein, Einstellungen, anhaltende Interessen und eben eine Anzahl von Überzeugungen und Werten. Das Selbstkonzept leitet sich anhand dieser Leitlinien und Werte als ein Bündel von Selbstzuschreibungen und Selbsteinschätzungen ab: Welche „guten” und „schlechten” Eigenschaften man aufwiese, über welcherlei Fähigkeiten man verfüge und schließlich auch, welchen Gruppen man zugehöre. Zugehörigkeit im Sinne einer Selbstbestimmung läßt sich zu fast allen Gruppen entwickeln: Zu einer Familie: folglich aus Verwandtschaft und Erziehung. Zu einer Partei: folglich einer gemeinsamen Weltanschauung. Zu einer Gemeinschaft: folglich eines gemeinsamen Schicksals. Und so fort.

Von dieser Gruppenzugehörigkeit interessiert uns allein der Aspekt der Selbstzuschreibung. Dinge, wie ein Personalausweis, ein Mitgliedsbuch, eine Fahne und andere Reliquien der Zugehörigkeit finden unsere weitere Beachtung nicht. Uns beschäftigen die selbstzuschreibenden Begriffe.

Sie betreffen das Selbstverständnis eines Menschen, im Gegensatz zum Fremdverständnis. Selbstzuschreibungen dienen dem Begreifen des eigenen Herkommens. Aus dem Begreifen des Herkommens formt sich wesentlich das ich; es stiftet Sinn. Das zusammenhanglose da sein der äußeren historischen Gründe wird durch sie zu einem einheitlichen eigenen Dasein zusammen gefügt. Es ist paradox wie jede tiefere Wahrheit, daß wir die Einmaligkeit der eigenen Identität nur dadurch gewinnen können, daß wir uns in einen Zusammenhang setzen, das heißt, einen Teil der eigenen Besonderheit aufgeben und uns mit anderen gemein machen.

Unter die selbstzuschreibenden Begriffe rechnen die völkischen Begriffe. Eine andere Rechtfertigung völkischer Begriffsbildungen als die Selbstzuschreibung kann es nicht geben; es gibt kein äußerliches Unterscheidungsmerkmal, das einer Prüfung durch die Vernunft standhielte. Darauf, daß die äußerliche Festlegung völkischer Begriffe, d.i. die Bestimmung der Zugehörigkeit anhand eines äußerlichen Merkmals, in der Regel geradewegs in den Rassismus führt, wird der Leser wahrscheinlich selbst schon verfallen sein. Was ihm aber vielleicht noch nicht so geläufig war, ist die Tatsache, daß es sich gar nicht anders verhalten kann: Völkische Begriffe sind in Ursprung und Intention Selbstbestimmungen; Bestimmungen, die ein „Innen” weisen und gleichzeitig, aber sekundär, Absetzbewegung von einem „Außen” sind. Alle äußerlichen Kriterien fungieren nur als Ausweis für eine empfundene Zugehörigkeit; Äußerlichkeiten, die in Dienst genommen werden, um die eigene Selbstbestimmung zu stabilisieren und sich ihrer in der realen Welt zu versichern. Jegliche Selbstbestimmung ist eine innere Positionierung im Kräftefeld äußerlicher Anlässe.

Wie rassistisch ist nun, das Fallen unter einen völkischen Begriff anhand äußerlicher Merkmale zu entscheiden? Ich meine, äußerliche Begriffslegungen völkischer Begriffe sind nicht per se rassistisch. Jede Äußerung kann nur im Kontext der sie begleitenden Überzeugungen bewertet werden. Jemand mag wohl, vielleicht in Ermangelung besseren Wissens, die Juden als an ihrer krummen Nase kenntlich bezeichnen, ohne deshalb ein Ressentiment gegen sie zu hegen. Andererseits ist der Keim des Rassismus in solchen Stereotypen — nichts anderes sind äußerliche Begrifflegungen völkischer Zugehörigkeit — immer enthalten. Die erste Stufe des Rassismus ist die Indienstname von Schablonen, durch die der Inkriminierte gleichartig, das heißt auf eine einheitliche Weise inferior gemacht wird. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen dem möglicherweise naiven Ausschneiden einer Schablone und ihrer politischen Indienstnahme.

Warum ich das alles vor Ihnen hinbreite: Das Selbstverständnis ist selbstverständlich. Das ist die Pointe. Unsere Selbstzuschreibungen entfalten eine seltsame, gleichsam geheime Wirkung. Einerseits leiten sie unser Urteilen und Handeln wesentlich an; andererseits tun sie das in einer fast unsichtbaren Weise, als graue Eminenzen des Geistes. Es gehört zu den großen Unverstandenheiten, daß die uns anleitenden Prinzipien so offensichtlich sind, daß wir sie nicht sehen können: Weil wir eins mit ihnen sind. Unser Selbstverständnis betrifft Werte und Haltungen, die uns genauso vertraut sind, wie der Herzschlag, den wir zuallermeist nicht spüren. Das nicht in Frage gestellte kommt uns vor, als sei es gar nicht in Frage stellbar. Wir sind so. Dieses so sein ist gleichbedeutend mit einer Selbstverhehlung des Selbstverständlichen. Aus ihr folgt, daß es ungeheuer mühsam ist, sich selbst auf die Schliche zu kommen und herauszubringen, was uns anleitet. Nichts anderes als dieses Mühen ist das lebenslange in-sich-hinein-Geleuchte und zwanghafte Bekennertum der Künstler und Philosophen.

Ebenfalls nichts anderes als diese Selbstverhehlung des Selbstverständlichen aber ist die Verdrossenheit und Verärgerung, die sich unser bemächtigt, sobald wir gehalten werden, uns für das Selbstverständliche zu rechtfertigen. Die Sorte Unmut ist die gegenteilige Äußerung derselben Ursache. Wir können das Selbstverständliche nicht rechtfertigen, weil es uns in dem oben genannten Sinne gar nicht geläufig ist. Selbstverständnis meint über das Selbstkonzept hinaus gleichzeitig immer die barmherzig uns vorenthaltenen Beweggründe. Unser Selbstverständnis leitet unser Abwägen an, aber es ist nur selten dessen Gegenstand. Und muß es dennoch einmal in mißlicher Lage zum Gegenstand des Abwägens werden, tritt umstandslos Freudlosigkeit und Denkschlaffheit ein. Diese Antriebslosigkeit ist normalerweise der schützende Vorhang, der die konkreten Inhalte unseres Selbstverständnisses vor uns verbirgt und somit ihre Unversehrtheit, ihre Gültigkeit also, gewährleistet.

