Ich habe Sie neulich im Fernsehen gesehen“, sagt der Mann und verharrt beim Gang zum Ausgang. „Sie haben doch in dem Kati-Witt-Film mitgespielt, nich?“
Der Angesprochene legt die Gabel aus der Hand. Mitgespielt habe er nicht gerade, aber er habe auf die Fragen geantwortet, die ihm vor der Kamera in dieser MDR-Doku gestellt worden waren.
„Aber Sie sind doch der Herr Krenz?“
Auf die Bestätigung dieser Vermutung folgt ein Dialog, in den sich auch die Begleiterin des Mittvierzigers einbringt. So hören denn auch die anderen am Mittagstisch Sitzenden, dass er aus Schleswig-Holstein und seine Frau aus Ostberlin komme, dass diese zu DDR-Zeiten ebenfalls Hochleistungssport getrieben habe und dergleichen Privates mehr. Beide betonen ein ums andere Mal, dass sie es kaum fassen können, Egon Krenz hier in Lichtenberg zu treffen, den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR. Und das ausgerechnet am 7. Oktober.
Der 87-jährige Krenz lächelt. Er ist es gewohnt, auch beim Essen um ein Selfie gebeten zu werden. Zumindest im Osten. Vermutlich war auch dieses Lokal bis 1990 eine Wohngebietsgaststätte an dieser viel befahrenen Kreuzung in Alt-Friedrichsfelde, jetzt ist es das Steakhouse Giovanni.
Krenz sagt, er habe bis zum 40. Jahrestag alle DDR-Jubiläen bewusst erlebt. Dass aber der 75. Geburtstag unter diesen schrecklichen Umständen stattfindet – Krieg in Europa, Krieg in Nahost, Handelskriege weltweit und dazu eine Propaganda, die das deutsche Volk „kriegstüchtig“ machen soll –, das habe er sich nie vorstellen können.
Wahrscheinlich denken die anderen am Tisch ebenso. Nicht nur, weil sie der Krenz-Generation angehören und seine Überzeugung teilen.
Der Ex-Staatsratsvorsitzende hat, als er sich hier zur Mittagsstunde niederließ, zuvor eine Rede gehalten. Das Ostdeutsche Kuratorium von Verbänden (OKV) hatte in den Münzenbergsaal am Franz-Mehring-Platz geladen. Es war seine zweite Rede aus eben jenem Anlass. Die erste hielt er am Samstag im Berliner Kino „Babylon“. Die Redaktion der jungen Welt hatte eingeladen. Über fünfhundert Leute waren erschienen, um sich die Frage beantworten zu lassen: „Was bleibt?“ Von diesem Land, von den Menschen, die darin lebten, von ihren Erfahrungen und Überzeugungen. Das Konzept brach erkennbar mit den gängigen Mustern, weshalb es kaum verwunderte, dass sich ein Mann im Auditorium erhob und seinem Missfallen Ausdruck verlieh. Auf der Bühne saßen vier vergleichsweise junge Frauen, die zwar in der DDR geboren worden waren, aber nicht lange in ihr gelebt hatten. Die jüngste – Jahrgang 1992 – nicht mal einen Tag. Es war die Tochter des „singenden Baggerfahrers“ Gerhard („Gundi“) Gundermann. Der Mann rief in den Saal, dass er anderes von dieser Gedenkveranstaltung erwartet hätte und nun enttäuscht sei. Er hatte offenkundig nicht verstanden, dass es hier weniger um die Beweihräucherung einer Verstorbenen ging, sondern darüber, was sie hinterlassen hat, was im Alltag fortwirkt und á la longue auch diese Gesellschaft (vielleicht) verändern wird. Genau das schilderten die vier Frauen: der Umgang der Geschlechter, mit dem Geld, mit den Kindern, mit Ausländern, mit Nazis, mit Kultur, mit den Wohnungen … Haltungen, die ihnen von ihren Eltern und anderen vermittelt wurden, die in der DDR ihre Prägungen erfuhren und diese gleichsam als Kindheitsmuster weitergaben.
Zuvor hatte Egon Krenz Grundsätzliches zum Friedensstaat DDR erklärt, so sollte es wohl nach der Erwartung des Zwischenrufers weitergehen. Aber gesagt war gesagt, warum das Gleiche noch mal wiederholen? Und wer hätte dies tun können? Krenz ist inzwischen ein Solitär, weil damals der jüngste im Politbüro. Im Übrigen: Die junge Welt suchte bewusst neue Formen des produktiven Umgangs mit dem Erbe – was die meisten im Saal goutierten.
Die Klassenkampfpresse des Kapitalismus natürlich nicht. Sie machte die Veranstaltung lächerlich und verhöhnte den Redner als „Märchenonkel“ (Tagesspiegel am 7. Oktober). Tags zuvor hatte der gleiche Autor – er heißt im Impressum „Leiter des Hauptstadtbüros“ – bereits online gelogen: „Der Ex-SED-Chef und Honecker-Nachfolger feiert Stalin, attackiert Baerbock und Pistorius und relativiert AfD-Wahlerfolge.“ Vermutlich war er auf einer anderen Veranstaltung.
