25. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2022

Wollen wir einen langen Krieg?

von Stefan Pfüller

Die Frage im Titel spielt bewusst auf das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte an. Die Folgen der entsprechenden Ideologie sind bekannt. Deutschland verlor den „totalen Krieg“, es gab Millionen von Toten und Zerstörungen in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß.

So schlimm der russische Krieg in der Ukraine ist – auf eine Stufe mit dem Zweiten Weltkrieg kann man ihn nicht stellen. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht nötig sein wird, diesen Satz in „ … noch nicht stellen“ umzuformulieren.

Am 18. Juni 2022 tauchte eine ebenso aufschlussreiche wie bedenkliche Meldung der Nachrichtenagentur dpa auf. Zu lesen war, dass der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija Friedensverhandlungen mit Russland erst Ende August wieder aufnehmen will – nach (!) Gegenangriffen. Rechnet sich Kiew eine bessere Verhandlungsposition aus, wenn die Zahl der Opfer gewachsen ist und die materiellen Zerstörungen das gegenwärtige Ausmaß noch übertreffen? Sollen verlustreich errungene Geländegewinne als Faustpfand in Verhandlungen dienen? Ein schadenminderndes Prozedere ist das nicht.

Einen Tag nach Arachamijas Äußerung wurde NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Bild am Sonntag folgendermaßen zitiert: „Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass er (der Krieg in der Ukraine – S.P.) Jahre dauern könnte.“ Müsste diese Aussage nicht eigentlich lauten: „Wir bereiten einen jahrelangen Krieg vor.“? Stoltenberg äußerte sich nicht zum ersten Mal in diesem Sinn, im Kontext mit der Aussage des ukrainischen Chefunterhändlers erhalten seine Worte aber eine andere Qualität. Friedensbildende Ideen oder Maßnahmen scheinen auf der Agenda des NATO-Generalsekretärs nicht weit oben angesiedelt zu sein. Auch er, und damit die NATO, nimmt noch mehr Opfer und weitergehende Zerstörungen in Kauf.

Inzwischen, am 24. Juni, tauchte im ZDF-Teletext etwas sehr Merkwürdiges auf. Für Seite 128 wurde angekündigt: „Lawrow: Westen bereitet Krieg vor.“ Auf der Seite selbst aber las man den Hinweis, diese Nachricht sei gelöscht worden. Warum? Falls der russische Außenminister eine falsche Fährte legen wollte, hätte es doch Argumente geben müssen, seine Behauptung zu widerlegen. Gab es solche Argumente nicht, weil Lawrows Aussage der Wahrheit nahekam, aber nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte? Warum widersprach man im Westen nicht vehement? Sollen die Menschen im Westen auf einen längeren Krieg vorbereitet werden, weil die politische Führung das so will?

Gewiss könnte man einwenden, mit der Orientierung auf eine langwierige militärische Auseinandersetzung ziehen die Ukraine und die NATO eine Schlussfolgerung aus dem Scheitern des russischen Plans, die sogenannte „militärische Spezialoperation“ schnell zu einem Sieg zu führen. Inzwischen gibt es immerhin deutliche Hinweise darauf, dass man auch in Moskau in längerfristigen Zeiträumen denkt. Insofern würden sich die Ukraine und die NATO lediglich auf die neuen Gegebenheiten einstellen, was – rein militärisch gesehen – vielleicht nicht zu kritisieren wäre. Doch stellt sich die Frage, ob Angreifer und Angegriffener hinsichtlich der Dauer des Krieges nicht doch unterschiedlicher Auffassung sein müssten. Das ist aber offenbar nicht so: Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte nach einem Truppenbesuch laut Berliner Zeitung vom 20. Juni ein weiteres Mal: „Alles, was uns gehört, holen wir zurück.“ Das Recht der Ukraine auf territoriale Integrität steht außer Frage, aber unter den gegenwärtigen Umständen sollte man in Kiew sehr genau überlegen, welcher Weg für die Ukraine am verlustärmsten wäre. Vor allem der Präsident des Landes ist in der Verantwortung. Es geht ja nicht um das Ego der politischen Führung in Kiew, sondern um das (Über-)Leben der ukrainischen Bevölkerung.