Inbetreff seiner selbstverständlichen Prinzipien ist deshalb jeder Mensch gleichermaßen redselig, wie maulfaul; das Selbstverhehlte reizt in dem Masse zur Enthüllung, wie es jeglichen Selbstbeforschungsdrang lähmt. Das Selbstverständliche hat eine Tendenz, implizit und auf der Handlungsebene so deutlich zu werden, wie es explizit verborgen wird. Nicht jeder Gegen-Antisemit, will ich sagen, redet auch darüber. Je selbstverständlicher eine Haltung, desto unerwähnter bleibt sie oft.

Das alles hat höchstviel mit unserem Thema zu tun. Es hat uns gleich drei Einsichten vermittelt: erstens, was völkische Begriffe sind; zweitens, psychologische Mechanismen, sowohl des jüdischen als auch des kommunistischen Selbstverständnisses und drittens, die Unlust, ein Urteil zu bereden, dessen Wertgrundlagen selbstverständlich sind.

Die Bodensatzreform

In den letzten Jahren sorgte eine Wanderausstellung mit dem Titel „Das hat’s bei uns nicht gegeben! Antisemitismus in der DDR” für viel öffentliche Erregung. Diese Ausstellung gastierte vorwiegend in Schulen, weil die 36 Tafeln, aus denen sie bestand, von Schülern in Projektgruppen hergestellt worden waren; außerdem behauptete die Anfertigung eine aufklärerische Funktion, die natürlich immer auch ein Erziehungsanspruch ist. Über den eigentlichen Zweck der Ausstellung will ich gar nicht weiter spekulieren, und davon, daß die üblichen Halunken jene Ausstellung natürlich stracks zum Anlaß nahmen, ihren einstudierten Hass auf die DDR zu ventilieren, muß hier auch nicht eigens Erwähnung getan werden (Wolf Biermann z.B.: Es sei „ungesund” gewesen, in der DDR Jude zu sein …).

Hingegen betrifft die Hauptthese der Ausstellung unseren Gegenstand. Sie lautet, es hätte in der DDR einen nicht näher bezifferten „antisemitischen Bodensatz” gegeben, der jedoch seitens des Staates systematisch verschwiegen worden wäre. Eine „Aufarbeitung” des Antisemitismus nach dem zweiten Weltkrieg wäre durch den „verordneten Antifaschismus” effektiv verhindert worden; die Verordnetheit nämlich hätte ihn zu einer inhaltlosen Formel entwertet und also den besagten Bodensatz fest sedimentieren lassen.

In dieser Bodensatzreform haben wir sehr hübsch all das beisammen, das auch in der Unterstellung gegen Hacks mitgesagt werden soll: Antisemitismus von links, der Vorwurf des uneingestandenen Selbstbetrugs und der des planvollen Verschweigens. Wohlan!, auch ich habe meinen aufklärerischen Anspruch. Ich entwirre Stück für Stück.

Staatsräson und Wirklichkeit

Die Frage lautet natürlich nicht, ob sich in der DDR irgendwelche antisemitischen Vorfälle zutrugen. Sicher, es gab diesen „Graswurzelantisemitismus”, den Antisemitismus des kleinen Mannes, Grabschändungen, Schmierereien, Beleidigungen, geschmacklose Witze. Nein, die Frage geht nicht, ob der Antisemitismus stattfand, sondern nach seinem Ausmaß und vor allen Dingen nach seinem System. Wer war für diesen Antisemitismus verantwortlich, wer nahm ihn in Dienst? Genauer: Welche Mitschuld trifft den Staat an diesen Antisemiten? Welchen Raum hat die DDR dem Antisemitismus gegeben? Und allgemeiner dann: Welchen Einfluß soll ein Staat überhaupt auf die Haltungen und das Selbstverständnis seiner Bürger nehmen?

Ein Staat hat zum Antisemitismus drei Möglichkeiten: Erstens, indem er ihn offen ausübt. Zweitens, indem er ihn zwar nicht ausübt, aber duldet. Drittens, indem er ihn zwar nicht duldet, aber die Mechanismen für seine Latenz perpetuiert.

Die Bodensatztheoretiker haben es sich einfallen lassen, der DDR zur Last zu legen, daß in ihr der Antisemitismus weder offiziell ausgeübt, noch geduldet war. Sie nennen das einen „verordneten Antifaschismus” und führen weiter aus, dieser hätte untergründig – also qua Möglichkeit Nummer drei – den Antisemitismus befördert.

Aber langsam. Tatsächlich ist evident, daß die ersten beiden Möglichkeiten – offene Ausübung und Duldung – in der DDR nicht stattfanden. Der Antisemitismus war nie Bestandteil der offiziellen Staatsräson oder des Alltags; es handelte sich um ein randständiges Phänomen, das weder konstitutiv für die DDR, noch ihr irgendwesensimmanent war. Im Gegenteil. Antisemitische Äußerungen oder gar Taten galten in der DDR als schweres Kriminaldelikt. Sie wurden verfolgt und im Falle man der Täter habhaft werden konnte, mit Strafen belegt, deren Härte so manchen zeitgenössischen Judenschützer zittern machte. Verhielte es sich anders, und der Antisemitismus wäre in der DDR offen ausgeübt oder auch nur geduldet worden, dann fänden sich die Bodensatztheoretiker auch nicht in der mühseligen Lage, darüber aufklären zu müssen, daß es tatsächlich antisemitische Vorfälle in der DDR gegeben hat; dann fänden sie sich nicht auf das ungestalte Wort „Bodensatz” zurück gestutzt.

