27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Einstweilen die Stunde der Juristen

von Jan Opal, Gniezno

Polens Staatspräsident Andrzej Duda hat am 23. Januar 2024 sein Begnadigungsrecht erneut eingesetzt: Noch am selben Tag waren Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik auf freiem Fuß. Die beiden hochrangigen Politiker im Kaczyński-Lager – der eine war bis November 2023 Innenminister, der andere sein Staatssekretär – waren Ende 2023 wegen Amtsmissbrauch in einem spektakulären Fall von Korruptionsbekämpfung aus dem Sommer 2007 rechtsgültig zu einer zweijährigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt worden. Duda hatte die beiden bereits im November 2015 begnadigt, eine unter Juristen höchst umstrittene Entscheidung, denn er griff damals in das laufende Verfahren ein und erklärte beide für unschuldig. Am 11. Januar 2024 hatte er angekündigt, die beiden erneut zu begnadigen, wobei er bewusst auf seine Möglichkeit verzichtete, den kurzen Verfahrensweg zu wählen – die zur Haftstrafe Verurteilten wären schnell freigekommen. Stattdessen beauftragte er Adam Bodnar, den Justizminister und Generalstaatsanwalt, denn dieser habe das Verfahren entsprechend des Strafrechts durchzuführen.

Jarosław Kaczyński kritisierte anschließend Dudas halbherzige Entscheidung recht deutlich, denn ein solcher Verfahrensweg könne auch ein Jahr oder länger dauern. Umgekehrt lobte Donald Tusk jetzt das Staatsoberhaupt nach der abschließenden, der dritten Begnadigung in diesem Fall: Der Präsident habe sein Begnadigungsrecht jetzt ohne Fehl und Tadel angewendet. Tatsächlich könnte man meinen, die Gefahr einer handfesten Staatskrise, in die das Land in den ersten Wochen des Jahres abzurutschen drohte, sei abgewendet, denn der Begnadigungsakt wäre einer ohne Hintertürchen: Den verurteilten Straftätern werde die Verbüßung der Strafe erlassen,

Doch Duda bleibt hartnäckig: Er halte an seiner Entscheidung vom November 2015 fest, deshalb sei zunächst der längere Verfahrensweg über den Justizminister eingeschlagen worden. Seine jetzige Entscheidung sei lediglich die Abkürzung des Verfahrens, weil es der Justizminister mit seinen Mitteln aus politischen Gründen zu verschleppen drohte. Die Begnadigung von 2015 werde in keiner Weise aufgehoben, diese Frage stelle sich gar nicht. Für Duda sind die beiden Männer unschuldig. Demzufolge behielten sie ihre im Oktober 2023 errungenen Abgeordnetenmandate im Sejm und müssten auf die verwaisten Plätze zurückkehren. So will es auch Kaczyński, der seinen engen politischen Vertrauten Kamiński – ob nun als Abgeordneter oder als Märtyrer – als schneidige Waffe gegen die Tusk-Regierung braucht. Für Duda ist der Spuk vorbei, für Kaczyński beginnt der Tanz erst. Nachdem Kamiński das Gefängnis verlassen hatte, drohte er dem Ministerpräsidenten pflichtgemäß: Wir werden uns bald wiedersehen – im Sejm! Tatsächlich darf ein ehemaliger Abgeordneter zwar das Sejm-Gebäude betreten, nicht aber den Plenarsaal. Kamiński meint indes natürlich den Plenarsaal.

Es gibt Juristen, die Dudas Begründung für die Begnadigung scharf kritisieren: Laut Duda wären die beiden einstigen Korruptionsbekämpfer unschuldig, sie wären aus politischen Gründen mit richterlichen Mitteln verfolgt worden, weil sie die Korruption im Land bekämpft hätten! Andrzej Zoll, einst Präsident des Verfassungstribunals, hält den Auftritt des Präsidenten für beschämend. Mit keinem Sterbenswort sei Duda auf die Gründe für die Verurteilung der beiden Politiker eingegangen, die den Chef eines der drei Koalitionspartner in der damaligen Kaczyński-Regierung mit fingierten Mitteln zur Strecke zu bringen suchten, um desto leichter selbst an deren Wählerschaft auf dem Lande und in den kleineren Städten heranzukommen. Zoll sprach von einem politischen Verbrechen sondergleichen, das alles andere als ein Kavaliersdelikt sei. Hier wird ganz offen auf die engen Absprachen angespielt, die es damals zwischen dem seinerzeitigen Ministerpräsidenten Kaczyński und seinem obersten Korruptionsbekämpfer gegeben haben müsse.

Jetzt wird sich der innenpolitische Streit zuspitzen in der Frage, ob Kamiński und Wąsik Sejm-Abgeordnete sind. Einstweilen ein Mittel für Kaczyński, um für Unruhe und tüchtiges Durcheinander in der öffentlichen Diskussion zu sorgen. Verfassungsrechtler Marcin Matczak drückt es so aus: „Erstaunlich ist, wie leicht es Kaczyński gelingt, mittels Emotionen seine politischen Gegner zu lenken, obwohl er nicht mehr an der Macht ist. Seit einem Monat diskutiert eine lärmende Minderheit ausschließlich über die Frage zweier Verurteilter und ihrer Begnadigung, ganz, wie er es will. Für Polen scheint kein anderes Thema wichtig zu sein.“

Kaczyński zielt auf die offene Konfrontation mit dem Gegner, längst ist ihm der enge Rahmen des Plenarsaals im Sejm-Gebäude zu klein geworden. Die Bresche, die das Regierungslager nach dem Amtsantritt zunächst in die Kaczyński-Reihe schlagen konnte, soll nun wettgemacht, der Spieß umgedreht werden. Der Oppositionsführer – er spricht jetzt immer offener von einem „schleichenden Staatsstreich“ der gegnerischen Seite – rechnet auf längere Sicht: Dem in seinem Verständnis wild zusammengewürfelten Regierungslager sollen zunächst tüchtig Steine in den Weg gerollt werden, dann werde es schneller zu Fehlern in der Regierungsarbeit kommen, die wiederum ausgenutzt würden. Sollte Donald Trump im Herbst die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen, wäre es ein wichtiges Fanal für den Kampf der illiberalen gegen die liberale Demokratie. Die empfindliche Niederlage vom Oktober 2023 könnte dann – so rechnet Kaczyński mittlerweile – wettgemacht werden.

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Am 25. Januar 2024 trat Kaczyński vor den Sejm und erklärte zu den beiden begnadigten ehemaligen Spitzenpolitikern seiner Partei: Sie könnten heute nicht hier im Plenarsaal sein, weil sie im Gefängnis gefoltert worden seien! Die Regierung setze die Verfassung außer Kraft, im Land herrsche die Ausnahmesituation. Der einzige Ausweg, den der Oppositionsführer nun sieht, sei eine „Übergangsperiode, natürlich mit einer neuen Regierung und anschließenden Neuwahlen“. Und Kamiński wie Wąsik sagten unmissverständlich und trotzig in einer nationalkonservativen Fernsehstation: „Wir werden im Sejm erscheinen, aber zu unseren Bedingungen!“