27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Stärkung der Friedenskräfte

von Jan Opal, Gniezno

Aus Ostdeutschland erhielt ich ein erstaunliches Signal: die Friedenkräfte seien gestärkt worden! Gemeint war das Ergebnis der Europa-Wahlen, wobei die mit einem Blick kaum zugängliche Europa-Ebene geschwind heruntergebrochen wurde auf die überschaubare Lage in den ostdeutschen Flächenländern. Die Entscheidung fast der Hälfte der teilnehmenden Wählerschaft, die Stimme entweder der Alternative für Deutschland oder der sich selbst suchenden Partei von Sahra Wagenknecht zu geben, hatte einen Hauch von Widerständischem, von Abenteuerlichem, vielleicht auch von Unerhörtem. Aber ist diese Stimmabgabe auch gleichzusetzen mit einer Stärkung von Friedenskräften? Wie wenn die anderen Parteien, die sich zur Wahl stellen, dem Krieg vorsätzlich in die Hände spielten!

Als die DDR von der Bühne verschwand, waren die neugebildeten ostdeutschen Bundesländer in der gleichen Sekunde Bestandteil der Europäischen Gemeinschaft. Längere Geburtswehen beim Eintritt in die europäischen Strukturen lernte man nicht kennen, denn alles, was an Transformationserfahrung durchlebt wurde, wird nahezu vollständig dem von Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble angeführten Beitrittsvorgang in Deutschland zugeschrieben. Das ist eine Spezifik, wie sie die späteren EU-Mitglieder aus der vormals sozialistischen Welt nicht kennen. Dort musste „Europa“ tatsächlich erkämpft, oft genug auch durchlitten werden, bevor der Zielstrich im Mai 2004 oder später durchlaufen werden konnte.

Hinter Görlitz auf sächsischer Seite wurde mir in heftiger Diskussion beschieden, dass Polen die Ukraine vor allem deshalb so entschieden unterstütze, weil es immer schon gegen Russland gerichtet sei, wozu ich mich nun erklären solle. Meine Entgegnung war, dass das, was aus deutscher Perspektive häufig als antirussisch erscheine, wohl in einem anderen Licht stehe, sobald eine östlichere Perspektive eingenommen werde, und sehr viel mit Erfahrungen aus unmittelbarer und nicht einfacher Nachbarschaft zu tun habe, die Deutschland in dieser Weise nicht teile. Zudem habe ein Land wie Polen in der Vergangenheit die Situation der Ukraine oft genug selbst durchlitten, wisse zu gut, was es bedeute, in einer solchen Auseinandersetzung mit dem mächtigen Russland alleine auf verlorenem Posten zu stehen.

In Potsdam wurde ich mit einem anderen Argument konfrontiert: mit Bismarcks Russlandpolitik. Der Reichskanzler habe eine strategische Russlandpolitik gepflegt, die heute wieder als mahnendes Vorbild dienen müsse, weil das regierende Berlin Bismarcks warnenden Hinweis, sich immer um ein Vertrauensverhältnis mit dem mächtigen Nachbarn Russland zu bemühen, sonst steige in Europa die Kriegsgefahr, selbstverschuldet aufgegeben habe. Die Ukrainesituation sei lediglich eine Folge des durch falsche Entscheidungen provozierten Bruches mit Russland.

Einmal abgesehen von der ganzen Widersprüchlichkeit in Bismarcks Russlandpolitik, denn in erster Linie folgte er immer den Erwägungen deutscher Interessenpolitik, so darf die Frage erlaubt sein: Gab es in Bismarcks Russlandüberlegungen überhaupt einen Platz für Polen? Und falls ja, welchen? Polen steht hier stellvertretend für den großen Zwischenraum, der Berlin von Moskau trennt. Der hat jetzt einen völlig anderen Zuschnitt als zu Bismarcks Zeiten, der ist nach den gewaltigen Umbrüchen von 1989 oder 1991 in einer völlig neuen, obendrein selbstbewussten Weise auf die politische Bühne getreten – ohne die europäischen Nachkriegsgrenzen im mindesten anzutasten! Sofort hörte ich den Vorwurf, dass es sich bei Ländern wie Polen, Estland, Lettland oder Litauen um Vasallen Amerikas, gleichsam um dessen kläffende Hunde handele.

Wladimir Putin mag den Zerfall der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe im 20. Jahrhundert beklagen, doch fällt bei ihm unter den Tisch, dass der entscheidende Demiurg beim schnellen Zerfall der Union im Jahre 1991 nicht etwa eine abspenstig gewordene Ukraine gewesen war, sondern vielmehr einflussreiche Teile der russischen Elite. Wer behauptet, die Sowjetunion sei zerschlagen worden, geht insoweit meistens in die Irre, wenn er die Verantwortlichen dafür außerhalb Russlands sucht.

Der Weg, Staatsgrenzen zu missachten, sie militärisch zu verletzen, das Nachbarland zu überfallen und fremdes Land zu annektieren, pocht auf Gründe, die erlauben, ausgemachtes historisches Unrecht auf diese Weise beheben zu dürfen. Zu den Voraussetzungen überzeugender Friedensarbeit in Europa aber gehört, dass bestehende Grenzen nicht einseitig verletzt werden sollten, weil das seit jeher größte Gefahr für den bestehenden Frieden – und mag er noch so wacklig sein – heraufbeschwört. Die lange Friedensperiode in Europa nach 1945 hielt, weil es neben aller Rüstungskontrolle und allen Abrüstungsversuchen ein unerlässliches Ringen um die Anerkennung der bestehenden Staatsgrenzen gab. Warum soll das jetzt anders sein? Warum sollten für Russland andere Maßstäbe gelten? Weil das Auseinanderfallen der Sowjetunion entlang der Grenzen zwischen den einstigen Unionsrepubliken womöglich den Raub heiligen russischen Bodens bedeutet? Es gibt nicht einen einzigen Fall, in dem eine ehemalige Sowjetrepublik – nun als unabhängiger und international anerkannter selbständiger Staat – einen Millimeter Boden der Russländischen Föderation beansprucht hat. Nicht einen einzigen Fall.

Insofern gleicht die Stimmabgabe für Parteien, die jetzt einen Waffenstillstand fordern, ein schnelles „Einfrieren“ des Kriegsgeschehens für eine Lösung halten, so als ob beide Kriegsparteien gleichermaßen in die Schuld für das Blutvergießen verstrickt seien, ganz bestimmt einer Stärkung für jene Sicht auf den Krieg, in der angreifende und angegriffene Seite kaum noch erkenntlich bleiben. Wer es anders sieht, wer daran festhält, dass es einen Angreifer gibt und einen Angegriffenen, macht sich in der Logik dieser Sicht friedenspolitisch verdächtig, rede er doch der Fortsetzung des Krieges das Wort, wenn er der Ukraine die nötige Unterstützung nicht versagen will.