27. Jahrgang | Nummer 19 | 9. September 2024

Ein General wirft Fragen auf

von Petra Erler

Brigadegeneral a.D. Erich Vad, zuletzt militärischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat ein Buch zu deutschen, europäischen und internationalen Fragen der militärischen Sicherheit geschrieben. „Abschreckend oder erschreckend?“ fragt es und stellt fest: „Europa ohne Sicherheit“.

Nach einer großen politischen Karriere gehörte Vad bei Beginn des Ukraine-Krieges zu den gefragten Experten. Bis er, so ist auf Wikipedia zu lesen, wiederholt falsche Kriegsprognosen abgab und an der Seite von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer öffentlich für eine verhandelte Friedenslösung eintrat. Damit habe er seine „gute Reputation“ ruiniert.

In seinem Buch erklärt sich Vad. Schon deshalb sollte man es lesen. Wie denkt einer, der zu Clausewitz promovierte und dem dessen Einsichten in die politische Natur jedes Krieges nahe sind?

Man legt das Werk am Ende ein wenig ratlos und betroffen aus der Hand. Vad ist einerseits klassischer Anhänger einer US-geführten Weltordnung, andererseits sieht er Zeichen eines verfallenden Imperiums an der Wand. In diesem Dilemma bleibt er stecken.

Was er zum Ukraine-Krieg schreibt, ist die konsequente Ableitung der Lehren von Clausewitz. Ein Krieg ist eine zu ernste politische Sache, um ihn militärischen Zufällen und Unwägbarkeiten zu überlassen. Vor allem aber findet Erich Vad, dass ein Krieg, wenn er schon geführt wird, politische Ziele braucht und die klare Aussicht, ihn auch zu gewinnen.

Vads Abfall vom dominanten politischen Glauben besteht darin, dass er die Strategie „Siegfrieden“ nicht teilt, ebenso wenig wie die Annahme, man könne Russland militärisch besiegen oder gar ruinieren. Selbst wenn das gelänge, was käme danach auf Europa zu, so lautet seine Frage.

Das unterscheidet sich nicht von Äußerungen der ehemaligen Bundeskanzlerin, irgendwann werde man wieder mit Russland reden müssen, oder des Nato-Oberbefehlshabers Christopher Cavoli: Nach dem Krieg werde Russland noch da sein, stärker, direkt an der Nato-Grenze gelegen, überzeugt, dass der Westen der Gegner sei und furchtbar wütend.

Was Vad zu Lösungsmöglichkeiten des Konflikts zu sagen hat, erinnert an Äußerungen Mark Milleys, des einstigen US-Stabschefs, und an Überlegungen der Pentagon-nahen RAND-Corporation. Es erinnert an die geleakten Briefings, die dem US-Hauptquartier Anfang 2023 vorlagen und die der Kriegswirklichkeit sehr viel näher waren als das, was politisch inbrünstig geglaubt und medial verkündet wurde. Die Washington Post räumte das Ende 2023 unumwunden ein. Die messianischen Verkünder einer erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive, die im August 2023 die Krim wieder in ukrainischer Hand sahen, hatten schlicht keinen Schimmer von militärischen Realitäten.

Spätestens die verzweifelte Kursk-Offensive der Ukraine 2024, in der Nato-Gerät, auch deutsche Panzer, nunmehr auf ur-russischem Boden rollt, bestätigt Vads Überzeugung, dass man das Politische eines Krieges nie aus den Augen verlieren darf.

Das vorausgeschickt, zeigt das Buch ebenfalls deutlich, dass Vad der US-geführten Weltordnung anhängt. Er sieht, dass sie wankt. Er will eine stärkere europäische Rolle im Kampf der Großmächte. Er stellt wichtige Fragen zur Zukunft der Bundeswehr, der EU und der Nato. Allerdings gelingt es ihm nicht, die Perspektive zu wechseln, gewissermaßen über den eigenen militärischen und ideologischen Schatten zu springen. Sein Buch hilft zu erkennen, wie hochrangige, politisch erfahrene Militärs im Nato-Verbund gestrickt sind und wo ihre Grenzen liegen. So begriffen, ist es ein Enthüllungsbuch. Die eigentliche „Sünde“ des Exgenerals besteht allein darin, dass er sein Denken offenlegt.

Vad will mehr Sicherheit für Deutschland, für Europa, für die USA. An keiner Stelle kommt ihm in den Sinn, dass Sicherheit im Atomzeitalter nach einer globalen Regelung verlangt, die das Menschheitsinteresse an die erste Stelle setzt. Er sieht die Welt als Spielball der Interessen dreier Großmächte: USA, China, Russland. Vad fürchtet, dass die EU untergebuttert werden könnte, womöglich von China oder Russland. China strebe nach Weltherrschaft im Jahr 2049. Also müsse die USA China jede Menge militärische Fesseln anlegen. Nicht auszuschließen sei, dass die Nato, auch Deutschland, in einem militärischen Kampf zwischen den USA und China eine Rolle spielen muss. Die deutsche Politik müsse darüber nachdenken, was sie von einer solchen Option hält.

