Am 21. Februar 2023 hielt der russische Präsident Wladimir Putin seine lange erwartete Rede an die Nation. Diese enthält zwei grundlegende sicherheitspolitische Botschaften an den Westen. Die eine wurde sofort aufgegriffen und kommentiert, die andere, zumindest soweit es die hiesige Politik und die deutschen Mainstreammedien anbetrifft, entweder geflissentlich ignoriert oder nicht begriffen.
Da ist zunächst Putins Erklärung, dass Russland aus dem 2010 abgeschlossenen und noch bis 2026 laufenden New START-Vertrag mit den USA zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen zwar nicht austreten, seine Mitgliedschaft jedoch aussetzen werde. Die russische Duma hat dies am Folgetag formal bestätigt.
Der Vertrag selbst, der eine solche Möglichkeit selbst nicht vorsieht, verpflichtet beide Seiten bekanntlich dazu, ihre atomaren Gefechtsköpfe auf strategischen Trägersystemen (Interkontinentalraketen und Langstreckenbomber mit Reichweiten über 5000 Kilometer) auf 1550 zu reduzieren sowie die einsatzbereiten Träger auf maximal 800 zu begrenzen. Ohne das Abkommen könnten sowohl Russland als auch die USA, wie es in einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom August 2022 hieß, „binnen relativ kurzer Zeit die Zahl ihrer stationierten Atomsprengköpfe um mehrere hundert […] erhöhen“. Und jeglichem weiteren Aufwuchs wären Tür und Tor geöffnet. (Ebenfalls in seiner Rede am 21. Februar hat Putin erklärt, dass sich Russland darauf vorbereite, wieder Atomwaffentests durchzuführen und das tun werde, sollten die USA diese Praxis wiederaufnehmen.)
Der jetzige russische Schritt, so Rolf Mützenich, Fraktionschef der SPD im Bundestag, versetze „dem letzten großen Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland den politischen Todesstoß“. Außenministerin Annalena Baerbock nannte Putins Entscheidung „unverantwortlich“.
Beiden Qualifizierungen soll hier keineswegs widersprochen, es soll aber zumindest daran erinnert werden, dass der jetzige russische Schritt lediglich den Endpunkt einer ganzen Reihe unverantwortlicher Verhaltensweisen bildet, mit denen praktisch das gesamte System bi- und multilateraler Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen zwischen den Antipoden des Kalten Krieges, einst geschaffen, um diesen einzuhegen und später seine militärischen Hinterlassenschaften abzubauen, nunmehr Geschichte ist. Dieser destruktive Prozess setzte bereits mit dem angepassten Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa von 1999 (A-KSE) ein, der nachfolgend zwar von Russland, Belarus, Kasachstan und der Ukraine ratifiziert wurde, nicht jedoch von den westlichen Teilnehmerstaaten, so dass er als solcher nie in Kraft trat. Es folgten einseitige Austritte der USA aus Vereinbarungen mit der Sowjetunion, die Russland übernommen hatte: 2002 aus dem Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen von 1972 (ABM-Vertrag) und 2019 aus dem Vertrag über die Beseitigung nuklearer Mittelstreckensysteme von 1987 (INF-Vertrag). 2020 verließ Washington schließlich ebenfalls einseitig den multilateralen Vertrag über den Offenen Himmel von 1992 (Open Skies Treaty). Vor diesem Hintergrund disqualifiziert sich der Vorwurf von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Russland würde gerade „die gesamte Rüstungskontrollarchitektur […] demontieren“, quasi von selbst.
Doch auch ohne die außerordentliche Zuspitzung des Verhältnisses zwischen den USA und Russland infolge des Moskauer Überfalls auf die Ukraine wären die Aussichten für einen Nachfolgevertrag zum New START-Abkommen und für weitere Reduzierungen der strategischen Offensivwaffen beider Seiten nach Auffassung von Fachleuten wenig verheißungsvoll. Ursächlich dafür sind vor allem folgende Faktoren:
Erstens – Die 1969 begonnenen Gespräche zur strategischen Rüstungskontrolle zwischen den beiden nuklearen Supermächten waren zunächst auf limitations (Begrenzungen, Akronym SALT – Strategic Arms Limitation Talks) gerichtet. Erst nach Beendigung des Kalten Krieges wurden reductions (Reduzierungen, Akronym – Strategic Arms Reduction Talks) möglich. Doch von Anfang an lagen dem gesamten Prozess die gegenseitige Anerkennung der beiderseitigen existentiellen Bedrohung im Falle einer nuklearen Auseinandersetzung und die Bereitschaft zugrunde, diesen Sachverhalt als irreversibel gegeben anzuerkennen. Erstes Ergebnis der SALT-Gespräche war daher der ABM-Vertrag, der die Raketenabwehrsysteme beider Seiten zunächst auf je zwei, später auf nur je eines begrenzte. Gesamtstaatlicher Schutz vor einem nuklearen Erstschlag war damit ebenso unmöglich wie gegen einen Vergeltungsschlag. Es galt: Wer zuerst schießt stirbt als zweiter. Aus dieser Logik, die die Voraussetzung aller nachfolgenden Abkommen war, sind die USA mit der Kündigung des ABM-Vertrages einseitig ausgestiegen. Sie verstärken seither systematisch die Dislozierung von Raketenabwehrsystemen gegen russische (sowie chinesische und gegebenenfalls weitere) Interkontinentalraketen nicht nur auf dem US-amerikanischen Festland, sondern ebenso auf den Weltmeeren (Aegis-Systeme) und nicht zuletzt in Europa (Aegis ashore-Systeme). Letztere bisher in Rumänien und demnächst in Polen. Die heute vorhandenen US-Raketenabwehrsysteme sind nach Meinung einschlägiger Experten bisher jedoch immer noch technisch unzulänglich und bieten daher keinen hinreichenden Schutz gegen einen umfassenden atomaren Angriff. Doch gegen einen zuvor per Erstschlag weitgehend entwaffneten Gegner könnten sie den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen – siehe ausführlicher Blättchen 1/2021. (Allerdings nur in einem sehr kurzschlüssigen militärischen Denken, das die möglicherweise globalen Kollateralschäden eines Nuklearkrieges, Stichwort: nuklearer Winter, komplett ausblendet.)
