Jürgen Grässlin muss man nicht kennen. Und das trotz der Zuschreibung, er sei der „bekannteste Pazifist und Rüstungsgegner des Landes“. Als solcher war er Gegenstand eines Textes in einer der letzten Ausgaben eines Nachrichtenmagazins. Ein Reporter begleitete ihn über Monate und schreibt, Grässlin sei gegen jeden Krieg; auch gegen solche, die den Segen der UNO hätten und solche, die das Völkerrecht brächen. Sozusagen als Quintessenz Grässlinschen Denkens kommt der Autor des Beitrages zum Schluss, „Grässlin hätte wohl auch Adolf Hitler gewähren lassen…“. Dieser Gesinnungspazifismus, jegliche Form von Gewalt ablehnend, will folglich Kriege verbieten, Streitkräfte abbauen, Rüstungsproduktion und Waffenexporte einstellen. Keine Gewalt. Nie und nirgends. Da irritiert beinahe, dass manche in Grässlin einen „militanten“ Pazifisten sehen.
Die Geister schieden und scheiden sich so immer noch an Hitler, seinem Vernichtungskrieg gegen „Untermenschen“ und Juden; der Name des zur Metapher geronnenen Todeslagers Auschwitz steht dafür. Es war der damalige CDU-Familienminister Heiner Geissler, der 1983 darauf bestand, dass „der Pazifismus der 30er-Jahre – der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben – dieser Pazifismus der 30er-Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht“. Dass diese Behauptung Blödsinn ist, liegt auf der Hand. Ideeller Anknüpfungspunkt der Vernichtung war und ist auch heute noch, leider, Menschenhass, Antisemitismus und nicht Pazifismus. Geisslers Unworte brachten darüber hinaus damals Pazifisten und namentlich junge Menschen der Friedensbewegung gegen die anstehende Nachrüstung („Pershing 2“) in eine gedankliche Nähe des Geschehens um Auschwitz.
Auch Joschka Fischer, damaliger bündnisgrüner Außenminister, begründete 1999 den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr mit Auschwitz: „Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.“ Er führte die deutschen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg als Rechtfertigung für einen Krieg an – vorher galten sie eher als Argument gegen Krieg. Sowohl die Nachrüstungsdebatte als auch der Kosovo-Einsatz veränderten, wie in Deutschland über Krieg und Frieden gesprochen wird – nämlich häufig mit ethischem Impetus, mit einem emotionalisierten Moralismus.
In der Konklusion kann man sicherlich festhalten, dass entgegen dem Gesinnungspazifismus Grässlinscher Prägung es richtig und geboten war, Hitler mit überlegener militärischer Macht in den Arm zu fallen und ihm und seinen Mordbuben den Garaus zu machen. Und ob eine derartige bewaffnete Intervention nicht hätte viel früher erfolgen müssen; mindestens schon 1939 nach dem Überfall auf Polen ist eine Frage, die ich hier nicht weiter verfolgen will…
Pazifisten hatten und haben es heute auch deshalb schwer, Stellung zu beziehen, weil sich das Wesen der Kriege und der (internationalen) Gewaltanwendung seit Ende des Kalten Krieges verändert haben; man muss nur einige Namen aufrufen, von denen einige schon wieder dem Vergessen anheim fielen, wie Osttimor, Srebrenica, Ruanda, Afghanistan. Innerstaatliche Krisen nahmen zu, Konfliktlinien verschwammen und machten es schwerer zu erkennen, wer Täter ist, wer Opfer. International agierende Terrornetzwerke verüben Anschläge; Kriege wurden unübersichtlicher. Aber deshalb nicht weniger grausam für Zivilisten. Was sagten Pazifisten den Syrern, die nach militärischer Unterstützung des Westens riefen oder heute den gegen das Mullah-Regime protestierenden Iranern? – war und ist es angesichts solcher Massaker nicht feige und naiv zu glauben, jeder Konflikt lasse sich gewaltfrei lösen? Und setzt Frieden nicht voraus, dass Menschen nicht getötet werden und nicht vertrieben werden, dass Frauen nicht vergewaltigt werden, dass Kinder nicht entführt werden?