Werte sind aus Sicht des Buchautors gut und schön, aber in den Staatenbeziehungen nicht dominant. Was zähle, seien Interessen und militärische Kapazitäten. Er ist (fast) entschieden, wie sich Europa (EU-NATO) grundsätzlich zu positionieren habe: als Partner der Verteidigung der US-Hegemonie, denn auf längere Sicht gäbe es keine Alternative zur Sicherheit, die von den USA garantiert werde. Ein bisschen mehr europäische „Augenhöhe“ hält er allerdings für erstrebenswert. Mit China sollte es sich Deutschland nicht vollends verderben, schon des Exports wegen. Beim Import aber solle man aufpassen.

Der globale Süden gilt dem Autor allenfalls als Spielball der Mächtigen ohne eigenständige Rolle. Zwischen China und Russland oder in deren Beziehungen zu anderen Staaten Augenhöhe zu vermuten, kommt ihm nicht in den Sinn.

In puncto Interessenpolitik denkt er ähnlich wie John Mearsheimer, nur dass der US-amerikanische Politikwissenschaftler die Verursachung des Ukraine-Krieges letztlich auf das Konto der Nato bucht, was sich Vad so nie erlauben würde. Bei ihm heißt es eher: Ein paar kleine Fehler auf westlicher Seite gab es in den letzten Jahrzehnten, aber eigentlich waren sie unbedeutend, verzeihlich. Russland ist das Böse, bleibt das Böse. Nur ist das Böse für Vad keine politische Kategorie

Zu meiner unmittelbaren Reaktion auf das Gelesene gehörte die Frage, ob unser Land nicht in größerer Sicherheit wäre, wenn wir uns umgehend der Neutralität verschreiben würden. Vads Beschreibung des erbärmlichen Zustands der Bundeswehr und im weiteren Sinn der EU-Nato waren schlicht zu deprimierend, als dass ich glaubte, das könnte sich in naher oder mittlerer Zukunft wesentlich ändern. Zumal ich die nukleare Abschreckung und das Prinzip der gegenseitig versicherten Vernichtung und tatsächliche Sicherheit für zwei Paar Schuhe halte. Selbstverständlich kommt Vad zu einer anderen Schlussfolgerung: In die Bundeswehr muss kräftig investiert werden, die EU muss sich ebenfalls kriegswirtschaftlich effizienter aufstellen. Der von Vad ausgemachte strukturelle Pazifismus in Deutschland, den er für eine Gefahr hält, ist zu überwinden. Kurzum, unser Land muss kriegstüchtiger werden.

Vad glaubt an Abschreckung als Rezept gegen Krieg, aber auch daran, dass Kriege manchmal unvermeidlich sind. Doch er will nur Kriege führen, die klare politische Ziele haben und gewinnbar sind, ohne größere eigene Schädigungen. Von Abrüstung hat er noch nie etwas gehört. An die souveräne Gleichheit aller Mitglieder der globalen Gemeinschaft glaubt er nicht. Nach der Lektüre des Buches kann ich mir besser vorstellen, warum Merkel und Vad harmonierten.

Der Autor versucht sich mit diesem Buch zu rehabilitieren, womöglich in der Hoffnung, seinen guten Ruf wiederherzustellen. Das wird ihm sehr wahrscheinlich nicht gelingen. Dazu ist das Werk zu ehrlich, auch in den Teilen, die Leserinnen oder Leser zum Widerspruch anregen oder die sie unbefriedigt zurücklassen, weil sie die Inkonsequenz bestimmter Denklinien spüren. Denn die Erich Vad den Ruf nahmen, können oder wollen ihn nicht verstehen. Sie sind sehr viel weniger ehrlich und realitätsferner als der Exgeneral, der in der „Zeitenwende“ ein bisschen gegen den Strom schwamm. Den verhandelten Frieden, den er frühzeitig forderte, will heute eine Mehrheit der Deutschen, wie eine INSA-Umfrage belegt. So ist er längst rehabilitiert.

Das öffentliche Meinungsbild und das politische Tun in Deutschland klaffen erkennbar auseinander. Auch weil die politische „Zeitenwende“ nicht auf einer umfassenden Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart basiert, sondern ideologischen Dogmen und Schimären folgt und Realitäten eher nicht zur Kenntnis nimmt. Vads Buch wurde kaum öffentlich besprochen. Aber so ist die „Zeitenwende“ eben auch.

Erich Vad: Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2024, 240 Seiten, 24 Euro.