Fazit: Ohne eine erneute vertragliche Begrenzung der Raketenabwehrsysteme, die die USA allerdings strikt ablehnen, wird Russland zu keinen weiteren (New) START-Vereinbarungen bereit sein.
Darüber hinaus sieht Russland durch die US-Anstrengungen, global einsetzbare konventionelle Hochpräzisionsraketen (Stichwort – Conventional Prompt Global Strike, siehe Blättchen 18/2020) einzuführen, seine strategischen Vergeltungsmittel ebenfalls zunehmend bedroht. Das engt den Spielraum für weitere Reduzierungen der derzeit einsetzbaren strategischen Offensivwaffen zusätzlich ein.
Zweitens – In den USA wird, von Think Tanks, im Kongress und nicht zuletzt seitens der Administration, seit längerem der Standpunkt vertreten, dass Vereinbarungen mit Russland über einen über New START hinausgehenden Abbau der strategischen Offensivwaffen künftig nur dann in amerikanischem Interesse seien, wenn auch China in ein entsprechendes Abkommen einbezogen würde. Peking, das derzeit nach Angaben der US-Experten Hans Christensen und Matt Korda über etwa 350 einsatzfähige Kernsprengköpfe (Stand: 2021) verfügt, von denen nur ein Teil das US-Festland erreichen könnte, lehnt dies strikt ab, so lange die beiden Supermächte nicht bis auf chinesisches Niveau abgerüstet hätten. Zugleich baut China sein Arsenal an landgestützten Langstreckenraketen seit einigen Jahren stark aus; siehe ausführlicher Blättchen 21/2021.
Drittens – In seiner Rede vom 21. Februar hat Putin die russische Aussetzung von New START unter andrem damit begründet, dass der Vertrag die gegen Russland gerichteten nuklearstrategischen Potenziale Großbritanniens (Stand: 2021 etwa 120 einsatzbereite strategische Atomsprengköpfe) und Frankreichs (Stand 2019: 240 einsatzbereite strategische Atomsprengköpfe; beide Angaben nach Christensen/Korda) nicht berücksichtige. Damit wird eine alte Forderung, die bereits von der Sowjetunion erhoben, aber nie praktisch berücksichtigt worden war, wieder aufgemacht, weil sich, so Putin, die Voraussetzungen, die 1991 das erste Abkommen zur Reduzierung strategischer Offensivwaffen ermöglicht hätten – „Bedingungen nachlassender Spannungen und wachsenden gegenseitigen Vertrauens“ sowie der Sachverhalt, dass Russland und die USA „sich nicht länger als Feinde betrachteten“ –, nicht mehr gegeben seien. Neben den USA haben die beiden europäischen Atommächte der NATO entsprechende sowjetische Vorstöße stets abgelehnt und dabei ähnlich argumentiert wie China.
Hinzu kommt, dass sowohl in Russland als auch in den USA derzeit Denkschulen vorherrschen, bei denen Rüstungskontrolle und Abrüstung, wenn überhaupt dann nur noch eine stark nachgeordnete Rolle spielen. Dem in Moskau vorherrschenden Zeitgeist Ausdruck verliehen haben dürfte Dmitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, als er wenige Tage nach dessen Rede an die Nation, erklärte, dass Abrüstungsverträge generell „unmöglich“ seien, „solange die NATO unser Feind im Krieg“ bleibe. Und in den USA treffen Stimmen auf keinerlei Gegenwind, die – wie Hal Brands, Professor an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies – verkünden: „Die Wahrung der US-Interessen wird es erneut notwendig machen, ein Wettrüsten zu bestreiten – und zu gewinnen.“
Der in diesem Magazin bereits 2020 konstatierte Countdown des Zeitalters praktizierter nuklearer Vernunft zwischen den Supermächten (siehe Blättchen 22/2020), durch die 2021 vereinbarte Verlängerung von New START bis 2026 nur partiell verzögert, nimmt wieder ungebremst Fahrt auf.
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: A-KSE, ABM-Vertrag, Abrüstung, INF-Vertrag, New START, Offensivwaffen, Open Skies, Open SkiesWolfgang Schwarz, Russland, Rüstungskontrolle, SALT, strategisch, USA, Wolfgang Schwarz