24. Jahrgang | Nummer 26 | 20. Dezember 2021

Asymmetrische Freundlichkeiten

von Jan Opal, Gniezno

Handfeste Kleinigkeiten hatten im Straßenbild der polnischen Hauptstadt frühzeitig signalisiert, wie die Regierenden sich auf den politischen Wechsel an der Spree einzustellen suchen. Wieder einmal wurde ganz oben die deutsche Karte gezogen, diesmal allerdings ohne begleitendes Feuerwerk in den nationalkonservativen Medien, um die eigene Wählerschaft noch einmal gesondert aufzurütteln, nein – jetzt wurde versucht, den ungeliebten Nachbarn im Westen irgendwie direkt aufs Korn zu nehmen.

In einer Nacht- und Nebelaktion waren die seit den 60er Jahren in Warschaus Innenstadt überall anzutreffenden Gedenktafeln für die Opfer der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg sichtbar geändert worden. Bis dahin war darauf immer zu lesen gewesen, dass hier an dieser Stelle soundviele Polen dann oder dann erschossen worden seien – von sogenannten Hitleristen oder Hitler-Leuten (polnisch: Hitlerowcy). Jetzt war dieses Wort verschwunden, angebracht war stattdessen demonstrativ die Bezeichnung der Täter – Deutsche! Die frühere Wortwahl hatte einen erkennbaren politischen Hintergrund, auf den jetzt nicht eingegangen werden soll. Auch wäre die sprachliche Übernahme der Bezeichnung Hitlerfaschisten, wie sie anderswo üblicher wurde, im Polnischen viel zu sperrig gewesen, also entschied man an höherer Stelle für die Hitleristen. Und natürlich hatte im Krieg, als gegen die deutsche Besatzung gekämpft und unter ihr gelitten wurde, wohl kaum jemand in Polen dieses Wort je gebraucht, wenn er den Gegner meinte.

Da diese Gedenktafeln unter besonderem Schutz stehen, griff die Stadtverwaltung entsprechend durch und ließ den ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Allerdings hat nun das staatliche Geschichts- und Erinnerungsinstitut IPN dafür gesorgt, dass unterhalb der fest ins Mauerwerk eingelassenen Tafeln zusätzliche kleinere Informationstafeln angebracht werden, auf denen der Betrachter den neuesten Wissensstand zu dem damaligen Vorgang erfahren kann, die Täter aber ohne Umschweife als Deutsche bezeichnet werden.

Im Kulturministerium indes wurden Straßenplakate initiiert, die es tatsächlich bis in deutsche und internationale Medien gebracht haben. Neben Hitler und Goebbels sind darauf zu sehen: der jetzige deutsche Botschafter in Warschau, Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Heiko Maas und Konrad Adenauer. Farblich-gestalterisch alles aus einem Guss, weil es eng zusammenhängen soll. Dazwischen illustrierend und mit viel Hakenkreuz die Fotos jubelnder Deutscher in damaliger Zeit, außerdem sich demonstrativ in Pose stellendes Wachpersonal aus Auschwitz.

Die Botschaft ist klar: Im zugspitzten Streit zwischen Warschau und Brüssel, sobald es um die Einhaltung von Rechtsstaatskriterien geht, soll zusätzlicher Druck ausgeübt werden auf das aus polnischer Sicht wichtigste Mitgliedsland der Europäischen Union, auf Deutschland. Von einem Land mit solcher Vergangenheit brauche sich niemand belehren zu lassen, sobald es um Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit gehe. Und zusätzlich wurde erneut die Keule der Reparationen herausgeholt, die Deutschland in der Lesart des Kaczyński-Lagers den Polen für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg noch immer schulde – die Kleinigkeit von 900 Milliarden Euro. Dann kamen kurz nacheinander Deutschlands neue Außenministerin und der neue Bundeskanzler nach Warschau, um den zur Tradition gewordenen Antrittsbesuch beim östlichen Nachbarn zu absolvieren. Offiziell wurde alles wie gehabt im Zeichen der tiefen Freundschaft zu Polen gehalten. Beschworen wurden die gemeinsame EU- und NATO-Mitgliedschaft, die gemeinsamen außenpolitischen Interessen, überhaupt die erfolgreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit, die den Menschen auf beiden Seiten sehr zugutekomme. Der deutschen Seite, versicherten beide Spitzenpolitiker fast wie im Chor, sei die schreckliche Vergangenheit, sei die Tiefe der deutschen Schuld gegenüber Polen stets bewusst. Doch andererseits redeten sie nicht lange um den heißen Brei herum, verwiesen kurzerhand darauf, was aus ihrer Sicht im Nachbarschaftsverhältnis entscheidender werde.

Annalena Baerbock pochte sehr auf die gemeinsamen Werte im europäischen Fundament, vor allem auf das Rechtsstaatsprinzip, ohne das nun einmal die Gemeinschaft gar nicht weitergedacht werden könne, an das sich aber auch alle ohne Unterschied halten müssten. Ihr Gastgeber, Außenminister Zbigniew Rau, konterte die sanfte Ohrfeige entsprechend, brachte nämlich – diplomatisch freundlich, aber unmissverständlich – die Reparation ins Gespräch, die noch ausstehe, und erteilte der Idee, die EU-Gemeinschaft in Richtung einer künftigen bundesstaatlichen Föderation voranzutreiben, eine entsprechende Abfuhr. Mit Polen werde sich ein Zurückdrängen staatlicher Souveränitätsrechte nicht machen lassen.

Cleverer agierte Olaf Scholz, der seinem Gastgeber, dem Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, schnell den Wind aus dem Segel nahm, indem er ohne unnötige Rechtsstaatspirouette klarstellte, dass für das Verhältnis zu Brüssel jedes Land nun einmal selbst verantwortlich sei, er also Warschau dabei nur alles Gute wünschen könne und eben auch tatsächlich wünsche. Und er stellte nebenbei heraus, dass seine Regierung überhaupt nicht daran denken werde, sich ungerechtfertigt in innere Angelegenheiten Polens einzumischen, auch nicht die Absicht habe, es ungebührlich zu belehren. Über die künftige Entwicklung des Landes, so die erkennbare Botschaft, werde in erster Linie hier entschieden, weniger in Brüssel und schon gar nicht in Berlin.