Verstärkt seit der Weltwirtschaftskrise von 2007/2009, vor allem aber im Zusammenhang mit dem 150. Jahrestags des Erscheinens des „Kapitals“ von Karl Marx 2017 und seinem Geburtsjubiläum 2018 wurde landauf, landab die Frage erörtert: „Was hat uns Marx heute noch zu sagen?“ Die meisten der feuilletonistischen Artikel und auch manche der erschienen Bücher sind kaum einer Erwähnung wert. Einer, der sich wie kaum jemand anderes in Marx‘ Werk und in der ökonomischen Weltliteratur überhaupt auskennt, hat diese Frage in einer sechsbändigen, geradezu monumentalen Arbeit zu beantworten gesucht: Der Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe und als Berater von Gewerkschaften und Belegschaften aktive Stephan Krüger. Schon in den 1980er Jahren hatte er mit „Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation“ und „Keynes contra Marx?“ dieser Frage nachgespürt. Aber nach der genannten Krise schien ihm offensichtlich die Zeit reif zu sein, ihr noch umfassender und grundlegender nachzugehen.
Krüger betreibt keine Marx-Exegese. Sein Gegenstand ist nicht Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie, sondern die Ökonomik des Kapitalismus, wie sie sich in Gegenwart und Vergangenheit darstellt. Aber er beruft sich immer wieder sehr detailliert auf Marx und lässt – oft sogar in Wiederholungen – kein einziges Marx-Zitat aus, das auf seinen Gegenstand passt. Was seine Arbeit aus der Fülle einschlägiger Literatur herausragen lässt, sind nicht nur ihre Tiefe und ihr Kenntnisreichtum sowie der schier unfassbare Umfang (die sechs Bände kommen sage und schreibe auf fast viertausend Seiten), es ist die Tatsache, dass er die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie, ergänzt um die seitdem erschienene Literatur zur Grundlage einer umfassend empirischen und statistischen Analyse der Gegenwart des Kapitalismus und dessen Geschichte macht. Nahezu die gesamte relevante ökonomische Literatur aus zwei Jahrhunderten, gleich welcher Denkrichtung, ist berücksichtigt. Krüger hat eine Unzahl an Büchern und statistischen Berichten bewältigt. Mitunter werden die Leser mit Statistik zwar geradezu erschlagen, aber wem empirisch und statistisch untersetztes theoretisches Arbeiten nicht fremd ist muss es auch Bewunderung abringen, mit welcher Akribie allein seine umfangreichen, weit in die Geschichte zurückreichenden statistischen Anhänge und deren grafische Aufbereitung dargeboten werden. Und hinter Krüger stehen kein Institut und – soweit ich das überblicken kann – kein unterstützendes Team, er hat alles selbst gelesen, recherchiert, zusammengestellt, berechnet und aufbereitet. Und er hat nicht nur dieses sechsbändige Werk, sondern weitere umfangreiche Arbeiten vorgelegt, die er zwar nicht zu dieser Reihe zählt, die damit aber in enger Verbindung stehen.
Krügers Anliegen ist zwar eine umfassende Gesamtanalyse der ökonomischen Anatomie des Kapitalismus und die Erklärung von dessen Funktionsweise, aber der rote Faden seines Werkes ist die Suche nach den Bestimmungsgründen für die Dynamik und die Zyklen der Akkumulation des Kapitals, ihrer Gesamtbewegung, ihrer Krisen und ihres Schicksals. So wichtig seine Geldtheorie, seine Untersuchung der sozialen Ungleichheit, der staatlichen Umverteilung, der Vergleich von marxscher und keynesianischer Theorie, seine kritische Auseinandersetzung mit der Monetären Werttheorie des Marxisten Michael Heinrich und anderen Geldtheorien der Gegenwart sowie den Hauptschulen bürgerlichen ökonomischen Denkens auch sind, letztlich stellt sich ihm immer die Frage nach dieser Dynamik und damit der Zukunft des Kapitalismus. Diese Dynamik ergebe sich vor allem aus der Bewegung von Masse und Rate des Durchschnittsprofits, deren Entwicklung er für eine Vielzahl nationaler Wirtschaften berechnet und analysiert.