Die DDR, das bestreitet nicht einmal diese kindergemachte Ausstellung, hatte ein antifaschistisches, internationalistisches, antiimperialistisches, sozialistisches, kurz: unvölkisches Selbstverständnis, und wenn sie in völkischen Kategorien sprach, dann höchstens in Wörtern wie „Völkerfreundschaft” oder „Völkerverständigung”. Mag sein, daß das hohle Phrasen waren; alle völkischen Kategorien, das haben wir unterdes gelernt, sind von außen besehen hohl, selbst das Wort „Jude”.

Kann ein „verordneter Antifaschismus” den Antisemitismus befördern? Es lohnt, das Verhältnis von Antifaschismus und Antisemitismus in der DDR genauer zu untersuchen. Faschismus und Antisemitismus meinen ja, auch wenn das oft zusammenkleistert, nicht dasselbe: Während Antisemitismus ein rassistisches Ressentiment meint, bezeichnet Faschismus sowohl eine rassendarwinistische, völkische Ideologie, als auch eine politische Bewegung und eine historische Epoche. Der Unterschied ist entscheidend, wenn man die Haltung der DDR zur Judenfrage verstehen will. Der Antifaschismus nämlich galt den Errichtern der DDR nicht als bloße Ideologie, sondern er war ihre eigene Biographie. Fast alle hatten sie einen mörderischen Kampf mit den Faschisten durchstanden, und niemand war unter ihnen, dem die Faschisten nicht einen Freund erschlagen hatten. Sie waren gewissermaßen dem selben Feind entronnen, wie die Überlebenden der Shoa.

Finden Sie, verehrter Leser, es nicht nachvollziehbar, daß sich diese Leute, wenn auch mehr Feinfühligkeit und Generosität wünschenswert gewesen wäre, in keiner besonderen Bringschuld gegen die Juden empfanden? Ich finde diese Haltung zumindest für die ersten Nachkriegsjahre unheikel. Der „verordnete” Antifaschismus war eine gemeinschaftsstiftende Haltung, welche die richtige Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen suchte.

Komme ich zu den heiklen Kapiteln. Der Antisemitismus hat sowenig vor den Köpfen der Kommunisten halt gemacht, wie der Kommunismus vor denen der Juden. Das meint, es gab unter Kommunisten, und auch unter den Funktionären in der DDR, Antisemiten. Beispielsweise trug sich 1979 eine unschöne Episode zwischen dem Schriftsteller Stephan Hermlin und dem Mitglied des ZK der SED, Otto Gotsche zu, in deren Verlauf Hermlin den Gotsche anfuhr: „Wir unterscheiden uns, daß ich ein Jude bin und du ein Antisemit.“ Was war passiert?

Gotsche wollte verfügen, daß man den Faschismus nicht auf den Antisemitismus reduzieren solle. Hermlin, wütend:„In Wirklichkeit ist es so, daß es in der DDR seit mindestens zehn Jahren zu einer Peinlichkeit geworden ist, das Wort Jude (…) auszusprechen. (…) In Wirklichkeit ist es so – und diese historische Wahrheit ist erst mal herauszustellen -, daß die gemeinste, die blutigste Untat des Faschismus die Ausrottung des Judentums gewesen ist. Das ist Nummer eins, das kann nicht reduziert werden. Dazu sitze ich hier, um dafür zu sorgen. Das bin ich meinem Vater schuldig.”

Was hier aufeinander prallt, das sind zwei unterschiedliche Erfahrungsweisen derselben Sache. Ich rede nicht davon, daß sich im weiteren Verlauf der Diskussion herausstellte, daß Gotsche tatsächlich ein Antisemit war, sondern davon, daß der eine den Faschismus als kommunistenmordend und der andere als judenmordend erlebt hatte.

Ich schlage vor, in dieser Sache wie folgt zu entscheiden: Unter allen Opfern der Faschisten kommt den Juden in der Tat eine Sonderrolle zu. Keine andere Gruppe wurde so unerbittlich, so systematisch, so vollständig vernichtet; für niemanden sonst hatten die Nazis eine „Endlösung” vorgesehen. Aber das ist schon alles; es leiten sich aus dieser historischen Sonderstellung keine moralischen oder staatsbürgerlichen Vorrechte her. Noch weniger jedoch läßt sich aus dem nationalsozialistischen Antisemitismus eine ordentliche Theorie des Faschismus gewinnen. Genausowenig natürlich, wie aus dessen Antikommunismus.

Welche Theorie zum Faschismus herrschte nun in der DDR? Im Wesentlichen vertrat man den Georgi Dimitroff: Der Faschismus wäre „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Diese Bestimmung war von 1935, und sie war, trotz ihrer unübersehbaren Einseitigkeit, eine gewaltige Richtigstellung gegen die fatale Irrlehre vom Sozialfaschismus. In der DDR galt Dimitroff dann bis 1989, und während dieser Zeit wurde er ein Fehler. Der lag darin, die Kapitalisten allein für den Faschismus verantwortlich zu machen. Diese Charakterisierung übersieht, daß die Beherrschten, wofern sie nicht gerade revoltieren, das Spiel der Herrschenden stets mitspielen. Bis zur Revolution kooperieren sie mit ihren eigenen Ausbeutern und also auch bei deren Schandtaten; kann sein, sie waren verführt, aber wieso sollte das ihre Schuldfähigkeit mindern? Auch Angestiftete werden verurteilt. Falsch an Dimitroff war, die Arbeiterklasse pauschal von ihrer Mitschuld am Faschismus und an der Shoa frei zu sprechen.

Aus dem Dogma, daß die Arbeiterklasse stets revolutionär, und, wo verführt, schuldlos sei, läßt sich indes keine planvolle Perpetuierung des Antisemitismus oder ein Verschweigen des Judenmords konstruieren. Im Gegenteil, in der DDR wurde der Shoa in Filmen, Ausstellungen, Mahnmahlen, Theaterstücken und natürlich auch im Geschichtsunterricht erinnert. Uneingestanden in der DDR war nicht einmal das Mittun der Arbeiterklasse an der Judenvernichtung, uneingestanden war lediglich ihre Schuld. Das ist ein Fehler, aber es ist selbstredend keine staatlich beförderte antisemitische Praxis. Der Antisemitismus konnte zwar fortfahren, in kümmerlichen Nischen zu existieren, aber er konnte nicht gedeihen; er war nicht wegen der DDR, sondern trotz ihr. Der Streit zwischen Gotsche und Hermlin übrigens ging auf Betreiben Kurt Hagers mit einer Parteirüge für Gotsche aus.

