26. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2023

„Zeitenwende“ plus

von Herbert Bertsch

„Die großen Worte, aus den Zeiten, da Geschehn noch sichtbar war,
sind nicht für uns. Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“
Rainer Maria Rilke „Requiem“ (1908)

 

Bekanntlich hat die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) den Begriff „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres 2022 gekürt. Die Tagesschau hatte so informiert und erklärt: Der Begriff stehe im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und wurde unter anderem von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) „aufgegriffen und geprägt“, (also nicht erfunden). Sein Kernsatz: „Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung.“

Eine emotionale Wende sei bei der deutschen Bevölkerung eingetreten, verbunden mit Besorgnis hinsichtlich der weiteren Wohlfahrt bis hin zur Gefahr eines atomaren Krieges. Dazu kam Scholzens staatliches Versprechen, man würde alles Notwendige zur Abfederung tun, wenn es fortan um die Folgen von Krieg und Sanktionspolitik gehen wird; vom „Unterhaken“ als einer gewünschten Reaktion war erneut die Rede. Danach die Information über die wirksame Entscheidung der Regierenden: Deutschland wird der Kriegspartei Ukraine jegliche geforderte – zunehmend auch militärische – Unterstützung leisten, ohne Begrenzung des Volumens und der Zeitdauer. Also zusätzlich die Übertragung von künftigen Entscheidungen an eine fremde, wenn auch befreundete Macht. Erstaunlicherweise gab es gegen die Ausrufung der Zeitenwende und deren feierliche Billigung durch die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten kaum wirksame Nachfragen in der veröffentlichten Meinung, geschweige denn eine offene Diskussion, ob solches Tun den rechtsstaatlichen Regelungen zum Machtgebrauch in einer Demokratie entspricht.

Selten auch die Aufdeckung von Zusammenhängen, wie dies Claudia Weber, Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) schon am 6. März 2022 tat: „Der Krieg in der Ukraine wird derzeit geradezu inflationär als eine Zeitenwende (Olaf Scholz) bezeichnet oder als Beginn einer anderen Welt, in der die Europäer quasi über Nacht erwachten (Annalena Baerbock). Von einer Zeitenwende zu sprechen ist ein großes Wort. Eine Zeitenwende konfiguriert das identitäts- und orientierungsstiftende Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwärt und Zukunft neu, wenn […] Erfahrungsraum und Erwartungshorizont beginnen auseinanderzuklaffen. […] Die ehemalige Bundeskanzlerin Angelika Merkel sprach im Übrigen bereits während der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland in ihrer Regierungserklärung am 13. März 2014 im Bundestag davon, dass es sich bei dieser Verletzung der territorialen Einheit und staatlichen Souveränität der Ukraine um einen Konflikt wie im 19. oder 20. Jahrhundert [handelt]‚ ein Konflikt, den wir für überwunden gehalten haben. […] Aber […] offensichtlich ist er nicht überwunden.“ Was das für die unmittelbar Beteiligten und die mitwirkenden Staaten als Warnung und Lehrbeispiel bedeutete oder hätte bedeuten können, wurde entweder nicht erkannt oder bewusst missachtet: So schleppte sich diese nie beendete „nationale Frage“ weiter durch die Geschichte: zunächst in der Sowjetunion, dann bei ihrer handstreichartigen Auflösung und dauerhaft auch als Folge äußerer Einflüsse und Einwirkungen.

Als Frage formuliert sah die Zeithistorikerin Weber den Sachverhalt so: „Wenn die Zeitenwende der Gegenwart also vor mindestens acht Jahren begann, darf gefragt werden, was in der Zwischenzeit so passiert oder eben nicht passiert ist, dass eine längst überfällige Beobachtung noch als grundstürzende Erkenntnis verkauft werden kann“, das keineswegs „alternativlos“ war.

Die Ukraine war eine der bedeutenden Sowjetrepubliken, sowohl mit Rechten und Verpflichtungen im Gesamtsystem als auch im gesellschaftlichen Eigenleben wie andere Teile der Sowjetunion auch; aber in besonderer Weise personell integriert: Nikita Chruschtschow war infolge seiner Funktionen in der Ukraine dazu gehörig; Leonid Breshnew war in der Ukraine aufgewachsen; der Verbindungsmann von fünf Generalsekretären zu den USA war der Direktor des 1967 dafür geschaffenen Amerika-Kanada-Instituts Georgi A. Arbatow (mit dem IPW der DDR sowohl vertraglich als auch persönlich verbunden), geboren 1923 in Cherson, 2010 in Moskau verstorben. Sein bekanntestes Werk ist „Der sowjetische Standpunkt über die Westpolitik der UdSSR“ von 1981 – und wäre derzeit sowohl in Moskau als auch in Kiew und Washington nützlich.

Auf der Krim wurde sowjetische und internationale Weltpolitik gemacht: Roosevelt, Stalin und Churchill absolvierten im Februar 1945 hier das mittlere der drei Treffen, auf denen Beschlüsse über die Niederwerfung Deutschlands, über Europa nach dem Krieg, die Gründung der Vereinten Nationen und die Kapitulation Japans gefasst wurden. 1971 eröffnete Bundeskanzler Willy Brandt bei Breshnew auf dessen Sommersitz den Reigen zahlreicher westlicher Staatsmänner als Konsequenz der „neuen Ostpolitik“. 1974 war Präsident Richard Nixon hier zu Gast: seinen Memoiren zufolge dabei auch in Lebensgefahr, da er sich zeitweilig den Autofahrkünsten des Gastgebers anvertraut hatte. Jährlich kamen die Partei- und Staatsführer der sozialistischen Bruderstaaten, zunächst gemeinsam, später einzeln, zu ausführlichen Audienzen und zur Erholung ins ständige Zentrum der sowjetischen Partei- und Staatsführung in den Sommermonaten.

