25. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2022

Deutsche Eliten: Im Zweifel mit Amerika

von Jürgen Leibiger

Beifall brandete auf, als Norbert Röttgen in einer Fernseh-Talkrunde jüngst verkündete: „Die USA unter Joe Biden sind jetzt zurückgekehrt als die wichtigste europäische Sicherheitsmacht. Und ohne die USA sähe es in Europa, wo jetzt wieder Krieg ist, ganz anders aus.“ Es war zwar auch Krieg in Europa, als die NATO 1999 Jugoslawien außerhalb ihres Bündnisses und ohne UNO-Mandat bombardierte, aber das soll hier nicht Thema sein.

Man kann sich verschiedene Gründe denken, von wem und warum da geklatscht wurde und wie dieses „ganz anders aussehen“ gedeutet werden könnte. An diesem Abend war das eindeutig ein Votum für die Allianz mit den USA. Ich wage zu bezweifeln, dass Klaus von Dohnanyi, hätte er seine Meinung vor diesem Publikum kundtun können, Beifall bekommen hätte. Er hatte im Januar eine Streitschrift „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“ veröffentlicht, in der er forderte, Deutschland und Europa sollten sich von der „Illusion der Freundschaft“ mit den Vereinigten Staaten befreien und als souveräne Partner in der Weltpolitik agieren; schließlich verfolgten die USA auch nur ihre eigenen Interessen.

Diese Interessen sind kein Geheimnis. „Make America Great Again!“ ist nicht nur die Parole Donald Trumps. In der im Oktober dieses Jahres veröffentlichten „National Security Strategy 2022“ schreibt das Weiße Haus: „Wir lassen uns von dem unbestreitbaren Fakt leiten, dass Stärke und Qualität des Amerikanischen Projekts zu Hause untrennbar damit verbunden sind, dass wir die Führerschaft in der Welt innehaben und fähig sind, die Weltordnung zu formen.“ Die USA stünden vor einem „entscheidenden Jahrzehnt“ im Kampf gegen seine „geopolitischen Konkurrenten“. Man müsse und man werde China niederkonkurrieren und Russland bezwingen.

In der Tat steht die nach wie vor stärkste Wirtschafts- und Militärmacht wirtschaftlich und politisch vor Herausforderungen wie seit langem nicht mehr. Alle längerfristigen Prognosen besagen, dass ihre hegemoniale Stellung zunehmend angefochten wird. Militärische Rückzüge, wachsender Gegenwind aus seinem Hinterhof Latein- und Südamerika, die Verweigerung der Gefolgschaft bei den Russland-Sanktionen und beim aggressiven Kurs gegen China durch eine Großzahl von Staaten des Südens, darunter von bedeutenden Schwellenländern, und schließlich die Herausforderung durch ein erstarkendes und selbstbewusstes China. Die Volksrepublik schickt sich an, zum Land mit dem weltweit höchsten Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu werden. Ihr Anteil am globalen BIP wächst im gleichen Maße, wie der Anteil der USA zurückgeht. Sie hat die USA im Welthandel längst überholt und exportiert inzwischen doppelt so viel. Ihr Potential in Bildung, Wissenschaft und Technik, darunter im Hightech-Bereich wächst; inzwischen ist sie zum Spitzenreiter bei internationalen Patenten geworden. Ihre Militärmacht wächst rasant. Und die Welt besteht nicht nur aus China und den USA. Auch andere Nationen der ehemaligen „Dritten Welt“ befinden sich auf dem Vormarsch. Es ist absehbar, dass die USA die Stellung als einziger globaler Hegemon irgendwann verlieren wird.

Wie also soll sich Deutschland verhalten, soll es Röttgen oder von Dohnanyi folgen? Der Verband der bayrischen Wirtschaft veröffentlichte zu Beginn dieses Jahres eine Studie „Gefahr für die ökonomische Dominanz des Westens“, in der die Frage untersucht wird, wie sich die weltwirtschaftlichen Machtzentren verschieben und was die EU und Deutschland bei drei verschiedenen Verhaltensszenarien gewinnen oder verlieren könnten. Untersucht wurden jeweils Außenhandel, Wertschöpfung und Beschäftigung, ausländische Direktinvestitionen, grenzüberschreitende Forschung und Entwicklung und Rohstoffversorgung. Bei Szenario 1 ist die EU ein Teil des von den USA dominierten amerikanisch-westlichen Blocks, bei Nr. 2 wird es Teil des chinesisch dominierten asiatisch-afrikanischen Blocks und im Szenario 3 ist die EU ein blockfreier Akteur ohne Marktzugang zu den USA und China. Das sind ziemlich abstrakte und, wenn nicht unrealistische, dann zumindest diskussionswürdige Bedingungen und Verhaltenshypothesen. Aber immerhin: „Die zusammenfassende Darstellung (der Berechnungen – J.L.) verdeutlicht, dass es aus der rein ökonomischen Perspektive Deutschlands bzw. Europas keine zwangsläufige Entscheidung für einen der beiden hypothetischen Blöcke geben würde: Die Entscheidung für die Vereinigten Staaten bzw. den westlich-amerikanischen Raum würde mit schwerwiegenden Negativeffekten einhergehen – ebenso wie eine Entscheidung für China bzw. den asiatisch-afrikanischen Raum.“ Die Schlussfolgerung der Studie lautet, die EU und Deutschland sollten sich gegebenenfalls „den Konfliktfeldern zwischen den Vereinigten Staaten und China ein Stück weit entziehen – und möglichst gute Beziehungen zu beiden Seiten aufrecht erhalten.“

