27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

Russlandversteherinnen und ein Blick zurück

von Viola Schubert-Lehnhardt

Hinter dem Vier-Augen-Prinzip steht die Idee, dass bestimmte Wertungen und Entscheidungen nur in Übereinstimmung von mindestens zwei Personen getroffen werden. Im vorliegenden Fall geht es genau um das Gegenteil: Frau Gabriele Krone-Schmalz erklärt aktuelle Entwicklungen und Dekrete in Russland und zum Ukraine-Krieg aus der historischen Sicht russischer Politiker auf Wertungen und Entscheidungen der NATO, Frau Susanne Spahn aus innerrussischen Machtverschiebungen und Etablierung von neuen politischen Kräften.

Beide Autorinnen verwenden den Begriff Russlandversteherin. Nur Krone-Schmalz analysiert diesen heute zum Schimpfwort mutierten Begriff genauer und verweist darauf, dass „verstehen“ eben nicht „Verständnis haben“ bedeutet. Susanne Spahn verwendet diesen Begriff eher, um ihren persönlichen Lebensweg beziehungsweise Wandlungen ihrer Wertungen zu beschreiben.

Diese Achtsamkeit im Umgang mit Begriffen insbesondere von Journalisten zieht sich bei Krone-Schmalz wohltuend durch den gesamten Text. Immer wieder weist sie die Leserschaft auf Verschleierungstaktiken, Ungenauigkeiten oder bewusste Doppelzüngigkeit auch in Aussagen von Politikern hin. Beispielhaft – die jeweilige Verwendung der Begriffe Partisanen, Rebellen, Widerstands- oder Freiheitskämpfer, Aktivisten, Separatisten, Terroristen.

Sie geht ausführlich auf die Geschichte der Ukraine ein, der eine historische Kontinuität fehle. In diesem Zusammenhang arbeitet sie gleichsam heraus, dass es müßig wäre auf eine Abdankung von Putin als Lösung bestehender Weltprobleme (sie ordnet den Ukrainekrieg immer wieder in globale Entwicklungen ein) zu warten. Auch ein potentieller Nachfolger würde sich bei der Vorgeschichte der europäisch-russischen Beziehungen nicht mit wehenden Fahnen der westlichen Wertegemeinschaft anschließen. Generell sei es ein Trugschluss anzunehmen, dass alle Menschen dieser Welt den sehnlichsten Wunsch hätten, zum Westen zu gehören und nach dessen Regeln zu leben. In diesem Zusammenhang geht sie auch auf unterschiedliche Bewertungen der Begriffe (und damit auch Realitäten von EU) und Europa in der Bevölkerung ein. Sie setzt sich ausführlich mit dem Selbstverständnis der NATO und dem Sinn dieses Bündnisses nach dem Verschwinden des Warschauer Paktes auseinander. Hier werden dann Aktivitäten der NATO nach 1990 genauestens beschrieben und analysiert und darauf verwiesen, dass Interessen der USA in vielen weltweiten Konflikten, so auch im Ukrainekrieg, kaum thematisiert und analysiert werden.

Susanne Spahn beschäftigt sich gleichfalls mit der Rolle der Medien, allerdings eher der russischen im Sinne von Netzwerken zur Unterstützung Putins. Gleiches gilt für ihre Analyse der russischen (Schein)Demokratie. Dazu setzt sie sich auch mit Aussagen von Krone-Schmalz auseinander und kleidet dies in fünf Narrative, die nicht nur für diese, sondern auch für andere deutsche Experten charakteristisch seien: 1. Der Westen versteht Russland nicht. 2. Alle Probleme lassen sich im Dialog lösen. 3. Der Kreml sorgt für Stabilität und Ordnung. 4. Russland ist für Demokratie nicht geeignet. Und 5. Der autoritäre Führer bringt Demokratie. Die Quellen für die Etablierung dieser Narrative sind dürftig, die Auseinandersetzung eher knapp. Gleiches gelte für die später „dem König der deutschen Wirtschaft in Russland“, Klaus Mangold (Vorsitzender des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft) zugeordneten Narrative über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland.

Die Stärken dieses Buches liegen zum einen in der eingeflossenen Biografie der Autorin, ihren Russlandaufenthalten und den dabei geführten Gesprächen und dadurch nachvollziehbaren Veränderungen in ihren Wertungen. Zum anderen analysiert sie ausführlich den „hybriden Krieg“, das heißt die Verflechtungen unterschiedlicher Medien und Personen in ihren positiven Berichterstattungen zu W. Putin, zu Russlands Politik und deren Unterstützern im Ausland.