Überhaupt gab es in der DDR einen regelrechten Klassenfetisch bei der Beurteilung historischer Umstände. In diese Obsession ordnet auch das Verhältnis der DDR zu Israel. Der Antizionismus, der zeitweise in der DDR doktrinär war, speiste sich, im Gegensatz zum völkischen oder religiösen Antisemitismus aus dem Dogma vom Klassenkampf, bzw. darüber vermittelt aus dem Dogma des Antiimperialismus. Anders als der arabische Antizionismus hat er nie das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Das sozialistische Lager hatte lediglich nach dem 6-Tage-Krieg, nach welchem die USA damit begannen, das Halten zu Israel zu ihrer neuen Doktrin zu machen, die Seiten gewechselt. Bis zu dieser Zeit waren die Waffen der israelischen Armee in Sibirien hergestellt worden.

Ich gebe zu, die Haltung der DDR gegen Israel war nicht über jede Kritik erhaben. In dieser Frage hätte ihr eine neutrale Politik, wenn es so etwas überhaupt gibt, besser geziemt. Aber die DDR hat nicht empfunden, daß Israel der Staat der Juden und die DDR ein Staat schuldbeladener Deutscher war. So wenig völkisch war die DDR. (Es gibt übrigens eine weithin unbekannte Episode, die vermuten läßt, daß die DDR dennoch eine untergründige Scham gehegt haben muß: Im Jahr 1976 hat das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer bedürftigen US-Bürgern jüdischen Glaubens, die Verfolgte des NS-Regimes waren, finanzielle Unterstützung angeboten. Insgesamt belief sich das Angebot auf umgerechnet rund eine Million Dollar, nicht viel für die Opfer, aber viel Geld für die Verhältnisse der DDR. Die „Conference on Jewish claims against Germany“ lehnte ab.)

Warum aber sah die DDR in Israel einen imperialistischen anstatt eines jüdischen Staates? Warum behandelte sie die Juden ganz wie die anderen Opfer der Faschisten auch? Und warum behauptet Hermlin, daß es in ihr zu einer Peinlichkeit geworden wäre, das Wort Jude auszusprechen?

Die DDR gestand den Juden nach dem Krieg keine fortgesetzte Sonderrolle zu. Keine positive, keine negative: überhaupt keine. Ihr war die Ablehnung völkischer Kategorien selbstverständlich. Erinnern Sie sich, was wir über die Selbstverhehlung des Selbstverständlichen gelernt haben? Jedem Bürger gestand sie unabhängig von dessen völkischer Herstammung dieselbe gesellschaftliche Normalität zu. Was viele Juden als Verschweigen, als Ignoranz oder Gemeinheit empfanden, war in Wirklichkeit die Manifestation eines humanistischen Menschenbildes, in dem jeder seine Herkunft frei begreifen durfte.

Freiheit ist nicht jedermanns Sache. Freiheit und Erwachsenwerden gehören zu jenen erstrebenswerten Gütern, deren Eintreffen sich immer ganz anders anfühlt, als erhofft. Nachher glorifiziert man nicht selten die Kindheit. Nach Jahrhunderten des Antisemitismus und des Ringens um die eigene Identität muß es vielen Juden ungeheuerlich vorgekommen sein, daß ihre völkische Zugehörigkeit plötzlich nicht mehr Gegenstand der Öffentlichkeit sein sollte. Der Fortschritt erschien ihnen als Nichtachtung. Jude, das Wort war natürlich kein Tabu in der DDR. Es war lediglich unwichtig. Es wurde nicht gebraucht, nicht vom Staat und nicht im Zeitungsdeutsch. Staatshumanismus ist das allgemeine Befugnis der Bürger, ihre Selbstzuschreibungen als Privatsache zu handhaben. Erinnern wir uns, daß der Sinn aller Selbstzuschreibungen das Selbstverständnis ist, folgt unmittelbar, daß sie nur im Staatshumanismus ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt werden. Aber jede Sache, Humanismus oder Kriminalität, gewinnt, zur Staatsräson gemacht, eine neue Qualität. Eine Haltung, die sich der Staat zu Eigen macht, ist etwas anderes, als dieselbe Haltung, privat angeeignet; hieraus folgen Konflikte.

Daß der Staatshumanismus ausgerechnet im Anschluß an die Shoa eintrat, hat gewiß eine historische Folgerichtigkeit, aber er kollidierte offensichtlich mit den Bewältigungsstrategien einiger Juden. Manche müssen immer reden, reden und reden, bis sie mit einem Trauma durch sind. Andere schweigen, bis es durch ist. Es gehört zu den schwierigeren Lebensaufgaben beider Gruppen, einander zu ertragen.

Mein Großvater, Samuel Mitja Rapoport, empfand als wohltuend, daß sich sein Staat so äußerst wenig um sein jüdisches Herkommen scherte. Die Nazis hatten ihm seinen besten Freund, den jüdisch-österreichischen Dichter Jura Soyfer im Konzentrationslager ermordet. Meines Großvaters Trauer um ihn war seine private Sache, was ging sie den Staat an? Er sprach später gern von Jura, aber für die Öffentlichkeit taugte weder dessen Judesein, noch dessen Opfersein; für die Öffentlichkeit sollten seine Werke sein. Meine Großmutter, Ingeborg Syllm-Rapoport und mein Vater, Tom Rapoport, die beide viele Jahre in den USA und Deutschland gelebt haben, berichten übereinstimmend von der DDR, daß sie der Ort war, an dem sie den wenigsten Antisemitismus erfahren hätten; mein Vater erinnert sich überhaupt nur eines einzigen unerheblichen Vorfalles. Der jüdische Virologe Hans-Alfred Rosenthal, ein guter Freund meiner Großeltern, pflegte am Schabbat in den Tempel, Rykestraße 53, zu gehen; den Rest der Woche war er ein guter Kommunist und von Fragen nach seinem Selbstverständnis unbehelligt.

