24. Jahrgang | Nummer 23 | 8. November 2021

AKKs Rohrkrepierer

von Sarcasticus

AKK-Interview im Deutschlandfunk, 21. Oktober 2021:

Silvia Engels: Die Agentur Reuters berichtet […], dass die NATO über regionale Abschreckungsszenarien für die baltische und auch die Schwarzmeer-Region nachdenke, auch möglicherweise im Luftraum mit Nuklearwaffen. Ist das der Weg der NATO?

Annegret Kramp-Karrenbauer: Das ist der Weg der Abschreckung. Wir müssen Russland gegenüber sehr deutlich machen, dass wir am Ende – und das ist ja auch die Abschreckungsdoktrin – bereit sind, auch solche Mittel einzusetzen, damit es vorher abschreckend wirkt und niemand auf die Idee kommt, etwa die Räume über dem Baltikum oder im Schwarzmeer NATO-Partner anzugreifen. Das ist der Kerngedanke der NATO, dieses Bündnisses, und das wird angepasst auf das aktuelle Verhalten Russlands. Wir sehen insbesondere Verletzungen des Luftraums über den baltischen Staaten, aber auch zunehmende Übergriffigkeiten rund um das Schwarze Meer.

Heißt im Klartext: Die deutsche, zum Zeitpunkt ihrer Einlassung noch offiziell amtierende Verteidigungsministerin plädiert dafür, Russland den Einsatz von Atomwaffen anzudrohen, damit Moskau sich endlich so verhalte, wie die NATO und eine (abgestürzte) Politikerin aus dem Saarland sich das vorstellen.

Eine solche Ungeheuerlichkeit bloß als verantwortungsloses Drehen an der Eskalationsschraube einzustufen, wie Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef im Bundestag, das zumindest unverzüglich getan hat, stimmt zwar in der Grundrichtung, ist im Endeffekt aber Understatement. Denn was AKK da abgesondert hat, läuft auf nicht weniger hinaus als auf die Mithaftung sämtlicher Bewohner dieses Landes, ja ganz NATO-Europas für eine Option auf atomaren Selbstmord. Der wäre die nahezu zwangsläufige Folge, sollte eine solche Drohung gegenüber einer nuklearen Supermacht im Falle des Falles, also wenn das Spiel aus dem Ruder liefe, wahrgemacht werden würde. Dass dies den fundamentalen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik entspricht, wird niemand ernstlich behaupten wollen. (Dass deshalb ein signifikanter Teil der Mithaftenden allerdings nun schlecht schliefe, jedoch auch nicht. Denn die von Atomwaffen ausgehende existenzielle Bedrohung ist in der in dieser Hinsicht seit langem sedierten deutschen und internationalen Öffentlichkeit kein Aufreger mehr.)

Verwundern andererseits muss die sicherheitspolitische Fundamentalabsenz unserer Verteidigungsministerin niemanden. AKK liegt damit nahtlos in einem Trend, der seit Menschengedenken immer wieder in Erscheinung tritt und offenbar unausrottbar ist. Das hat die US-amerikanische Historikerin Barbara Tuchman in ihrer bereits 1984 erschienenen umfangreichen Studie „The March of Folly“ (deutscher Titel: „Die Torheit der Regierenden“) herausgearbeitet, die beim Trojanischen Krieg einsetzt und den Bogen bis zur Indochina-Aggression der USA spannt. Ihr Fazit: „Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft. In der Regierungskunst, so scheint es, bleiben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Weisheit, die man definieren könnte als den Gebrauch der Urteilskraft auf der Grundlage von Erfahrung, gesundem Menschenverstand und verfügbarer Information, kommt in dieser Sphäre weniger zur Geltung und ihre Wirkung wird häufiger vereitelt, als es wünschenswert wäre.“ Die Autorin spricht von „Missregierung“ durch „Torheit“ und stellt klar: „Im Eigeninteresse [des jeweiligen Staates und seiner Bürger] liegt all das, was dem Staatskörper zum Wohlergehen und zum Vorteil gereicht; von Torheit sprechen wir angesichts einer Politik, die hieran gemessen kontraproduktiv ist“, weil sie „nachweislich unwirksam ist oder direkt gegen die eigenen Ziele arbeitet“. Darüber hinaus verzeichne die Geschichte „eine unüberschaubare Zahl von Fällen militärischer Torheit“.

