27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Schlafwandler in die Urkatastrophe?

von Detlef Jena

Deutsche Politiker waren 2014 überzeugt, dass der 1914 begonnene Erste Weltkrieg die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts gewesen ist, weil daraus der Nationalsozialismus und das Grauen des Zweiten Weltkriegs erwachsen sind. Die Krakenarme der „Urkatastrophe“ reichen nun bis in das 21. Jahrhundert und widerlegen einmal mehr die These, dass die maßgeblichen Militärs und Politiker der verfeindeten Großmächte 1914 „schlafwandelnd“ in den Krieg, den keiner wollte, gestolpert seien.

Die aktuelle Fortsetzung begann mit dem Zerfall des von der UdSSR majorisierten Imperiums. Sie konzentriert sich auf den Konflikt zwischen Russland und Westeuropa. Der Krieg brach 2014/2022 mit dem russischen Angriff auf die Ukraine offen aus. Deutschland stand von Anfang an in der vordersten Linie, denn die Bundesrepublik hatte sich bis 2014 als stärkste wirtschaftliche und politische Macht im westlichen Europa etabliert. Erneut wurde auch die Frage diskutiert, welche militärpolitische Rolle das nach 1871 vereinigte Deutsche Reich im Konzert der Großmächte gespielt hat. Die 2014 von Russland betriebene Wiedereingliederung der Krim und einiger ukrainischer Gebiete hätte ja den Gedanken hervorrufen können, Deutschland tritt wie weiland Bismarck als „ehrlicher Makler“ auf den Plan, osteuropäische Konflikte zu entschärfen oder gar zu lösen. Das wurde zaghaft versucht, ist aber nicht gelungen. Man war ja in der NATO! Stattdessen ist eine lebensgefährliche Spirale der Gewalt in Gang gesetzt worden, über deren Konsequenzen die Welt uneins ist.

Russland folgt in der Ukraine der zarischen Sicherheitspolitik Peters I. und Katharinas II., die niemals das Ziel aus den Augen verloren, Russland als gleichberechtigte und anerkannte Großmacht in Europa zu etablieren. Die Eskalation des Krieges ist inzwischen soweit gediehen, dass, so der deutsche Militärhistoriker Söhnke Neitzel bei einer Befragung durch das ZDF, Europäische Union und NATO in der Ukraine einen indirekten Krieg gegen Russland führen, um die Ideale der freiheitlichen Demokratie gegen die diktatorische Autokratie Putins zu verteidigen. Taktgeber für das Handeln der EU und der NATO sind die USA.

Russland ist jedoch trotz aller westlicher Bemühungen mit Waffen und Geld für die Ukraine nicht zu besiegen. Für den ukrainischen Präsidenten Selenskyj und die Falken in der deutschen Politik kommt vor einem Frieden allein die russische Niederlage in Betracht. Schon donnert der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel: „Es braucht das klare Signal an Putin: Stoppe diesen Krieg – oder wir tragen ihn zu dir.“ Die Verteidigung der westlichen Freiheitsideale ist allerdings bekanntlich bereits am Hindukusch gescheitert. An Napoleon muss man nicht mehr erinnern.

Eine ganz andere Gefahr zieht herauf, von den militanten freiheitlich-demokratischen Strategen irritiert betrachtet: Nach dem Zusammenbruch der großen Monarchien im Jahre 1918 wurde Europa von Portugal bis Sowjetrussland mit einem Netz autoritär oder diktatorisch regierter Nationalstaaten überzogen, deren machtpolitische Ambitionen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst haben. Die Tendenz zum Totalitarismus ist heute innerhalb einzelner Ländern der EU und der NATO wieder virulent. In Deutschland steht die Bundesregierung dem Wahlerfolg der „Alternativen“ in jenen Bundesländern, die nach 1989 aus der Diktatur hervorgegangen sind, nahezu hilflos gegenüber.

Wie wird sich eine künftige „rechtspopulistisch“ dominierte Staatengruppe in der EU zu einem Friedensschluss mit Russland und zu einer Ukraine verhalten, die nach Geschichte und innerer Struktur Russland weit ähnlicher ist, als der liberale Westen es wahrhaben will?

110 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs droht der Begriff einer „Urkatastrophe“ trotz aller bisherigen zaghaften Ansätze zum Frieden ein neues Gesicht für das 21. Jahrhundert zu bekommen.