Kurz und gut, ich kann den Juden, die sich über die Maulfaulheit der DDR in jüdischen Angelegenheiten empören, eine Anzahl Juden entgegenhalten, denen diese Maulfaulheit als himmlische Ruhe vorkam. Es spielt dabei keine Rolle, ob es Verdrängung war, oder ein internationalistisches Selbstverständnis, welches dieses Empfinden anleitete. Entscheidend bei der Beurteilung ist, daß die DDR seit Jahrhunderten der erste deutsche Staat war, der es ermöglichte, mit gleicher Selbstverständlichkeit Staatsbürger und Jude zu sein.

Das Kapitel zu beschließen will ich noch auf den latenten Antisemitismus zu reden kommen. Ich kann das kurz machen. Vom latenten Antisemitismus sage ich als Jude, daß er mir im Großen und Ganzen Wurscht ist. Ob er untergründig perpetuiert, in muffigen Familien weitervermittelt und von dämlichen Stereotypen evoziert wird, finde ich uninteressant. Am Antisemitismus interessiert allein sein öffentliches Wirken und seine politische Instrumentalisierung. Das zu erkennen heißt nicht nur, ihn soweit als nötig, sondern, soweit als überhaupt möglich zu begreifen.

Natürlich begrüßte ich, wenn man den Antisemitismus in den Köpfen der Menschen aushungerte. Ich weiß nur nicht, wie das gehen soll. Er ist verdammt zählebig. Wenn er schon in einer derart kargen und feindseligen Umgebung, wie es die DDR war, überdauern konnte, dann müssen wir uns wohl oder übel darauf einstellen, daß es nicht allzu bald mit ihm zu Ende geht. Gern würde ich sein Verenden beschleunigen. Aber solange der Antisemitismus nur latent und nicht ausgesprochen, nicht in die Tat umgesetzt, und vor allem (!): nicht politisch indienst genommen ist, solange gibt es wenig Handhabe. Also interessiert mich das nicht. So muß ich wenigstens nicht „anscheißerische“ Mühen eines Gedankenpolizisten auf mich nehmen. Ich weiß, es gibt Juden, die leben davon. Ich wollte sehr, sie wären arbeitslos. Andererseits, die Wünschelrutengänger des Antisemitismus sind harmloser, als die latente Gesinnung nach der sie gehen. Am Ende geht mit beidem zu leben. Nicht zu leben geht in einer Welt, in welcher der Judenmord geduldet wird oder, wie im Faschismus, zur Staatsdoktrin.

Letztes Kapitel: Hacks und der Antisemitismus

Das siebenundfünfzigste Jahrhundert nach Erschaffung der Welt war nicht nur für die Judenheit ein eschatologisches Jahrhundert. Dem Christentum entsprangen die Schäfchen rudelweise, und sie hüpften geradewegs in den aufgerissenen Wolfsrachen der neuesten Verheißungsideologien. Seit der französischen Revolution, spätestens seit der, hatten Duldsamkeit und Gottgefälligkeit der Massen ein Ende. Die Massen haben von der bürgerlichen Revolution die Lust am Umsturz gelernt. Der Gedanke kam in Schwang, die Geschicke der Menschheit könnten von ihr selbst ein für alle mal entschieden werden. In Deutschland sah das so aus: Es begann mit dem Lenzglauben, nun müsse sich alles, alles wenden und hörte dann erst mit der tatsächlichen „Wende” auf. Dazwischen lagen ein paar mißglückte Revolutionen, zwei verlorene Weltkriege und, als gräßlicher Höhepunkt eschatologischer Irrheit, die „Endlösung”.

Das zwanzigste Jahrhundert trat als zwar Kampfplatz großer Ideologien ins Leben, aber deren Fleischwerdung war bereits in vollem Gange. Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und Völkische bereiteten ihre Revolutionen vor. Sie alle waren vom Gedanken einer letzten Schlacht beseelt, nach deren Sieg das „Ende aller bisherigen Geschichte”, das „tausendjährige Reich”, mindestens aber eine „Umwertung aller Werte” stattfinden würde. Das zwanzigste Jahrhundert gierte nach Menschheitsentscheidungen, es lebte in riesenhaften Erwartungen und fürchterlicher Ungeduld. Industrialisierung, Massenproduktion, Elektrifizierung, Verstädterung, die rasende Entwicklung der Transportmittel und das Aufkommen der Medien hatten ein Empfinden ständiger Beschleunigung erzeugt; Beschleunigung, die, wie ein Fluß auf einen Katarakt, auf eine gigantische Krisis, einen allgemeinen Umschlag zulaufen mußte. Nach dem Sturz würde sich das Flußbett wieder weiten, und der Strom der Zeit gemächlich durch die nächsten Jahrtausende gleiten.

Der einzige deutsche Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts, der den Fortschritt wollte, ohne dazu gleich eines Harmagedon zu benötigen, war Walter Ulbricht. Alle anderen wollten den Fortschritt entweder sofort und unter allerhand Rauch und Getöse, oder sie wollten ihn überhaupt nicht. Ulbricht wollte ihn in seiner einzig möglichen Form. Gerade, als sein Neues Ökonomisches System den allgemeinen Eindruck erweckt hatte, es würde morgen, spätestens aber nächste Woche Kommunismus eintreten, verkündete er, der Sozialismus sei nicht, wie vordem gedacht, eine kurze Übergangsphase, sondern eine „relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus”. Der Tischlerlehrling Ulbricht hatte verstanden, daß der Fortschritt allein durch Vermittlung von Beharren und Veränderung ins Werk gesetzt werden könne.