Obwohl er neben den krisenzyklischen auch eine überzyklische Schwankung der Profitrate aufzeigt, steht er der Theorie der langen Wellen, wie sie unter anderen Nikolai Kondratieff, Joseph Schumpeter oder – auf marxistischer Grundlage – Ernest Mandel entwickelt haben und wonach es einen quasi endlosen Superzyklus von einer Dauer zwischen 40 und 60 Jahren gibt, eher skeptisch gegenüber. Für ihn ist, wie für Marx, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate das „in jeder Beziehung wichtigste Gesetz der modernen Ökonomie“. Es regiere nicht nur den industriellen Zyklus, sondern auch die langfristige Bewegung der Akkumulation, die Wechsellagen von „beschleunigter Akkumulation“ (wie in den Nachkriegsjahrzehnten seit 1945) und „struktureller Überakkumulation“, wie etwa seit den 1970/1980er Jahren. Ob es gegenwärtig oder in naher Zukunft zu einer Überwindung dieser manchen Theoretikern als „säkulare Stagnation“ erscheinenden Konstellation kommen könnte, lasse sich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten, das sei an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Mit den gleichen Worten wie Schumpeter in seiner epochalen Arbeit „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ von 1942 stellt er die Frage: „Kann der Kapitalismus weiterleben?“
Krüger, der die Theorien eines Zusammenbruchs ablehnt, antwortet: „Nur um den Preis seiner evolutionären Weiterentwicklung und tendenziellen Aufhebung durch Relativierung seiner privaten Vergesellschaftungsformen im Äußeren wie im Innern. Neue, emanzipatorische Regulierungsformen sind gefragt, die der kapitalistischen Marktwirtschaft an zentralen Punkten zugunsten nicht-kapitalistischer, sozialistischer Formen überwinden.“ Schumpeter hatte, obwohl völlig anders argumentierend, eine auf den ersten (sic!) Blick sich davon gar nicht so unterscheidende Antwort auf die Frage nach dem Schicksal des Kapitalismus gegeben: Er könne nicht weiterleben; Sozialismus sei unvermeidlich – gleichgültig, ob das aus seiner Sicht wünschenswert oder nicht wünschenswert sei und in welcher Form ein Übergang erfolge.
Krüger hält nichts von Theorien über Stadien des Kapitalismus wie etwa der Theorie vom Monopolkapitalismus oder vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus, sondern geht wie die in Frankreich entstandene Regulationsschule von verschiedenen Akkumulationsregime aus und unterscheidet „historische Entwicklungsepochen der kapitalistischen Produktionsweise“ nach der globalen Vorherrschaft eines „Weltmarkt-Hegemon“ oder eines „Demiurg des Weltmarktes“. Nach einer Ära der Vorherrschaft Großbritanniens folgte auf den „Polyzentrismus“ der Zwischenkriegszeit das „amerikanische Zeitalter“. Dies gehe nun zu Ende und mit ihm die Vorherrschaft einer einzelnen Nation überhaupt. Im gegenwärtigen Kapitalismus, in dem der Übergang von einem industriellen zu einem finanziellen Akkumulationsregime erfolge, entwickele sich vielmehr eine „multipolare Weltwirtschaft“, wobei die einst von Rosa Luxemburg in den Raum gestellte „Alternative ‚Sozialismus oder Barbarei‘ […] heutzutage weniger hinsichtlich eines friedlichen Übergangs zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in großen Teilen der Welt als vielmehr hinsichtlich des Rückfalls in barbarische Entwicklungen real (ist).“
Trotz dieser pessimistischen Worte, mit denen er den 6. Band seines Werks abschließt (im Band 1 zeigt er sich diesbezüglich keineswegs so pessimistisch) widmet er den Band 3 der sozialistischen Wirtschaftspolitik und dem Sozialismus. Überhaupt beschränkt sich Krüger, völlig anders als Marx, nicht auf die Analyse mit womöglich revolutionären Schlussfolgerungen. Er sucht nach Ansätzen und macht Vorschläge für eine progressive Wirtschaftspolitik unter den gegenwärtigen Bedingungen. Das betrifft sowohl eine, auch auf Vorschläge von John M. Keynes zurückgreifende, antizyklische Wirtschaftspolitik, eine Sozialpolitik und Politik der Umverteilung zugunsten der unteren Klassen und Schichten, die Geldpolitik, als auch – im 6. Band – eine umfassende Reform in Richtung auf „ein alternatives zukünftiges Weltmarktregime“. Manche dieser Politikansätze könnten auch von bürgerlicher Seite aufgegriffen werden, manche werden explizit als „alternative Wirtschaftspolitik“ gekennzeichnet, deren Weiterführung zur „Systemveränderung“ in Richtung auf einen „Marktsozialismus“ führen kann. „Ein evolutionärer Übergang aus bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen zu einem demokratischen Marktsozialismus besteht aus vielen kleineren Schritten, die aber mit zunehmender Umsetzung an die so genannte Systemgrenze herankommen und daher heftigeren Widerstand der Verteidiger der kapitalistischen Ordnung hervorrufen werden.“ Krüger bleibt bei diesen Schritten nicht stehen; er entwirft auch die Konzeption eines Marktsozialismus und skizziert Grundzüge „kommunistischer Perspektiven“.
