In Deutschlands Friedensbewegung wird gerne vorwurfsvoll nach Osten gezeigt. Nicht nach Moskau, vielmehr in den großen Zwischenraum, der Moskau von Berlin trennt. Die NATO-Mitgliedschaft von Staaten wie Polen, Estland, Lettland oder Litauen ist nach dieser Sichtweise einer der wesentlichen Gründe, weshalb Wladimir Putin im Februar 2022 zum Mittel des brutalen Angriffskriegs gegen die Ukraine greifen musste, um sich seiner Haut zu erwehren. Alle Versuche, es vorher gütlich und diplomatisch zu regeln, sind danach von westlicher Seite fahrlässig in den Wind geschlagen worden. Signifikantes Beispiel sei das unaufhaltsame Vorrücken des westlichen Militärbündnisses unmittelbar bis an die westlichen Grenzen Russlands, womit alle Versprechungen aus den Jahren 1990 und 1991 gebrochen worden seien. Es liegt in der Logik dieser Lesart also auf der Hand, dass diejenigen Staaten, die aus dem einstigen Warschauer Vertragssystem später in die NATO wechselten, entweder aus strategischer Absicht dazu gezwungen worden sind, zum Beispiel als unabdingbare militärpolitische Vorleistung für eine gewünschte Mitgliedschaft in der Europäischen Union, oder aber es aus freien Stücken selbst vorangetrieben haben, um traditionellen russlandfeindlichen Einstellungen neuen Auftrieb zu verleihen.
Man schlägt den Sack und meint den Esel. Es geht vor allem um den Westen als politisches System selbst, das heftig kritisiert wird. Die als dessen Satelliten betrachteten Staaten östlich von Oder und Neiße interessieren da weniger, allein sie sind in deutschen Friedenskreisen oft genug ein tüchtiges Ärgernis. Kaum jemand spürt dort noch, wie tief politische Ignoranz und deutsche Überheblichkeit sich mittlerweile eingefressen haben, wenn die NATO-Osterweiterung an den Pranger gestellt wird.
Als Michail Gorbatschow und Helmut Kohl sich im Sommer 1990 auf künftige Schritte zu einigen suchten, die mit dem bevorstehenden Übergehen der DDR in die Strukturen der Bundesrepublik Deutschland als nötig erachtet wurden, war das NATO-Thema selbstverständlich und an vorderster Stelle präsent. Doch es ging immer nur um die Frage, was sicherheitspolitisch mit oder auf dem Territorium der DDR passiere, wenn es die DDR nicht mehr geben werde. Niemand wird heute allen Ernstes behaupten, dass Gorbatschow und Kohl damals im Kaukasus über künftige sicherheitspolitische Interessen solcher Staaten wie Polen, Ungarn oder die Tschechoslowakei entschieden oder mitentschieden hätten. Hier sei nur angefügt, dass Gorbatschow längst mit der unsäglichen Breshnew-Doktrin gebrochen hatte, wonach die Souveränität der einzelnen Staaten im Moskauer Machtbereich immer dort ihre Grenzen finde, wo die Sicherheitsinteressen des Gesamtsystems gefährdet werden.
Freilich ging Gorbatschow zum Zeitpunkt der Kaukasus-Gespräche noch fest von einem Fortbestand des Warschauer Vertragssystems aus, auch ohne die DDR. Gewissermaßen sollte das Territorium der DDR im vergrößerten Deutschland künftig wie ein Puffer zwischen den beiden Militärblöcken wirken, obwohl es formal in den NATO-Bestand übergegangen war. In der weiteren Perspektive ging es Gorbatschow um ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, das beide Militärblöcke schließlich überflüssig machen sollte. Zweifellos war er aber zugleich ein Getriebener, denn der politische Druck im sowjetisch geführten Militärblock war wegen der innenpolitischen Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten unbeschreiblich hoch. Niemand, der dort seinerzeit in verantwortlicher Position war, selbst diejenigen nicht, die bereits ganz offen auch sicherheitspolitisch für eine vollständige westliche Ausrichtung standen, wagte einen offenen Austritt aus dem Sicherheitsbündnis. Erst als die Sowjetunion im Laufe des Jahres 1991 wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel – was Gorbatschow und Kohl im Juli 1990 nie und nimmer in so kurzer Zeit für möglich gehalten hätten –, ergab sich eine gänzlich andere sicherheitspolitische Situation. Plötzlich stand für viele Staaten das Gespenst im Raum, verteidigungspolitisch völlig allein auf weiter Flur zu stehen. Die Neutralität, wie sie Österreich oder Finnland in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich praktiziert hatten, schien keinen ausreichenden Schutz zu bieten. Die Vision einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur anstelle der beiden bisherigen Militärblöcke, wie sie insbesondere Gorbatschow verfolgt hatte, galt schnell als obsolet. Doch niemand wurde bedrängt, gezwungen oder erpresst. Der Rückblick auf die eigene Geschichte, das Wissen um Erfahrungen mit dem entschiedenen Vorgehen Moskaus – zum Beispiel im September 1939 in Polen, im Juni 1940 in Estland, Lettland und Litauen, 1956 in Ungarn und 1968 in der ČSSR – gaben den Ausschlag. Die NATO galt als attraktives, vor allem intaktes Bündnis, um den nationalen Sicherheitsinteressen nachzukommen. Dass mit dem eigenen Beitritt zum Bündnis die NATO zugleich an die Grenzen Russlands vorrückte, wurde als eine Art Zufall der geografischen Lage gewertet, für die bislang aber häufig genug selbst bezahlt worden war.
Der Warschauer Vertrag als das von Moskau geführte militärische Bündnis im Ostteil Europas hatte politische Voraussetzungen, die seit den stürmischen Ereignissen im Herbst 1989 in schneller Folge ihre ganze Bedeutung einbüßten. Dass es nicht zur gleichzeitigen Auflösung des westlichen Militärbündnisses kam, hat etwas mit dem damaligen Kräfteverhältnis zu tun. Dafür aber tragen die nach 1999 der NATO beigetretenen Staaten kaum Verantwortung. Dass sie sich sicherheitspolitisch entschieden, wie sich entschieden haben, mag aus friedenspolitischer Sicht in Deutschland bedauert werden. Doch darin einen wesentlichen Grund zu sehen, weshalb Putin im Februar 2022 militärisch sein Nachbarland überfiel, ist gleichermaßen verlogen wie sachlich falsch. Die immer wieder vorgebrachten Forderungen nach einer Aufdeckung der sogenannten Vorgeschichte des jetzigen Krieges sind für sich genommen völlig richtig, doch betreffen sie in erster Linie die künftigen Zeithistoriker, wenn sie einst an die Dokumente herangelassen werden. Einstweilen ist es aber eine Binsenwahrheit, denn eine solche Vorgeschichte hat natürlich jeder Krieg. Jetzt aber gilt es, eine klare Haltung zu zeigen – für oder gegen den Angriffskrieg Putins.
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