Wissen Sie, was ein quasistatischer Prozeß ist? Das Wort ist eine Idealisierung aus der Thermodynamik und bezeichnet eine Veränderung, die sich so langsam vollzieht, daß sich das bewegte System zu jedem Zeitpunkt im Gleichgewicht befindet. Das ist die Idee Ulbrichts: der Sozialismus als zeitlupenhaft langsam vollzogene Revolution zum Kommunismus, der Sozialismus als eine Sukzession von Gleichgewichtszuständen. Hacks nannte das Staatskunst und befand, sie wäre Voraussetzung für das Sich-ereignen von Klassik. Sollte Ihnen jemals zustoßen, es begeben sich ja manchmal die abwegigsten Situationen, daß Sie einem Naturwissenschaftler Hacksens Klassikbegriff erläutern wollen, sagen Sie ihm einfach: Quasistatischer Prozeß. Er weiß dann schon.

Über Hacksens Konzept einer sozialistischen Klassik ist schon viel gesagt worden; man findet alles dazu in seinen Essays und das Übrige bei seinem bedeutsamsten Exegeten Felix Bartels. Shakespeare, Goethe, Hacks, diese Dichter eint, schreibt Hacks, daß sie unter politischen Verhältnissen lebten, in denen der Ausgleich zwischen zwei zur Herrschaft drängenden Klassen Staatsräson war. Die leibhaftige Erfahrung dieser Politik sei notwendige Voraussetzung für eine klassische Haltung beim Verfassen von Dramen. Klassische Haltung meint, daß jeder Figur sowohl ihr subjektiv, als auch ihr historisch gerechtes Für und Wider beigemessen werde.

Offen gesagt, ich halte diese Theorie für Blendwerk. Sie war das Resultat von Hacksens Kopfzerbrechen, wie er selbst zu begründen sei, sein Werk, seine Haltungen und sein Herkommen. Alle Selbstzuschreibungen sind Blendwerk. Wie wir nun wissen heißt das nicht, alles an ihnen ist falsch; das heißt allein, in ihnen ist viel Wunsch und Selbstverhehltes. Die meisten Selbstzuschreibungen sind deshalb ohne Reiz. Nicht so Hacksens; bei ihm haben sie sogar die Anmut einer Theorie. Es spielt keine Rolle, ob die zutrifft. Sie verrät, will ich sagen, mehr über Hacksens Selbstverständnis als über den Sozialismus oder die Klassik. So verstanden kann ein Blendwerk die reinste Wahrheit sein.

In Hacksens Weltanschauung, beweist das, war kein Platz für Eschatologie. Es würde aufs Absehbare immer weiter gehen mit der Menschheit. Stets würde sie, getrieben durch den Interessenkonflikt der vorwaltenden Klassen, Häßliches und Erhabenes hervorbringen; nur deshalb könne sich überhaupt Kunst ereignen. Nur deshalb auch könne es Kunst geben, deren Gültigkeit nach Jahrtausenden mißt, Klassik eben. Für letzte Dinge hatte Hacks, trotz aller Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts, keinen Sinn. Sie erwiesen sich ihm als nicht kunstfähig; aus ihnen ließ sich höchstens ein halbwegs anständiger Kitsch verfertigen.

Die Zusatzbestimmung „sozialistisch” in der sozialistischen Klassik meint, Hacks nahm an, daß die Klassenkämpfe des Kapitalismus samt ihrer ideologischen Ausprägungen im Sozialismus durch wären. Einer genuin sozialistischen Klassik obläge die künstlerische Gestaltung der neuen Konflikte des Sozialismus. Ihren Stoff, so Hacksens Diktum, solle die sozialistische Klassik den Kämpfen der sozialistischen Gegenwart entnehmen und in den erlesensten Formen der Klassik abbilden.

Man sieht, daß in Hacksens sozialistischer Klassik aus zweierlei Gründen kein Platz für den Antisemitismus war; weder ging er mit dem „sozialistisch”, noch mit der Klassik irgend zusammen. Der Antisemitismus galt Hacks als eine überwundene bürgerliche Ideologie. Im Sozialismus mit seinem unvölkischen, internationalistischen Selbstverständnis war er anachronistisch geworden. Brecht, befand Hacks, war der letzte große Dichter, der die Konflikte des Imperialismus gestaltet hatte; Brecht wäre zugefallen, das große Drama über die Shoa zu schreiben. Er, Hacks, war bereits eine Stufe weiter im „Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist”.

Soviel zur Unvereinbarkeit des „sozialistisch” mit dem Antisemitismus; für die Klassik wiederum war der Antisemitismus zu offensichtlich unsinnig, zu einseitig, und, nach der Shoa, zu endzeitlich, zu eschatologisch. Nichts an ihm eignete sich zur Ausgewogenheit; nichts zur Gestaltung eines klassischen Dramas.

Man kann der Meinung sein, Hacks habe es sich mit dem Faschismus und dem Antisemitismus zu einfach gemacht. Denn wenn richtig ist, daß klassische Dramen immer das allgemein Menschliche aus einer konkreten Haltung präparieren, und ferner richtig, daß im Antisemitismus, allein schon, weil er die Jahrhunderte überdauern konnte, etwas allgemein Menschliches enthalten sein muß, dann folgt, daß auch der Antisemitismus als Haltung zu einem klassischen Drama sich eignet. Weil der Antisemitismus jedoch ein irrationales Vorurteil ist, folgt gleichfalls, daß es ein dunkles, psychologisierendes Drama sein müsse, eines, dessen Figuren nach nicht rechtfertigbaren Haltungen handeln. So allgemein menschlich das Irrationale auch sein mag, so wenig mochte Hacks es als Sujet. Es lag ihm äußerst fern.

Das ist mein zweites Argument. Hacks war ein überaus heller Dichter. Seine Figuren handeln stets verständlich, das heißt, aus rationalen Motiven; sie handeln eher aus Willen, denn aus Zwang; das war seine Lust am Menschen. Dessen Willen plausibel zu machen, und in ihm eine historische Haltung zu konkretisieren, war Hacksens Tugend. Ich weiß nicht, wie ich es nehmen soll, daß ausgerechnet sein am meisten irrationales Stück „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe” den größten Erfolg hatte. Vielleicht lag es am deutschen Publikum. Immerhin muß man einräumen, daß selbst die „Stein” unerhört hell von einem so dunklen Gegenstand redet, wie es gekränkte Liebe ist.