Als Präsident Roosevelt dem Drängen der Sowjetunion auf Ausgleich im Kräfteverhältnis bei Gründung der Vereinten Nationen teilweise nachgab, wurden die Ukraine und Belorussland für zusätzliche sowjetische Positionen bei den Vereinten Nationen ausgewählt, als Anerkennung der besonderen Leistungen und Opfer im Vaterländischen Krieg, aber auch als Ausdruck besonderen Vertrauens von KPdSU und Sowjetunion in sie, so durch Stalin entschieden. Auf diese Weise gehören die Ukraine und Belarus mit übernommener Mitgliedschaft der UNO seit 24 Oktober 1945 an, heute freilich mit höchst unterschiedlichem Stimmverhalten. Aber die Gemeinsamkeiten gehören zur ganzen Geschichte.

„Der Krieg in der Ukraine und die kriminelle Annexionspolitik Putins sind bittere Realität. Realität ist aber auch die Gefahr, dass dieser Krieg mit Worten und mit Waffen gefüttert wird, bis er platzt. Dann ist Hiroshima überall. Das wäre nicht die von Kanzler Scholz angekündigte Zeitenwende, das wäre das Zeitenende für Europa“, beklagte Heribert Prantl jüngst per Fernsehkommentar. Der Neujahrs-Tweet von Präsident Wolodymyr Selenskyj: „Danke für die Zeitenwende, Herr Bundeskanzler! Mögen wir sie im Jahr mit unserem gemeinsamen Sieg komplett machen.“ Manchmal heißt es, man müsse trotz allem mit Putin reden, vielleicht auch mit Selenskyj. In beiden Fällen jedenfalls nicht nur nach deren Vorgaben.

In der Schlussapotheose seiner Regierungserklärung zur Zeitenwende zog der Bundeskanzler diesen Befund heran: „Uns eint in diesen Tagen: Wir wissen um die Stärke freier Demokratien.“ Wie der Zufall es will, erschien am 20. Juli 2022 im Campus Verlag ein Buch mit dem ziemlich sybillinischen Titel: „Treiber des Autoritären Pfades von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“; ein Sammelband, herausgegeben von Günter Frankenberg und Wilhelm Heitmeyer. Wenngleich mit hohem, mitunter überhöhtem Anspruch für theoretische Erörterungen sind weitere 13 Fachwissenschaftler auch politisch praktisch präsent, wenn sie sich um dieses Anliegen bemühen: „Seit den Krisen der letzten beiden Jahrzehnte lassen sich in westlichen Gesellschaften vermehrt und deutlicher autoritäre Versuchungen registrieren, denen unterschiedliche Teile der Bevölkerung nachgegeben haben. Zugleich haben autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime weltweit an politischem und kulturellem Einfluss gewonnen. Schließlich lassen sich in staatlichen Institutionen autoritäre Aktivitäten – auch jenseits der Grenzen des Legalen – nachweisen.“

Unschwer lässt sich folgern, dass zu Letzterem der Komplex Russland und seine „Politik mit anderen Mitteln“ gehören müssen. Verlag und Herausgeber lösen die verständliche Nachfrage zum russischen Angriffskrieg als einer großen Krise, wie andere Autoren, Herausgeber und Lektorate auch, vermittels aktualisierter Vor- oder Nachworte, um einen Zusammenhang herzustellen. Schwieriger dürfte es bei Prüfungen und mit Schulungstexten sein und werden, auch beim Material für allgemeinbildende Schulen. Das sind Nebenwirkungen einer anderen „Zeitenwende“, die an die Eingliederung des DDR-Bildungssystems und die Leiden ehemaliger DDR-Lehrender durch staatliche Vorgaben im Widerstreit mit eigenen Erfahrungen erinnern.

Offenbar teilen die Autoren als Ausgangsbefund die Tatsache, dass sich „die Demokratie“ kontinuierlich auf dem Rückzug befindet; gegenwärtig sind nur noch 45,7 Prozent der Weltbevölkerung in diesem gesellschaftlichen System erfasst. In dieser Publikation – nicht an Staaten sondern als allgemein wirkende Prinzipien abgehandelt – wird untersucht, was an Widersprüchen für die Einheit möglichst aller Mitglieder einer Gesellschaft aushaltbar ist; wie lange und wodurch lassen sich demokratische Gemeinwesen regulieren? Und als hauptsächliche Fragestellung: Welche Auswirkungen haben Krisen auf die Entwicklung zum Autoritären? Sind sie „Treiber“ oder retardierendes Element, was für die Machtausübung auch in Deutschland wesentlich ist. Die Pandemie steht im Mittelpunkt der Untersuchung als eine aktuelle Hauptkrise. Die Befunde dazu sind sowohl für die Theorie als auch für praktische Politik nützlich. Vielleicht finden einige unserer Verantwortlichen hier Beihilfe zu der Erkenntnis, dass Beschwörung und Hoffnung für eine beständige Demokratie auf Dauer zu wenig sind; zumal bei einer Zeitenwende.