Gabriele Krone Schmalz: Russland verstehen? Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. Erweiterte Neuausgabe, Westend Verlag, Neu-Isenburg 2023, 220 Seiten, 20,00 Euro.

Susanne Spahn: Das Russland-Netzwerk. Wie ich zur Russlandversteherin wurde und warum ich es heute nicht mehr sein kann. Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt a.M. 2024, 288 Seiten, 24,00 Euro.

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Unter dem Titel „Reise in einen vergangenen Staat“ haben die beiden Geschäftsführer des DDR-Museums in Berlin durch zwei Historiker einen Begleitband zur Ausstellung erstellen lassen, der durchaus auch ohne einen Museumsbesuch wesentliche Einblicke in die Geschichte und den Alltag der DDR gibt – vielleicht überdies zum Besuch anregt. Im aufklappbaren vorderen Cover wird auf besondere Objekte der Schau im Museum verwiesen (etwa die Kittelschürze), im hinteren Cover auf Bezirke der DDR mit markanten Wahrzeichen (u.a. Teepott in Warnemünde).

Der Führer selbst ist übersichtlich in zehn Abschnitte gegliedert: Staat und Partei; Militär und Staatssicherheit; Ideologie und Propaganda; Arbeit und Wirtschaft; Familie, Gesundheit und Bildung; Sport und Freizeit; Wohnen und Bauen; Handel und Versorgung; Kultur und Medien; Ende und Neubeginn gegliedert, zahlreich bebildert und mit Grafiken versehen (Joris Buiks ist der Grafikdesigner). Danach folgen noch eine kurze Chronik, sowie Literatur- und Abbildungshinweise.

Als Frau hätte ich mir natürlich eine stärkere Gewichtung des Themas Gleichberechtigung, Möglichkeiten für Emanzipation und Teilhabe und die dafür geschaffene Sozialgesetzgebung, gewünscht – und nicht nur den Satz, dass diese nicht vollumfänglich verwirklicht werden konnte – aber der Führer wurde ja durch zwei Männer geschrieben … Vielleicht nehmen die Herausgeber das als Anregung, für die sechste Auflage eine Frau mit zu engagieren. Insgesamt entstand bei mir beim Lesen manchmal der Eindruck, dass eher die negativen bzw. nicht realisierten Entwicklungen herausgestellt wurden und nicht das Erreichte und bis heute positiv wahrgenommene. So ist mir der Satz „Die Hälfte der Gesundheitsausgaben entfielen deshalb auf die Prophylaxe“ (S. 113) zu nüchtern – aber dies mag der notwendigen Kürze eines solchen Führers geschuldet sein. Auch die Situation und Rolle der Kirchen taucht leider kaum auf (gerade hier wären nicht nur Statistiken interessant gewesen) und vor allem fehlt mir ein Kapitel zu DDR-Witzen. Mögen die Herausgeber dies nicht nur als Anregung für die überarbeitete Auflage, sondern auch für die Ausstellung verstehen.

Parallel zum Buch wurde auch das Spiel „Bürokratopoly“ ein Lehrspiel aus der DDR neu aufgelegt und kann im Museum erworben werden. In den frühen 18er Jahren nahm sein Urheber Martin Böttger damit den Staat aufs Korn. Hier kommt man nicht ins Gefängnis, wenn man die entsprechende Karte zieht, sondern wenn man Honecker-Witze erzählt hat, oder Bananen unter dem Ladentisch verkauft hat. Entsprechend war das Spiel zu DDR-Zeiten verboten, die Stasiakte dazu ist dem Spiel ebenso beigefügt, wie Erläuterungen zu bestimmten Begriffen und Regeln aus DDR-Zeiten. Ziel des Spieles ist übrigens nicht die anderen Mitspieler in den Bankrott zu treiben, sondern Generalsekretär der SED zu werden … Na denn, auf in einen vergangenen Staat!

Sören Marotz, Stefan Wolle (Autoren); Quirin Graf Adelmann v. A., Fordon Freiherr von Godin (Hrsg.): Reise in einen vergangenen Staat. DDR-Führer. Museumsverlag GmbH, Berlin 2024, überarbeitete und erweiterte 5. Auflage, 244 Seiten, 12,50 Euro.