Da haben wir nun alle Hauptgründe, derentwegen Hacks kein Stück über den Antisemitismus machte: Der Antisemitismus ging weder auf den Sozialismus, noch auf die Klassik, noch auf Hacksens Dichtart. Das Fehlen dieses Dramas indes macht noch keine bedenkliche Leerstelle. Daß nach Auschwitz kein Gedicht mehr geschrieben werden könne ist ja mindestens ebenso übertrieben, wie zu verfügen, jeder Dichter müsse nun eines zu dem Thema abliefern.

Schließlich ist es nicht möglich, über Hacks und den Antisemitismus zu reden, ohne von seinem Essay „Ascher gegen Jahn. Ein Freiheitskrieg” zu handeln. In dieser Schrift stellt Hacks den jüdischen Schriftsteller Saul Ascher als einen von seinen Leuten vor. Er läßt ihn antreten gegen den Turnvater Friedrich Ludwig Jahn, der so ziemlich alles verkörperte, was Hacks anwiderte: „Irgendeinen menschlichen Zug hat ja sonst jeder, nur eben Jahn nicht. Wer so denkt wie Jahn, muß nicht auch noch sprechen wie Jahn, wer so spricht, muß sich nicht auch noch so aufführen, wer sich so aufführt, muß nicht auch noch so aussehen.”

Ascher gegen Jahn, das steht für den Hacks’schen Weltkonflikt Klassik gegen Romantik, also für Staat gegen Partikeln, Recht gegen Privilegien, Freiheit gegen Barbarei, Vernunft gegen Irrationalität, Sozialismus gegen Revisionismus, kurz: es steht für Hacks gegen seine Feinde. Und es steht auch, weil Ascher ein Jude war, der sich gleichermaßen gegen den Antisemitismus und die Rückständigen unter seinen Glaubensgenossen wandte, für Aufklärung gegen Judenhass. Eingestanden, Ascher wandte sich nicht gleichermaßen. Gegen die aufkommende Modernisierung des religiösen Antisemitismus focht er stärker. Von seiner Frühschrift „Eisenmenger der Zweite” handelt Hacks:

„Der Titel will erklärt sein. Der erste Eisenmenger war der Julius Streicher des Spätbarock. Er hatte Ende des siebzehnten Jahrhunderts ein Pogromhandbuch verfaßt, welches ein Standardwerk geworden war; Clemens Brentano hatte es immer auf seinem Nachttisch liegen. Der Vergleich Fichtes mit Eisenmenger beweist Aschers Scharfsinn.

Johann Gottfried Fichte hatte, bis er nach Berlin kam, um dort freischaffend zu wirken, in Weimar die Rolle des Dorfclowns gespielt. Sicher hat niemand vor oder nach ihm aus Kants Denkansatz so alberne Folgen abgeleitet wie er. Ascher erkannte unter der Albernheit die Gefahr. Er erkannte Fichte als den zweiten Eisenmenger und eigentlichen Feind. Er überschaute augenblicks, daß Fichtes närrische Ideen die gedankliche Grundlage aller künftigen Pogrome bilden würden.

Sowohl der Antisemitismus der Aufklärer als – zu deren Ehre gesagt – noch der märkischen Krautdenker war soziologisch begründet; beide sind, so Ascher, ´politische Gegner der Juden´. Erst die Gobineau-Wagner-Chamberlainsche Hetze würde sich biologisch untermauern und folglich nach der biologischen Lösung, dem Tod aller Juden, verlangen. Eben diese vernunftlose Hetze aber war es, die Fichte mit seiner anthropologischen Verurteilung der Juden vorbereitete. (…) Merkwürdig daran ist, erläutert Ascher, daß ´die Wissenschaft, das Judentum zu hassen, seit Eisenmenger zu einer außerordentlichen Vollkommenheit gediehen ist´ und mit Fichte ´eine neue Epoche des Judenhasses beginne´, welche ´die Rechtmäßigkeit des Begriffs Judenhaß – a priori deduziere´.“

Hand aufs Herz: Hätten Sie gewußt, wer Johann Andreas Eisenmenger war? War Ihnen der Name Arthur de Gobineau ein Begriff? Und wie geläufig ist Ihnen, daß von den unzähligen Chamberlains Hacks einen wandernder Teutschdümler mit Vornamen Houston Stewart meinte? – Diese Namen sind , gottseidank, wenig kursierend. Folglich kann ich sie zum Beweis nehmen, daß Hacks sich mit dem Antisemitismus beschäftigt haben muß. Hieraus wiederum erhellt: Hacks befand den Antisemitismus nicht nur zum dramatisches Sujet untauglich; selbst als Denksujet war er ihm zu kümmerlich. Das ist mein drittes Argument. Auch die Lektüre der eifrigsten Antisemiten konnte ihm lediglich vermitteln, wie überaus widervernünftig diese Leute dachten. Die wenigen Sätze, die er sich zur Bestimmung des Antisemitismus abzwang, stehen im selben Buch „Ascher gegen Jahn”, in dem Kapitel „Die Romantik von Reich und Rasse”. Darin heißt es:

“Im Imperialismus besorgt der Antisemitismus drei Aufgaben. Beschleunigte Konzentration des Kapitals vermöge der sogenannten Arisierung. Ablenkung vom sozialistischen Klassenkampf vermöge des sogenannten Rassenkampfs. Eröffnung einer volksfestlichen Spielwiese und emotionalen Ersatzbeschäftigung für solche, die während der uneingeschränkten Diktatur der Staatsmonopole doch was mitzupolitisieren haben mögen; die Triebe, kann man sagen, erhalten ein Turngerät. – Von den zwei erstgenannten Gründen der Judenschlächterei kann um 1800 keine Rede sein. Über den dritten läßt sich noch grübeln. Heine weiß, 1825, daß bei einem Siege der Jahnschen Demagogen „einige tausend jüdische Hälse, und just die besten, abgeschnitten werden“. Die Vorhersage erfüllte sich dann beim Siege der Hitlerschen Demagogen. An irgendwas muß es doch liegen.