Bemerkenswert ist seine umfassende Nutzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die von manchen Marxisten oft als verzerrte, apologetisierende Widerspiegelung kapitalistischer Realität gekennzeichnet wird. Krüger kann sie jedoch für seine auf der Arbeitswerttheorie beruhende Rechnung nutzen, weil diese Statistik den realen Verwertungsbedürfnissen der bürgerlichen Klasse diene und die Wirklichkeit in ihren Grundzügen deshalb durchaus adäquat widerspiegeln müsse. Mehr Transparenz bei den Quellen und Methoden der Umrechnungen wären allerdings angebracht gewesen. Die heute üblicherweise geforderte wissenschaftliche Reproduzierbarkeit von Berechnungen scheint mir jedenfalls – anders als bei Thomas Piketty, der seine Berechnungen und deren Quellen zu einem ähnlichen Gegenstand in beispielhafter Weise öffentlich gemacht hat – nicht immer möglich. Auch hatte ich mitunter den Eindruck, dass bei seiner Konzentration auf die Ableitung und Darstellung der Gesetze der Akkumulation die Rolle von sozialen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfen, sowie von historisch konkreten Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit und den verschiedenen Klassen und Schichten sowie deren zufällige Konstellationen unterbelichtet bleiben.
Das Werk ist – Krüger gibt es schließlich selbst zu – nicht leicht zu lesen und leidet unter erheblichen Redundanzen. Da er den Gegenstand der Akkumulation aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und den Untersuchungsgegenstand mit Fortschreiten der einzelnen Bände auch geografisch allmählich ausweitet, kommt es zu vielen Wiederholungen. Sein Stil ist oft gewöhnungsbedürftig. Er will die nähere Bestimmung der verwendeten Begriffe und die Bedingtheit von Aussagen (und sein geradezu enzyklopädisches Wissen über Theorien, Theoretiker und historische Tatbestände) oft in das Binnengefüge ein und desselben Satzes zwängen, was zu überlangen, komplizierten und schwer verständlichen Strukturen führt. Aber wer eine zeitgemäße, umfassende marxistische Kritik der Politischen Ökonomie für notwendig oder wenigstens für interessant hält, sollte diese Schwierigkeit und natürlich auch durchaus strittige – hier nicht thematisierte – Aussagen in Kauf nehmen und sich diesem Werk zuwenden. Vielleicht werden die erwähnten Schwächen in seinen weiteren zu erwartenden Arbeiten auch abgebaut. Neben der ständigen Aktualisierung des empirisch-statistischen Materials überlegt Krüger, eventuell einen Band 7 über die „Epochen ökonomischer Gesellschaftsformationen“ vorzulegen. Man darf gespannt bleiben.
Die sechs, im Hamburger VSA-Verlag erschienen Bände sind:
Band 1: Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation (2011, 1124 Seiten, 58,00 Euro, vergriffen, Open Access verfügbar),
Band 2: Politische Ökonomie des Geldes (2012, 616 Seiten, 36,80 Euro; vergriffen, Open Access verfügbar),
Band 3: Wirtschaftspolitik und Sozialismus (2016, 568 Seiten, 34,80 Euro),
Band 4: Keynes und Marx (2012, 416 Seiten, 26,80 Euro),
Band 5: Soziale Ungleichheit, Private Vermögensbildung, sozialstaatliche Umverteilung und Klassenstruktur (2017, 712 Seiten, 39,80 Euro) und
Band 6: Weltmarkt und Weltwirtschaft (2021, 608 Seiten, 34,80 Euro).
Man kann das Buch über „Grundeigentum, Bodenrente und die Ressourcen der Erde“ (2020 im selben Verlag erschienen, 408 Seiten, 29,80 Euro), das im Rahmen einer Tätigkeit am privaten Berliner Institut für Geschichte und Zukunft der Arbeit entstanden ist, getrost noch dazurechnen.
Schlagwörter: Geld, Jürgen Leibiger, Kapitalakkumulation, Marktsozialismus, Marx, soziale Ungleichheit, Stephan Krüger, Weltwirtschaft, Wirtschaftspolitik