Es gilt als Konsens, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf, weil die Konsequenzen für die Ukraine fatal und für Europa mindestens problematisch wären. Aber kann der Forderung „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“ ohne Wenn und Aber zugestimmt werden? Es gibt Experten (und solche, die behaupten, es zu sein), die das bedingungslos bejahen und folglich eine nahezu uneingeschränkte Ausstattung der Ukraine mit modernen Waffen für sinnvoll und unausweichlich halten. Dazu gehört der ehemalige Grünen-Politiker Ralf Fücks, der in einem Interview mit der Berliner Zeitung (7. Juni 2022) einerseits Waffenlieferungen an die Ukraine forderte, zugleich aber die Auffassung vertrat, dass sich Russland – im Unterschied zur Ukraine – einen Zermürbungskrieg leisten könne. Die Folge immer neuer Waffenlieferungen für Kiew wäre danach eine unbestimmte Verlängerung des Krieges zu Lasten des Landes und seiner Einwohner.

Einen neuen Aspekt hat Litauen in diesen Konflikt eingebracht. Das Verbot des Eisenbahntransits bestimmter Güter von Russland nach Kaliningrad kann nur als zielgerichtete Provokation verstanden werden. Zwar erklärte die litauische Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte, dass davon nur solche Waren betroffen wären, die unter die westlichen Sanktionen fallen. Sie verschwieg aber, dass diese Sanktionen Import und Export bestimmter Waren aus und nach Russland verbieten, doch vom Transitverkehr ist keine Rede. Litauen ist in diesem Falle weder Exporteur noch Importeur, sondern greift in den innerrussischen Warenverkehr ein. Litauen ist NATO-Mitglied, was bedeutet, dass ein NATO-Mitglied – vorerst „nur“ mit wirtschaftlichen Mitteln – gegen Russland vorgeht. Wer aber kann eine militärische Aktion oder Reaktion ausschließen? Was ist die Beteuerung diverser Vertreter von NATO-Staaten wert, keinen Krieg mit Russland zu wollen? Emotional mag man die litauische Entscheidung verstehen, rational betrachtet verschärft sie die Situation.

Es gilt, die Kriegshandlungen, gegebenenfalls unter internationaler Vermittlung und Kontrolle, schnellstmöglich einzustellen und alle Umstände aufzuklären, die zum 24. Februar geführt haben, um sicherzustellen, dass eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur weitere kriegerische Auseinandersetzungen möglichst ausschließt. Selbstverständlich muss auch darüber gesprochen werden, was während des Krieges geschehen ist. Verantwortliche für Kriegsverbrechen, die von neutraler Seite untersucht werden müssen, sind vor Gericht zu stellen. Zu klären wird auch sein, wer für die Beseitigung der Schäden und die Entschädigung der Opfer und ihrer Hinterbliebenen aufkommen muss. Sicherlich muss Russlands Rolle in der Weltgemeinschaft ebenfalls neu definiert werden.

Der Ukraine, und nur der Ukraine, obliegt es, den künftigen Kurs des Landes zu bestimmen. Dass das nicht die leichteste Aufgabe wird, ist unbestritten, denn Kiew wird nicht umhinkommen, mit Moskau zu reden. Sicherlich sind Gespräche über einen Friedensschluss mit Russland momentan schwer vorstellbar. Aber Frieden schließt man mit Feinden, wie der Schriftsteller Ingo Schulze kürzlich treffend formulierte. Je schneller es zu entsprechenden Verhandlungen kommt, desto besser für alle direkt und indirekt Beteiligten. Das Ergebnis eines langen Krieges ist dagegen kaum vorhersehbar. Wer übernimmt dafür die Verantwortung?

Eine Antwort darauf könnte der G7-Gipfel im bayerischen Elmau geliefert haben. Die sich selbst mandatierende Gruppe hat der Ukraine zugesichert, sie finanziell, humanitär, militärisch und diplomatisch zu unterstützen, „so lange es nötig ist“. Zu lesen war auch „unbegrenzt“ und „mit Soldaten“. Von irgendwelchen Ideen, wie der Krieg schnell beendet werden könnte, war in den offiziellen Statements keine Rede. Die Berliner Zeitung kommentierte das als die „eigene Ratlosigkeit“ der Staats- und Regierungschefs. Es sieht also bedauerlicherweise alles nach einem langen Krieg aus, zum Schaden aller.