An irgendwas muß liegen, daß während der Lektüre des Jahn mir hundert mal der Hitler einfällt, der mir sonst nie einfällt. Racines Phèdre sagt: „Quelques crimes toujours prècèdent les grand crimes“. Ich gebe den Vers in Deutsch: Jedes Schaudervolle hat seine Entstehungsgeschichte.”

Glauben Sie mir nun? Hacks fiel zum Antisemitismus tatsächlich nichts ein. Ich finde das entschuldbar; er hat es im Mindesten versucht. Es denkt ja auch niemand daran, dem Jahrhundertmathematiker David Hilbert vorzuwerfen, er hätte nie unternommen, den Großen Fermatschen Satz zu beweisen.

Auch gegen den Faschismus hat Hacks nie ein Drama oder nur ein Pamphlet geschrieben. Das einzige echte antifaschistische Statement von Hacks war, daß er zu Zeiten des Hitlerfaschismus mit einem Saxophon „entartete“ Jazzmusik machte. Ich finde das handfester als beispielsweise Günter Grass, der fuderweise Anti-Hitler-Sachen schrieb; nach Kriegsende. Heute weiß man, Grass mußte ins Reine mit sich kommen. Hacks nicht; er war, was die Nazis betrifft, ein Leben lang mit sich im Reinen.

Ich will nichts unterschlagen. Es gab noch eine zweite, ebenso handfeste Stellungnahme Hacksens gegen den Faschismus. Die war, daß er 1955 von München, BRD, nach Berlin, Hauptstadt der DDR, übersiedelte. Dort blieb er bis an sein Lebensende wohnen (Hacks in einem Brief an Andrè Thiele, 1999: “Wieso sagen Sie, ich lebte nicht mehr in der DDR? Ich bin ja nicht umgezogen.”). Wir haben uns über das antifaschistische Selbstverständnis dieses Staates bereits ins Einvernehmen gesetzt; genügt also, hier noch das Hacks-betreffende zu ergänzen.

Die DDR hatte ein eigentümliches Verhältnis zu ihren Künstlern. Anstatt eines Kunstmarktes gab es in der DDR die Einrichtung eines Hofes; alle Künstler wurden vom Staat bezahlt und waren also Höflinge von Zentralkomitees Gnaden. Diese Besonderheit erklärt, warum die DDR-Künstler immerfort große Stoffe, Themen von Weltbedeutung behandelten. Es waren einfach die herrschenden Themen bei Hofe. Der Kunstmarkt, den Unterschied zu weisen, hat stets nur den Kunstmarkt zu seinem Gegenstand.

Hacks widerfuhr, als er aus dem Westen gekommen war, daß ihn der Hof mißbilligte, weil er in seinen ersten Stücken ästhetisierende Besserwisserei argwöhnte. Dabei lag es Hacks fern wie nur etwas, das Ideal, durch dessen Insverhältnissetzen zur Wirklichkeit die Kunst lebt, als Belehrung der praktischen Politik zu begreifen. Im Trennen der Kategorien war Hacks penibel bis zur Wissenschaftlichkeit. Er hat, soweit ich Einblick habe, nie behauptet, daß Politik lediglich die Fortsetzung von Kunst mit reizloseren Mitteln sei. Hacks mochte in Einzelheiten sehr uneinverstanden mit seinem Staat sein; im Großen und Ganzen aber war er überaus einverstanden mit ihm.

Nicht wenige haben dieses affirmative Verhalten unerklärlich gefunden. Die Idee wurde geäußert, Hacks hätte noch den schlechtesten Hof jedem Markt vorgezogen; man hielt ihm deshalb Snobismus vor. Um Hacksens Halten zur DDR zu erklären, schlage ich einen triftigeren Grund vor. Diese eigentümliche Loyalität ließ sich ja nicht nur bei Hacks beobachten; viele Intellektuelle, und von der unterschiedlichsten Machart, glichen Hacks hierin. Warum ertrugen diese großen Köpfe so klaglos, daß sie vom Staat in oftmals kindischer Weise gegängelt wurden? Es lag, Sie haben es unzweifelhaft erraten, am Staatshumanismus. Man konnte ertragen, unfrei in vielen Dingen zu sein, wenn man zum Ausgleich frei im Selbstverständnis war. Freilich war der doktrinäre Antifaschismus ein wesentlicher Teil dieses Humanismus; die offene Loyalität zur DDR findet sich besonders in jener Generation, die den Faschismus bewußt erfahren hatte. Hacks, wie andere Intellektuelle mit ihm, empfand sich als Bürger einer neuartigen Staatseinrichtung, in der solche Entgleisungen garantiert nie wieder vorkommen würden. Die Garantie war sehr viel wert.

Ich bin mit meinem Plädoyer zu Ende. Der Gründe, meine ich, sind genug gegeben, deretwegen Hacks vom Antisemitismus weiter entfernt war, als so mancher Judenfreund. Zugegebenermaßen hat er sich mitunter heikler geäußert als die; es gibt so Stellen. Wären Sie, verehrter Leser, einverstanden, wenn wir ihm diese Stellen, nach allem, was bis hier erläutert ist, schenkten? Was es galt zu erhellen, das waren nicht die Stellen, sondern die Überzeugungen und Umstände, in die sie betten. Ich hatte wenig Lust, das Thema überhaupt anzufassen, aber ich wäre mir vollends meschugge vorgekommen, hätte ich dann jede politische Unkorrektheit von Hacks hernehmen sollen, um zu beweisen, daß sie eigentlich gar nicht so gemeint war. Kann sein, jede einzelne von ihnen war so gemeint. Es spielt, und den Gedanken wollte ich entwickeln, vor dem Hintergrund von Hacksens Selbstverständnis keine Rolle.

Aus all dem folgt, Hacks darf an den Theatern dieser Republik getrost gegeben werden. Man soll endlich zur Tagesordnung übergehen!

Die vollständige Fassung des Textes erschien in der Zeitschrift „ARGOS. Mitteilungen zu Leben, Werk und Nachwelt des Dichters Peter Hacks (1928 – 2003)“; Band 5, 2009. Gekürzter Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags André Thiele, Mainz am Rhein.