Nun gibt es einen Krieg, bei dem eindeutig Opfer und Täter auszumachen sind. Ob der Eindeutigkeit der russischen Aggression gegen die Ukraine argumentieren die unterschiedlichen politischen Milieus – bis auf Ausnahmen – politisch; Raum für einen politischen Pazifismus. Dieser geht vom Primat der Politik aus; das heißt, er strebt grundsätzlich diplomatische Lösungen an. Er erkennt aber auch an, dass es Bedrohungen gebe, die einen Waffengang, als ultima ratio, nötig machten. Der Begriff der ultima ratio stammt aus dem Dreißigjährigen Krieg – und in diesem Zusammenhang wurde er meist auch in der Folgezeit verstanden. Der preußische König Friedrich II. verfügte 1742, alle Kanonen mit dem Schriftzug „Ultima ratio regis“ – das letzte Mittel des Königs – zu versehen; was den politischen Charakter der Sentenz unterstreicht. Konflikte sollten mit politischen und rechtlichen Instrumenten gelöst werden; das Völkerrecht, der Internationale Strafgerichtshof und Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz sind solche Instrumente. Beispielsweise hatten Genozide wie der in Ruanda politische Folgen in Gestalt der „responsibility to protect“, einer Verabredung der internationalen Staatengemeinschaft, Menschen zu beschützen. Sie erlaubt kollektive Maßnahmen, um Völkermord und vergleichbar schwere Verbrechen zu verhindern und wird als Rechtfertigung für humanitäre Interventionen und Einsätze zum Schutz von Menschenrechten bemüht, aber auch missbraucht.
Es zeichnen sich, grob gesagt, zwei ernst zu nehmende Lager ab; abseits dieser existieren natürlich extreme Auffassungen, die jedoch nach heutiger (militärischer) Lage kaum Realisierungschancen haben. Beide Lager eint, dass sie grundsätzlich für eine politische Lösung, ein Ende des Krieges am Verhandlungstisch eintreten. Wobei das in gewisser Weise eine Binsenweisheit ist, denn solange eine Kriegspartei nicht kapitulieren muss und so ihr die Friedensbedingungen diktiert werden können – Deutschland „durfte“ ja zweimal dieses Prozedere durchmachen –, bleibt nur ein über Gespräche erreichter Kompromiss als Ausweg aus dem Krieg.
Die Differenz zwischen beiden Auffassungen liegt in den Maßnahmen, die den Weg zu der politischen Lösung eröffneten. Das eine Lager plädiert als Voraussetzung für eine politische Lösung für Waffenlieferungen an die Ukraine, die hinreichend umfangreich sein sollten, um die russische Besatzung vom ukrainischen Territorium (weitgehend) zurückzudrängen. Namentlich CDU und FDP, aber auch Teile der Bündnisgrünen vertreten das. So entstand ein Druck, aus dem heraus sich immer mehr Staaten für Waffenlieferungen an die Ukraine entschieden. Diese Haltung folgt der Maxime, dass „Kriege fast immer auf dem Schlachtfeld entschieden (werden)“. Die ultima ratio dominiert, das pazifistisch-politische Moment tritt dahinter zurück.
Das andere Lager ist der Auffassung, der Ukraine keine Waffen zu liefern, sie humanitär zu unterstützen. Vertreten wird diese Sicht namentlich von kulturellen und zivilgesellschaftlichen Milieus. Es sollten alle diplomatischen Chancen zur schnellen Beendigung des Krieges ergriffen werden. Unterschwellig schwingt in mancher der Appelle mit, die Ukraine möge sich doch ergeben und in eine „soziale Verteidigung“, so Grässlin, übergehen; also in einen „klugen und gut organisierten zivilen Widerstand“. Etwas ratlos zeigt man sich, da gegenwärtig keine der beiden Kriegsparteien zu diplomatischen Gesprächen bereit ist. Darüber hinaus gibt es Stimmen, die davon ausgehen, bei Russlands Ukrainekrieg handele es sich um einen Stellvertreterkrieg; Stimmen, die im Osten Deutschlands besonders präsent sind; Noten wie „kremlnah“ oder „putinfreundlich“ werden vorschnell erteilt. Das pazifistisch-politische Moment ist alleinige Maxime.
Welchem Lager man zuneigt, liegt wohl auch darin begründet, wie man persönlich den Ukrainekrieg wahrnimmt – als russischen Angriff zur Vernichtung der Ukraine, desgleichen auf die europäische Friedensordnung, auf die „freie“ Welt, der die Ukraine schon zugeschlagen wird oder aber als Krieg, der möglichst schnell zu beenden wäre bei einem Interessenausgleich zwischen den Parteien oder gar nur als „schlichten“ Krieg zwischen zwei Nachbarländern, der uns wenig oder gar nichts anginge. Man muss diese Frage nicht auf die Höhe von „Hitler gewähren lassen“ heben; eine brisante ist sie dennoch… denn die Konsequenzen können größer sein als die Kampfhandlungen in der Ukraine.
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