Fast schon mutet es wie ein vertrautes Bild an: Der Warschauer Schlossplatz mitten im historischen Zentrum der Stadt, für einen Augenblich verwandelt in ein Meer aus ukrainischen Flaggen. Anlass bot der zurückliegende Nationalfeiertag der Ukraine am 24. August, an dem 1991 in Kiew die staatliche Unabhängigkeit erklärt worden war. Der Platz voller Menschen, die meisten natürlich aus der Ukraine, die jetzt in Warschau oder anderswo in Polen leben oder sich hier aufhalten. Der Blick in die vielen Gesichter verrät außerdem, dass ein Gros unter ihnen erst nach dem August 1991 zur Welt gekommen ist. Wenigstens sie lassen also ahnen, wie viel Zukunft die unabhängige Ukraine – trotz der tiefen Sorge des Augenblicks – hat und haben wird.
Polens Staatspräsident Andrzej Duda war zu diesem Anlass zum ukrainischen Amtskollegen gereist, es war bereits seine fünfte Kiew-Reise nach Kriegsbeginn. Längst vorbei sind jene Zeiten, in denen er in aller Öffentlichkeit noch ungeniert herumposaunte, die Europäische Union sei eine imaginäre Gemeinschaft, also ein Konstrukt, von dem verlassen sei, wer sich auf selbiges verlasse. Jetzt verweist er wie selbstverständlich auf die gemeinsame polnisch-ukrainische Interessenlage, wie sie ohne die EU in ihrer jetzigen Ausrichtung gar nicht zu denken wäre. Tatsächlich, auch das weiß Duda zu genau, steht und fällt das angegriffene Nachbarland mit der entschiedenen Unterstützung des Westens, wobei der EU alles andere als eine kleine Rolle zukommt. In dieses Bild passt wiederum ganz gut, dass die Moskauer Propaganda den jüngsten Duda-Besuch völlig absurd in erster Linie als Ausdruck dafür werten will, wie sehr Warschau an der Westukraine interessiert sei, nationalistisch auf den Anschluss der Stadt Lviv, polnisch Lwów, hinarbeite.
Doch der ukrainische Nationalfeiertag regt, auch wegen des Krieges, vor allem zum Blick zurück an. Noch zu Zeiten, als kaum jemand die Sowjetunion in Gefahr sah, jedenfalls die meisten nicht, tauchte in der Moskauer Öffentlichkeit an wichtiger Stelle das alte russische Fahnentuch auf – weiß, blau, rot. Man schrieb den März 1990, es standen auf allen Ebenen die Wahlen zu den Sowjets in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) an. Bei der Abschlusskundgebung des von Boris Jelzin angeführten Lagers – noch war Jelzin übrigens Mitglied der KPdSU, er trat erst im Juni aus – wurde nicht die offizielle Flagge der RSFSR gezeigt, sondern die russische Trikolore. Ein Zeichen für das Besondere, womit sich abgehoben werden sollte von dem sonst herrschenden Einheitsrot der sowjetischen Zeiten (die offiziellen Flaggen der Republiken waren immer nur eigenwillige Spielarten der Sowjetflagge). Gezielt wurde jetzt viel bewusster auf das Russische, nicht auf das Sowjetische, also das noch Allgegenwärtige, wiewohl in die Krise geratene Allgemeine. Es ging nicht um Gleichsetzung, es ging darum, was doch schon trennte.
Das Lager Jelzins gewann, er selbst trat an die Spitze des Obersten Sowjets der RSFSR. Sein Amtssitz – das Weiße Haus in Moskau – war fortan ein Machtzentrum, das ernsthaft mit dem Kreml konkurrierte, über dem noch die sowjetische Flagge wehte. Am 12. Juni 1990 erklärten die Volksdeputierten der RSFSR auf ihrem Kongress die Souveränität der RSFSR. Diesem Schritt folgten später im Juli 1990 die obersten Republikorgane mit analogen Entscheidungen in der Sowjetukraine und in Sowjetbelorussland. Der Sprengsatz unter die Sowjetunion war gelegt, der Motor aber für diese dramatische Entwicklung befand sich in Moskau, jedenfalls nicht in Kiew.
Mit dem am 17. März 1991 abgehaltenen Referendum versuchte der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow – er war im März 1990 von den Volksdeputierten der Sowjetunion ins neugeschaffene Amt gewählt worden – wieder die Initiative zu erlangen. Befragt wurden die Bürger, ob sie für den Weiterbestand der Sowjetunion als veränderte Föderation souveräner Republiken seien. Eine große Mehrheit stimmte zu, so auch in der RSFSR und in der Sowjetukraine, doch die Entwicklung folgte bereits unweigerlich einem anderen Takt, den immer deutlicher Jelzin und sein Lager vorgaben. Er gewann am 12. Juni 1991 in der RSFSR – genau ein Jahr nach der Souveränitätserklärung – direkte Präsidentschaftswahlen mit über 45 Millionen Stimmen. Im August 1991 sahen sich Führungsleute im Kreml veranlasst, gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow mit militärischer Gewalt zu putschen, um – wie sie sagten – die Sowjetunion zu retten. Der dilettantisch eingefädelte Staatsstreich, der eher einem Verzweiflungsakt glich, scheiterte kläglich, die erfolgreiche Verteidigung des Weißen Hauses wurde zur symbolischen Geburtsstunde des neuen, nichtsowjetischen Russlands. Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 24. August 1991 war, so gesehen, nur eine Folge der stürmischen Moskauer Ereignisse. Der Rest ist schnell berichtet, denn am 8. Dezember 1991 erklärten Jelzin und seine Amtskollegen aus der Ukraine und Belarus – ohne Gorbatschow noch zu fragen oder überhaupt einzubinden – die Auflösung der Sowjetunion. Dem sowjetischen Staatsoberhaupt blieb nur übrig, am 25. Dezember 1991 zurückzutreten – auf dem Kreml wurde die Sowjetflagge eingeholt, die russische Trikolore als Symbol der Russischen oder auch Russländischen Föderation aufgezogen.
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