26. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2023

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Mein Gott, Herr Pfarrer!“ – Volksbühne / „Bis keiner weint“ – Neuköllner Oper 

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Volksbühne: Ach Gottchen! 

Berlin hat’s bekanntlich nicht so mit Religion. Umso mehr passt es zum gern lustvoll irritierenden, immer aber provozierenden Grundgestus der Volksbühne, ihre Gemeinde mit dem Ausruf „Mein Gott, Herr Pfarrer!“ zu locken. Die Novität von René Pollesch, dem Übervater des seit Jahrzehnten dahin mäandernden Diskurstheaters, der als gewitzter Vielschreiber deutlich ruhmreicher ist am Laptop denn als Chef auf der Brücke des schwer zu steuernden Großtheatertankers Volksbühne, Kapitän Pollesch macht jetzt also – Überraschung! – schnell mal 100 Minuten Christenlehre mit dem Herrn Pastor.

Gleich anfangs geht’s ernsthaft zur Sache mit zwei höchst unterhaltsamen Diskutanten: den Volksbühnenstars Benny Claessens und Sophie Rois, die mit diesem extraordinären Engagement nach sechs Jahren umjubelt ihr Zurück feiert im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, wo Mitte der 1990er Jahren ihre spektakuläre Karriere begann – unter Frank Castorf und auch unter René Pollesch.

Nun sitzen die beiden kummervoll an der Rampe, sinnieren über die Leiden Christi am Kreuz. Über seine Verlassenheit von Gottvater und den Jüngern sowie die eigene Einsamkeit, übers allgegenwärtige Unerlöstsein, über die trostspendende Macht des Glaubens und zugleich die Qual des Zweifelns am Glauben – über die grundstürzende Hoffnungslosigkeit des Menschen überhaupt. „Wenn es sowas wie Erlösung gibt, warum sieht dann da draußen niemand erlöst aus“, fragt Sophie. Um ermunternd fortzufahren: „Ist aber ein interessanter Gedanke: Die Hoffnungslosigkeit löst sich nicht auf, sondern du akzeptierst sie als dein Leben. Und so wird sie etwas Lebendiges.“

Ein spannender Start für vertiefende Dialoge. Doch alsbald vernebelt sich’s. Denn Pollesch will natürlich kein scharfes Ping-Pong zwischen Christenlehre und Atheismus. Stramm steht er für flott wolkiges Diskurstheater. Da flattern die Gedankenfetzen wie verrückt durcheinander ohne Rücksicht auf Stringenz, Logik, Orientierung.

Um die verschnipselte Unübersichtlichkeit genüsslich zu steigern, wird das Gedankendurcheinander zusätzlich vermixt mit Momenten aus Ingmar Bergmans depressiv gottsucherischem Film „Licht im Winter“ von 1962. Wer kein Filmwissenschaftler ist, versteht Bahnhof. Bekommt jedoch ein Gefühl für postdramatisches Diskurstheater, das eben keine Handlung kennt und keine Geschichten liebt. Dafür aber das auf- und durcheinandergeblasen Wolkige. – Doch das einigermaßen kunstvoll, was wiederum vornehmlich an der starken Präsenz der beiden Protagonisten liegt.

Die Rois als eine Karin Bergman (Bergman!) im feuerroten, weit wie ein Ballon (Heißluft-Ballon?) sich bauschenden Kleid orchestriert wie immer virtuos ihr näselndes, schrill rotziges, gelegentlich auch sirenenhaft heulendes oder kreischendes Instrument aus schier unverwüstlichen Stimmbändern. Und stöckelt zwischen Nervosität und Hysterie flink und flott hin und her; selbstredend in orthopädisch bedenklich Hochhackigen. Gehört doch derartiges Schuhwerk zur DNA der Volksbühne.

An ihrer rauen Seite Claessens im Zustand wilder Verzweiflung oder depressiver Insichgekehrtheit als (bitte nachblättern in der Filmgeschichte) Bergmans Filmpastor Ericsson, protestantisch korrekt im weißen Hemd mit trauerrandschwarzem Schlips. Dazwischen hopsen Inga Busch und Christine Groß als bissig aufsässige Töchter. So macht am Küchentisch das vehement aufdrehende Quartett infernal, abgesehen von religiösen Randbemerkungen, komödiantisch locker auf Szenen einer zänkischen Familie.

Gelegentlich erinnern Bühnenarbeiter an Höheres und fahren eine Riesenwindmaschine mit schwarzen Flatterbändern auf. Das soll der Liebe Gott sein, von dem (im Bergman-Film) geträumt wurde. Als gespenstisch schwarze Spinne. Ach Gottchen.

Eine feste Burg und zugleich das Schönste neben dem Wirrwarr zwischen Kirchen- und Küchenstuhl: der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin mit sanften Chorälen – aber auch mit Johnny Burnettes „You‘re Sixteen“ (ein Quantum Pop muss sein). Und zum überraschenden Schluss mit einem innigen „Kyrie Eleison“.

