27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Oder-Neiße-Grenze

von Jan Opal, Gniezno

Gregor Gysi spitzt gerne zu, sobald die Rede auf Fehlstellen beim Verschlucken der DDR durch die übermächtige Bundesrepublik kommt: Übernommen worden sei nur das grüne Ampelmännchen. Will sagen, dass unbestreitbare Errungenschaften der DDR wie die Polikliniken oder ein Schulsystem, das lange gemeinsame Lernzeiten erlaubte, keine Chance auf Übernahme gehabt hätten. Das Bonner Muskelspiel gegenüber der havarierenden DDR war in der zur Schau gestellten Großmannssucht kaum zu überbieten. Die Vollstrecker des Bonner Willens brachten es gerne so auf den Punkt: Beitritt ist Beitritt – ist Anschluss!

Und doch gibt es in der Mitgift der DDR, die Bonn insgesamt schnell wie billig und ganz nach eigenen Vorstellungen schlucken konnte, zumindest eine Ecke und Kante, an der man sich schnell die Zähne ausbiss. Am 21. Juni 1990 erklärten Volkskammer wie Bundestag in gleichlautenden Erklärungen, dass die Oder-Neiße-Grenze die Grenze Deutschlands zu Polen auch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik bleiben werde.

Bundeskanzler Helmut Kohl drückte es vor den Heimatvertriebenen im August 1990 so aus: „Die Grenze Polens zu Deutschland, wie sie heute verläuft, ist endgültig. Sie wird durch Gebietsansprüche von uns Deutschen weder heute noch in Zukunft in Frage gestellt.“ Die vielfach erboste Zuhörerschaft verstand es als territoriale Verzichtserklärung, wogegen Kanzler Kohl pragmatisch gegenhielt, was man für den Verzicht eintausche: „Ein freies und geeintes Deutschland in einem freien und geeinten Europa – das ist unser Ziel. Im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche werden wir – das steht heute bereits fest, die volle Souveränität für das vereinte Deutschland erreichen.“ Aus Sicht der Heimatvertriebenen wurden nun diejenigen Gebiete, die ihnen bislang als „unter polnischer Verwaltung“ stehend galten, kaltherzig der neuen deutschen Einheit geopfert.

Der Bundestag hatte bereits am 8. März 1990 erklärt: „Das polnische Volk soll wissen, dass sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.“ Warschau begrüßte die Erklärung als einen richtigen Schritt, doch bleibe der unzureichend, fehle doch jeder Hinweis auf die Oder-Neiße-Grenze.

Noch setzten einflussreiche Kräfte in Bonn auf Hintertürchen, die sich in der Annahme gründeten, dass ein vereintes Deutschland nicht gebunden sei an Erklärungen zur Grenze zu Polen, die von der DDR oder der Bundesrepublik unterzeichnet worden waren. Noch geisterte Vielerorts das Gespenst herum, dass Deutschland rechtlich, historisch und politisch weiterhin in den Grenzen von 1937 existiere. Erst ein Friedensvertrag der Siegermächte mit Deutschland werde das ändern. Kurz gesagt: Das Vorgehen der Bundesrepublik seit Dezember 1970, das zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Warschau führte, wurde als vorläufig hingenommen, die ausgestreckte Hand in Richtung Polen sollte ausdrücklich nicht die Oder-Neiße-Grenze betreffen. Und immer noch geisterte ein ominöses Selbstbestimmungsrecht durch den Bonner Raum, nachdem die einseitig mit Gewalt vorgenommene Änderung von Grenzen in Europa seit Helsinki 1975 endgültig vom Tisch war. Wie wenn die Bevölkerung in Polens Westwojewodschaften jemals für einen Betritt zur Bundesrepublik abstimmen könnte!

Polens schnelle Intervention Anfang 1990 – über alle verfeindeten Parteistühle hinweg! – rief die ehemaligen Siegermächte auf den Plan, die einhellig erklärten, dass die Westgrenze Polens an Oder und Neiße die Westgrenze Polens nach dem Zusammenschluss von DDR und Bundesrepublik bleibe. So schließlich Kohls klare Auskunft an die Heimatvertriebenen der Bundesrepublik im August 1990, einer Klientel also, die bis dahin aus wahltaktischen Gründen immer auf eine endgültige Lösung per Friedensvertrag vertröstet wurde.

Hier sei hinzugesetzt, dass die Haltung der DDR zur Oder-Neiße-Grenze auch nach dem Sturz der sozialistischen Ordnung im Herbst 1989 die gleiche blieb! Die letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière und mit Außenminister Markus Meckel ließ nie einen Zweifel daran. Aus deutscher Sicht auf den gewaltigen Vorgang, der die DDR in die Bundesrepublik aufgehen ließ, mag die Frage der Oder-Neiße-Grenze nur als Nebensächlichkeit erscheinen, eine Randnotiz gewissermaßen, deren einverständliche Lösung sich nahezu von selbst verstünde.

Aus der polnischen Sicht indes war diese Frage von eminenter Wichtigkeit. Viele Jahre später – im August 1996 – schrieb Jan Nowak-Jeziorański, langjähriger Emigrant und ganz gewiss kein Freund der untergegangenen DDR, in der konservativen Tageszeitung „Rzeczpospolita“: „1950 ratifizierte das DDR-Parlament den Vertrag von Zgorzelec, so dass die Nachkriegsgrenze anerkannt wurde. Das Parlament in Bonn tat dasselbe mit Stimmenmehrheit 20 Jahre später. Die damalige Opposition unter Helmut Kohl war dagegen, enthielt sich aber der Stimme unter der Bedingung, dass der Bundestag eine gesonderte Resolution verabschiede, wonach die Anerkennung der Grenze durch Westdeutschland keine Verpflichtung darstelle für ein künftiges vereintes Deutschland. Darauf berief sich Kohl 19 Jahre später, nachdem die Mauer gefallen war“.

Zur politischen Mitgift der DDR in das – westdeutsch geführte – vereinte Deutschland gehört die feste und nicht zu ändernde Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu Polen. Auf dieser Grenze stützen sich große Teile des deutsch-polnischen Verständigungswerkes seitdem, auch wenn das kaum noch herausgehoben zu werden braucht. Und ohne diese von beiden Seiten gleichermaßen anerkannte Grenze wäre die sogenannte Osterweiterung der Europäischen Union – mitsamt dem Beitritt Polens – unmöglich gewesen. Somit symbolisieren die beiden Stadtbrücken, die Frankfurt und Słubice, die Görlitz und Zgorzelec verbinden, wichtige Stützpfeiler der heutigen EU.