In einem halben Jahr wird Polens neuer Staatspräsident gewählt, der nationalkonservative Amtsinhaber Andrzej Duda kann nicht noch einmal antreten. Jetzt haben die wichtigsten politischen Gruppierungen ihre Kandidaten bereits in Stellung gebracht, die Situation ist einigermaßen übersichtlich. Laut Umfragen haben nur die Kandidaten der von Jarosław Kaczyński geführten Nationalkonservativen und der Bürgerkoalition von Ministerpräsident Donald Tusk berechtigte Chancen, in die Stichwahl zu ziehen. Entsprechend wurde mit Spannung erwartet, wer ins Rennen geschickt werden würde.
Die Tusk-Mannschaft entschied sich für eine Befragung der Parteibasis, zur Auswahl standen der Warschauer Stadtpräsident Rafał Trzaskowski sowie Außenminister Radosław Sikorski. Das Rennen machte Trzaskowski mit einem überaus klaren Ergebnis, denn 75 gegen 25 Prozent standen am Ende für den 52-Jährigen zu Buche. Trzaskowski vertritt liberale Positionen, die linksliberal geöffnet sind, was ihm im gemäßigt konservativen Lager mitunter vorgeworfen wird. Der 61-jährige Sikorski hatte mit betont konservativen Akzenten geworben, meinte, die böten eine bessere Chance, wenn es im Mai 2025 gilt, den nationalkonservativen Konkurrenten zu schlagen. Ministerpräsident Tusk verwies voller Stolz darauf, dass ein solches Element demokratischer Vorwahlen erstmals in Polen gewagt worden sei. Bei den Nationalkonservativen, so der Seitenhieb, werde wie immer der eine Mann alleine entscheiden.
Kaczyński folgte mit der Verkündung seines Kandidaten einen Tag später, die Entscheidung sorgte für Überraschung. Ins Rennen wird Karol Nawrocki gehen, der amtierende Direktor des staatlichen Geschichtsinstituts IPN. Der 41-jährige Historiker ist parteilos und hatte ab 2017 das für die nationalkonservative Geschichtspolitik so überaus wichtige Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk geleitet, bevor er im Mai 2021 zum IPN-Chef berufen wurde. Von nationalkonservativer Seite hieß es schnell, der Kandidat sei mit der jüngeren Geschichte tief vertraut, wisse also, woher der einzuschlagende Weg komme, sei aber zugleich ein Mann der Zukunft. Kaczyński erklärte es in seiner Weise, also markig: „Unsere Entscheidung ist auf Grund der persönlichen Vorzüge des IPN-Direktors gefallen, auf Grund seines Lebensweges. Außerdem war entscheidend, dass wir es heute mit einer besonderen Situation zu tun haben, die als innerer Krieg bezeichnet werden kann. Ein polnisch-polnischer Krieg. Wir wollen diesen Krieg nicht. Es wurde also eine glaubwürdige Person gebraucht, die unabhängig von politischen Formationen ist, die den Willen hat. Nawrocki wird in der Lage sein, den Krieg zu beenden. Nicht im Interesse einer Partei – im Interesse Polens.“
Wie 2015 überrascht Kaczyński mit einem im politischen Geschäft wenig gestählten Kandidaten. Damals rief die Entscheidung, gegen Amtsinhaber Bronisław Komorowski, der sich dauerhaft hoher Zustimmungswerte erfreute, ausgerechnet mit dem außerhalb der eigenen Reihen kaum bekannten Hinterbänkler Duda anzutreten, viel Kopfschütteln hervor. Auch der Schreiber dieser Zeilen hielt Anfang 2015 in Deutschland etliche Vorträge, in denen er die Sache bereits für entschieden hielt. Umso verwunderter rieb er sich im Juni 2015 die Augen. Mit einer Wiederholung dieses Coups rechnet Kaczyński auch im kommenden Jahr. Allerdings springt ein Unterschied sofort ins Auge: 2015 schaltete das nationalkonservative Lager komplett auf Angriff, auf Sturm und Drang, forderte lauthals gleich eine neue Verfassung, damit das Land gesunden könne, und übertölpelte den überraschten Gegner, der sich auch gehörig einlullen ließ von trügerischer Zuversicht. Jetzt ist aber Verteidigung die Losung, denn das vom eigenen Mann besetzte Präsidentenamt soll nicht an den verhassten Gegner herausgegeben werden.
Wie wichtig dieses Amt für das von Tusk geführte Regierungslager wiederum ist, sei an einem Beispiel gezeigt. Die Abtreibungsfrage hatte bei der Mobilisierung zu den Parlamentswahlen im Oktober 2023 eine große Rolle gespielt. Die verbreitete Wut gegen das erzkonservative Abtreibungsrecht, das Kaczyński im Herbst 2020 im Auftrag der katholischen Kirche durchsetzen ließ, kam den liberalen Positionen im Tusk-Lager entgegen. Die Tusk-Regierung versprach dann auch, bei einem Wahlsieg schnelle Abhilfe zu schaffen und das diskriminierende Abtreibungsrecht zu beseitigen. Bis heute ist allerdings kaum etwas geschehen, im Kaczyński-Lager höhnt es bereits, dass – im Unterschied zu den eigenen umgesetzten Wahlversprechen, etwa dem gesetzlichen Kindergeld – die Wahlversprechen bei Tusk & Co. nichts zählten. Hintergrund ist aber, dass jeder Änderungsversuch auf Regierungsseite von Staatspräsident Duda blockiert wird, dessen Veto im Sejm mit Zweidrittelmehrheit überstimmt werden müsste, von der das Regierungslager weit entfernt ist. Die Hoffnung besteht also, dass mit einem Präsidenten aus dem eigenen Lager das Versprechen beim Frauenrecht gegen den heftigen Widerstand von Nationalkonservativen wie katholischer Kirche eingelöst werden könnte.
Trzaskowski steht im Ruf, ein Linksliberaler zu sein, ein entschiedener Gegner der Kaczyński-Abtreibungspolitik und der LGBTQ+-Feindschaft im nationalkonservativen Polen. So wundert es kaum, dass dessen Gegner sich entsprechend einschießen: Er sei Gender-Ideologe, wolle im öffentlichen Raum das Christenkreuz verbieten, sei Regenbogen-Fanatiker und werde obendrein den von der Kaczyński-Partei geplanten neuen Zentralflughafen für Polen kurzerhand dem Konkurrenten in Berlin zuschieben, also von der Liste der Investitionen streichen!
Erinnert sei zum Schluss daran, dass Trzaskowski im Juli 2020 denkbar knapp an Duda scheiterte, beide Kandidaten holten jeweils über 10 Millionen Stimmen, was von der unglaublichen Mobilisierung, aber auch Polarisierung zeugte. Das Regierungslager setzt nun vor allem auf Mobilisierung, das Kaczyński-Lager auf Polarisierung.
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