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Neuköllner Oper: Schneewittchen oder Tittchen? 

Ein Junior-Kreativteam hat sich den super Auftrag geschnappt: eine Neuverfilmung des Märchens „Schneewittchen“. Natürlich nicht so erzählt wie die alten weißen Brüder Grimm. Sondern ganz auf der Höhe unserer Zeit. Also ein inklusives Märchen, sprachsensibel, diskriminierungsfrei mit Figuren, mit denen jedermensch sich identifizieren kann. Und spannend soll es sein, ordentlich sexy und dicke Quote bringen, also Geld.

Die Probleme sind vorprogrammiert: Etwa Böses (die Stiefmutter) kämpft gegen Gutes (die Zwerge); oder das konventionell binäre Liebespaar Macho-Prinz und süße Beauty-Queen (Machtmissbrauch?) – wie kommt da der diverse jedermensch klar, ohne zu weinen. Muss er sich nicht abwenden mit schweren Unwohlgefühlen der Benachteiligung und Unsichtbarmachung?

Womit wir beim allgegenwärtigen Thema wären dieses „Meinungsmärchens mit Musik“ – ein kabarettistisches, schmissiges, vom 3. Studienjahr des Studiengangs Musik/Show der Berliner Universität der Künste exzellent gespieltes, getanztes, gesprochenes und gesungenes Musical.

Das Autoren-Duo Constanze Behrends & Franziska Kuropka bringt mit dem Showtitel „Bis keiner weint“ die komplexe Problemlage nicht nur im Kunstbetrieb auf den Punkt: Ist alles „woke“ durchgestylt, muss keiner weinen, gibt es keine Spannung mehr, keine packenden Konflikte, kein Drama. Höchstens einen freundlichen Minderheitenerfolg.

Das schwant auch dem Fünfer-Kreativteam, das beim Opening der Show sich auch als privat aktivistisch engagiert vorstellt im donnernden Sound der Political Correctness. – Wir listen auf: zuerst die Produzentin, dann die feministisch-lesbische schwarze Romanautorin, der schwule Gagschreiber vom Privat-TV, der um einer Pointe willen gern auf Correctness pfeift, daneben die je nach Bedarf sich mal binär mal non-binär lesende Influenzerin (als Schneewittchen, Schneewitt oder Tittchen) und schließlich ein geschlechtlich fluider Serienstar als Märchenprinzchen oder kerliger Quotenbringer.

Und auf geht’s mit der bunten Truppe in die „Schneewittchen“-Proben, ins Durchexerzieren verschiedenartiger Erzählungen der Neid-Giftapfel-Lovestory. Was für eine Gelegenheit, gefühlt sämtliche Themen im Diskurs nicht allein der LGBTQIA+-Community anzuspielen. Ein heißes Hickhack um den rechten Pfad (das rechte Script) im gefährlichen Dschungel der Wokeness. Zusätzlich drohen kriegerische Konkurrenzen, lodert opportunistische Karrieregeilheit, donnern fundamentalistische Egos, explodieren Intrigen und Leidenschaften im Team.

Schließlich kommt ein korrekter „Schneewittchen“-Film zustande. Doch als wäre all das nicht längst abendfüllend, ploppt noch ein Me-Too-Kracher des Serienstars auf. Er streitet alles ab, sieht existenzvernichtende Denunziationen, der Shitstorm wütet. Falls er sich nicht entschuldigt, wird der Film gecancelt. Doch da stellt sich heraus: Der Fall ist keiner, sondern eine Eifersuchtsintrige. Trotzdem die verlogene Forderung nach Selbstkritik und Selbsterniedrigung – um des Films und des Geschäfts willen.

Wir sehen was passiert, kippt löblicher Sinn für Gerechtigkeit in Gerechtigkeitswahn. Wird die gute Idee der moralisch besser geregelten Welt durch Eifer und Wahn überreguliert. Wird Me-Too oder Wokeness missbraucht.

Großartig, mutig und aller Ehren wert ist, diesen immer wieder neu auszufechtenden Konflikt zwischen Kunst und Korrektheit, idealem Gesellschaftskonstrukt und wirklichem Leben in zwei Stunden aufwändigstem Entertainment zu verhandeln. – Aber: Es ist alles zu viel auf einmal, zu viel in einer Tüte. So flott die Regie von Matthias Noack auch flutscht und so rockig auch Markus Syparek die Kompositionen von Lukas Nimscheck arrangiert und dirigiert, eine starke Dramaturgie hätte straffen, hätte unbedingt konzentrieren müssen.

Ein ehrenwerter Versuch; bravo! Und Ovationen für das formidable, in Technik und Ausdruck hoch gerüstete Ensemble, das sein Publikum vom Hocker reißt: Tara Friese, Laura Goblirsch, Nathan Johns, Fabio Kopf, Anna-Sophie Weidinger.