Josef Stalin, der russische Diktator, hatte auf der Krim-Konferenz im Februar 1945 in einem Gespräch mit dem britischen Premier Winston Churchill auf dessen Bemerkung, das eigene Kriegserleben garantiere, dass es auf lange Zeit in der Welt friedlich bleiben werde, geantwortet, die nachfolgenden Generationen würden diese Erfahrungen weder kennen, noch teilen wollen. Es ist in der Tat erschreckend, wie leichtfertig in den Medien und in der Politik mit dem Grauen des Krieges umgegangen wird. Podcasts, wohin man blickt, mit Legionen von „Experten“, die vielleicht im Einzelfall mal auf dem Roten Platz in Moskau vor den Kremlmauern gestanden haben. Wenn es hoch kommt.

Jede Nation besitzt ihren eigenen Blick auf die Schrecken des Krieges. Es ist ehrenwert, wenn Historiker eine Formel für den gemeinsamen Nenner finden: „Der Erste Weltkrieg begann als europäischer Normalkrieg im Geist und Stil des 19. Jahrhunderts und wandelte sich in einen Kriegstyp, der bereits wesentliche Züge des totalen Kriegs trägt. Dazu gehören die Mobilisierung der kriegführenden Nationen zu Kriegsdienst und Kriegsproduktion, wie die Erstarrung der Strategie in gewaltigen Materialschlachten und die Radikalisierung der wirtschaftlichen Kriegführung zu einer totalen Blockade. Dass dies alles nur Zwischenstufen in einem viel weitergehenden Prozess waren, ist erst durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs sichtbar geworden.“ (Zitiert nach: Thüringische Landeszeitung vom 15. Februar 2014.) Und was blüht heute – angesichts der Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen?

In Deutschland ringt die politische Elite mit historischen Schuldgefühlen, schweigt aber nach der Nazi-Herrschaft im Konzert der Europäer, irritiert darüber, dass, bevor noch die Vergangenheit „bewältigt“ ist, schon wieder nach der militärischen Rolle Deutschlands in der Welt gefragt wird. Doch das deutsche Volk ist inzwischen weit davon entfernt, die Welt am deutschen Wesen Kaiser Wilhelms II. genesen zu lassen. Das Wort, von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen, besitzt Ewigkeitswert und überlagert jegliche Phrase, das Vaterland habe in fünf Jahren wieder kriegstüchtig zu sein. Warum glauben viele Menschen nicht mehr dem militärpolitischen Mantra, die Russen bedrohten in der Ukraine unsere deutsche Freiheit?

Die Antwort setzt sich aus vielen Komponenten zusammen, bekommt aber gerade einen ganz neuen Aspekt. Welche Bedeutung besitzt der jüngste Wahlerfolg der AfD in den östlichen Bundesländern für die deutsche Rolle im Ukrainekrieg und generell für die deutsche Verantwortung bei der Wiederherstellung des Friedens in Europa? Tatsache ist, dass die inneren Verhältnisse im politischen Deutschland von Jahr zu Jahr instabiler werden. Das ist kein Wunder, wenn Politik als Ware gehandelt wird. Woche für Woche überschwemmen bunte Angebotskataloge den braven Shoppingbürger. Woche für Woche nebeln politische Umfragen und Statistiken das eigenständige Denken der Bürger ein und führen zu keinem entschlossenen Agieren der Regierenden. Klagen des Einzelhandels über mangelnde Kauflust korrespondieren pünktlich mit Studien der Politik über die „Einsamkeit“ der Menschen. Also heraus Ihr Einsamen in die Konsumtempel oder nun auch wieder zu den Waffen!

Humanitäre Hilfe für das vom Leid getragene ukrainische Volk ist ein Gebot menschlicher Moral und Ethik. Es führt jedoch kein Weg zum Frieden, wenn der weltreisendende ukrainische Präsident an jeder Tür, an die er klopft, fordert, Waffen und Dollars zu spendieren, und diesem Ersuchen immer wieder stattgegeben wird.

Selenskyj dankt es der westlichen Welt mit einer Illusion: Frieden werde es in der Ukraine nur nach einer Niederlage Russlands geben. Wer hat sich in der Geschichte nicht schon alles in solchem Ziel geirrt und dabei den eigenen Kopf verloren … Bei einer erneuten „Urkatastrophe“ allerdings könnte dies auf alle beteiligten Seiten zukommen.