Der Korrespondent der Tageszeitung (taz) war ganz gewiss im „Babylon“, er aber sah dort „Kuscheln mit Egon Krenz“. Und die rechts verortete Junge Freiheit warnte in ihrer Ausgabe am 7. Oktober mit einem Krenz-Foto: „Er ist wieder da.“ Also nicht nur der Russe wird bald wieder in Berlin einrücken, sondern auch „Ex-SED-Chef Krenz“, um vermutlich die DDR 2.0 auszurufen. Unter den zwei Dutzend Lesern, die das Echo zum dümmlichen Kassandra-Ruf lieferten, schrieb ein Joachim Reuter: „Wäre Krenz kein Kommunist, sondern ein ‚Rechter’, dann hätte man ihn längst zum Schweigen gebracht und kein Medium würde ihn noch wahrnehmen. Aber heute fühlt sich die politisch mediale Klasse gebauchpinselt, wenn ein solcher Drecks… sie lobt.“
Allein die wenigen Presse-Zitate an diesem Tage zeigten, wie kreuz und quer die Linien durch krude Hirne und Lager laufen. Die Borniertheit und die Rhetorik des Kalten Krieges scheint sie aber alle zu einen.
Am Abend des Jubiläums feierte die Peter-Hacks-Gesellschaft im Café „Sybille“ an der Karl-Marx-Allee. Hacks, der sozialistische Klassiker, lieferte die Vorlage. Einst war er der meistgespielte Dramatiker in beiden Deutschländern, bis er den Rauswurf Biermanns begrüßte und „Das Vaterland“ mit den drei Buchstaben pries: „Es war ein Staat und scheute das Verbrechen.“ Auch die Schauspielerin Jennipher Antoni – eine der vier Frauen im „Babylon“ auf der Bühne – hatte dort Hacks umfangreich zitiert. Hier nun, an diesem traditionsreichen Ort, der „Sybille“, füllte der vermutlich klarsichtigste Dichter der DDR ein ganzes Programm zum „Land, wo jeder Dach und Arbeit fand“. Und danach sangen und spielten Hartmut König und seine musikalischen Gefährten neue und alte Lieder, die auch das Dilemma von Hacks offenbarten: „Wie lob ich es? Wie enden, wie beginnen?“
Krenz saß in der ersten Reihe und musste mal nicht reden. Allenfalls gelegentlich mitsingen. Als es schon dunkel war, brach er auf, er musste noch nach Dierhagen zurück. Nach mehreren Tagen im Hotel war das Bedürfnis nach einer Nacht im eigenen Bett verständlicherweise groß. Außerdem musste er sich endlich wieder an den Computer setzen, um den dritten Band seiner Erinnerungen fortzuschreiben: Der sollte eigentlich zum 75. Jahrestag herauskommen, jetzt hofft er, es bis zum Jahresende zu schaffen.
Egon Krenz war schon seit dem 1. Oktober in Berlin, und wieder war eine Woche vorüber ohne eine Zeile am Manuskript. An jenem Tag wohnte er der Vorstellung der Biografie des russischen Kulturoffiziers Tulpanow bei, später ging es in die chinesische Botschaft, um den 75. Geburtstag der Volksrepublik zu feiern, dem neuen Botschafter die Hand zu schütteln und mit dem alten Weggefährten Gerhard Schröder ein paar Worte zu wechseln. Ja, auch der war wieder gekommen. Nicht wegen Krenz, aber vielleicht auch seinetwegen. Irgendwann werde man das Gespräch in Dierhagen fortsetzen, das seit den frühen achtziger Jahren geführt wird, hieß es.
Wieder daheim verfolgte Krenz die salbungsvollen Reden, die man am 9. Oktober in Leipzig hielt. Verärgert griff er in die Tasten, als er hörte, wie Scholz die DDR-Geschichte für die Bundesrepublik vereinnahmte. „Trotz der Gerüchte über aufgestockte Blutkonserven und Extraschichten in Leipziger Krankenhäusern“ seien die Menschen auf die Straße gegangen, sagte der Bundeskanzler. Krenz widersprach ihm. Dieses „Gerücht“ sei erst am 9. Oktober 2009 von Bundespräsident Horst Köhler in die Welt gesetzt worden. „Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen“, erklärte Köhler damals. „Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.“ Nichts von dem stimmte, entrüstete sich Krenz, der damals vor Ort war. Es gab weder Panzer vor noch in der Stadt. Es gab auch keinen Befehl an die Polizei, auf Demonstranten zu schießen. Es wurden weder Blutplasma noch Leichensäcke bereitgestellt. Obgleich damals dieser unzutreffenden Behauptung öffentlich widersprochen wurde, tauche sie alle Jubeljahre in dieser oder ähnlichen Weise wieder auf. Jetzt wieder, monierte Krenz mit allem Recht. Und Scholz füge dieser Mär eine weitere hinzu, wenn er die Leipziger Ereignisse vom 9. November 1989 nunmehr für die spätere „deutsche Einheit“ vereinnahme, entrüstete er sich. Die Losung „Wir sind ein Volk!“ kam erst Ende November in die Montagsdemonstrationen. Und zwar aus dem Westen. Zusammen mit Reichskriegsflaggen.
Seinen Widerspruch schickte er an die Deutsche Presseagentur. Die ignorierte sie. Ach so, der Märchenonkel …
Was macht eigentlich Egon Krenz?
„Es ist jetzt 13.35 Uhr, seit 9 Uhr lese ich nur Post“, schrieb er an seinen Lektor in Berlin nach der Rückkehr an den Schreibtisch. Der hatte verstanden.
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