Es kann also nicht verwundern, wenn die deutschen Wirtschaftsbosse sich nicht gerade begeistert über die Sanktionen gegen Russland und den zunehmenden Konfrontationskurs gegenüber China äußern. Letztlich jedoch tragen sie diese Strategie mit. Das Reden über die Bekämpfung von Autokratien und eine „wertebasierte“ Außenwirtschaftspolitik ist zwar scheinheilig und an Heuchelei kaum zu übertreffen, dahinter versteckt sich jedoch die Frage, ob man den weltwirtschaftlichen Bedeutungszuwachs eines kommunistisch regierten Landes tolerieren oder bekämpfen will. So hin- und hergerissen die Wirtschaftseliten bei konkreten Maßnahmen und Projekten auch sein mögen und so sehr sie politisch zu lavieren versuchen, letztlich stehen sie auf der Seite des „Westens“ und seines kapitalistischen Wirtschaftssystems. Vergleicht man China einschließlich seiner systemischen (!) Verbündeten nicht nur mit den USA, sondern mit diesem Westen, verändert sich die Perspektive in drastischer Weise. Die Hauptländer des Kapitalismus sind längst nicht mehr nur die Triade früherer Zeiten. Zu ihnen gehören mindestens die Staaten der stark vergrößerten Europäischen Union, der gesamte anglo-amerikanische Sprachraum (Nordamerika, Großbritannien, Australien, Neuseeland), Japan, Südkorea und nicht wenige weitere Staaten. Diese Gruppe, zumeist OECD-Mitglieder, die vom Internationalen Währungsfonds zu den „Fortgeschrittenen Ökonomien“ gezählt werden, erbringt knapp 60 Prozent des weltweiten BIP, die Gruppe der G7-Länder allein 43 Prozent. Der absolute Abstand im Pro-Kopf-BIP dieser Staaten im Vergleich zu den Schwellen- und Entwicklungsländern insgesamt wächst nach wie vor. Dieser Westen und dieses System sind ohne die USA nicht denkbar. Es mag einem passen oder nicht: Noch ist dieses Land trotz seiner Widersprüche und Krisen die mächtigste und einflussreichste Wirtschaftsmacht der Welt, noch hat es den ersten Platz in der BIP-Rangliste; es hat das fast höchste BIP pro Kopf, der Dollar ist wichtigste Weltwährung, es dominiert bei Militärausgaben und unterhält als einziges Land Militärbasen fast überall auf der Erde, es verfügt über ein gigantisches Potenzial in Wissenschaft, Forschung und Entwicklung und heimst die meisten Nobelpreise ein, seine digitalen, Tech- und Finanzkonzerne dominieren die Weltwirtschaft, es zieht nach wie vor die mit Abstand meisten Direktinvestitionen an, mit ihrem Emissionsvolumen liegen seine Börsen unangefochten an der Weltspitze. Und diese geballte Macht setzen die USA ungeniert und ohne Skrupel selbst gegen Verbündete ein, wenn es darum geht, wirtschaftliche Vorteile und politischen Einfluss zu erlangen und mögliche Konkurrenten auszuschalten oder klein zu halten. Wer kann sich nicht an jene Szene im Mai 2017 erinnern, als Donald Trump auf einem NATO-Gipfel in Brüssel andere Regierungschefs rüpelhaft zur Seite drängte, um sich in der ersten Reihe aufzubauen. America first!

Zweifellos existiert die Tendenz der Schwächung der Stellung der USA in der Weltwirtschaft. Sie setzt sich aber erst über mehrere Dezennien durch und wird durch die Führung dieses Landes mit allen, wirklich allen Mitteln bekämpft. Auch Verbündete werden vor seinen Karren gespannt. Unter diesen Bedingungen kann kein Zweifel daran bestehen, wohin Deutschlands politische und wirtschaftliche Elite, seine herrschende Klasse im Zweifelsfall tendiert. Trotz warnender Stimmen und trotz möglicher Nachteile wie im Falle der Beteiligung an Sanktionen gegen Russland und einer verstärkten wirtschaftlichen Abhängigkeit von den USA und seinen Erpressungspraktiken steht sie in „unverbrüchlicher Treue“ zum „großen Bruder“, wohl wissend, dass auch dessen herrschende Klasse von Eigennutz getrieben ist und Deutschland auch mal als nützlichen Idioten behandelt. Man mag Klaus von Dohnanyi zustimmen, diesbezüglichen Illusionen sollte man sich aber nicht hingeben.