Tuchman fragt: „Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft? Warum bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos?“

Ihre Antworten aufgrund empirischer Untersuchungen sind erschreckend banal: „Torheit ist ein Kind der Macht“, weil „die Macht, Befehle zu erteilen, häufig dazu führt, das Denken einzustellen“. Des Weiteren sei „Engstirnigkeit, die Quelle der Selbsttäuschung, […] ein Faktor“, auch „Selbstverherrlichung“ und „die Illusion eigener Unverwundbarkeit“.

Mancher wird an dieser Stelle vielleicht abwinken: Wozu das ganze Bohei? AKK mag schwätzen, was sie will – den Finger am Abzug hat sie jedenfalls nicht. Das ist richtig, auch wenn die Dame in ihrer kurzen Amtszeit im Berliner Bendlerblock die Weichen dafür stellen wollte, Kampfbomber vom Typ F-18 für die Bundesluftwaffe zu beschaffen (Kosten: etliche Milliarden Euro), damit die auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagernden US-amerikanischen Atombomben auch künftig in Richtung Russland in Marsch gesetzt werden können (ausführlicher Blättchen 10/2020). Der Einsatzschlüssel dafür liegt jedoch bei den USA.

Aber wirklich beruhigen kann dieser Sachverhalt mitnichten. Denn wes Geistes oder besser: wes atomaren Ungeistes Kind der Befehlshabende in Washington gegebenenfalls ist, lässt sich am Beispiel von Harry S. Truman, des für die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verantwortlichen Präsidenten, in der von Kai Bird und Martin J. Sherwin verfassten, mit dem Pulitzer-Preis gekrönten Biographie J. Robert Oppenheimers nachlesen. Oppenheimer war wissenschaftlicher Leiter des Manhattan-Projekts zur Entwicklung der ersten Atombomben der USA. Nur eine Episode: Als Oppenheimer am 3. Mai 1946 Truman in einem Schreiben „mit einer vernichtenden Logik“ die wissenschaftliche und militärische Widersinnigkeit jenes Atomwaffentests nachwies, der dann am 1. Juli 1946 über dem Bikini-Atoll stattfand – es war der zweite Test nach Trinity und insgesamt erst die vierte Explosion einer Kernwaffe –und dessen Befürworter behaupteten, dass „wir auf die Möglichkeit eines Atomkrieges vorbereitet sein“ müssten, setzte Truman sich mit der abwertenden Bemerkung „Heulsusen-Wissenschaftler“ über die Einwände hinweg.

Ein alter Hut? Erst kürzlich war die Welt mit einem Präsidenten konfrontiert, der während seines Wahlkampfes einen außenpolitischen Berater im Hinblick auf Kernwaffen ernsthaft und wiederholt mit der Frage konfrontiert hatte: „Wenn wir sie haben, warum können wir sie nicht benutzen?“

Doch zurück zu AKK. Deren jetzige Einlassung drängt wegen ihrer ebenso suizidalen wie hanebüchenen Torheit noch wenigstens zu zwei weiteren Fragen:

– Wie wird man in Deutschland eigentlich Verteidigungsminister?

– Und wenn man es denn ist, wie wird man dann sicherheitspolitisch konditioniert?

Die kurze Antwort auf die erste Frage lautet im Falle AKKs: Wenn man als CDU-Chefin nach der Kanzlerschaft greifen will und a) das Amt des Verteidigungsministers wird vakant sowie b) ein Konkurrent mit eigenen Kanzlerambitionen (Jens Spahn) könnte danach greifen, dann fragt man nicht lange nach dem eigenen Geschwätz von gestern („Kramp-Karrenbauer will keinen Ministerposten im Kabinett Merkel“, Der Tagesspiegel, 10.12.2018) und auch nicht nach Voraussetzungen und Kompetenz, dann greift man beherzt selbst zu.

Oder es läuft gleich – ein anderes in parlamentarischen Parteiendemokratien nicht untypisches Exempel – wie bei Heiko Maas, dem außenamtlichen GAU der gerade zu Ende gegangenen Legislaturperiode. Die folgende Zusammenfassung stammt von Robin Alexander, dem stellvertretenden Chefredakteur der Tageszeitung DIE WELT: „Nach einer langen Karriere in der saarländischen Landespolitik, die wider Erwarten nicht vom Posten des Ministerpräsidenten gekrönt wurde, absolvierte er eine umstrittene Amtszeit als Justizminister. Als Außenpolitiker sah ihn niemand, auch er selbst sich nicht. Seine Ernennung verdankt sich lediglich einer verworrenen Binnenlogik der Sozialdemokraten.“ Anfang 2018 habe den damaligen SPD-Parteichef Martin Schulz und die an die Spitze drängenden Andrea Nahles und Olaf Scholz „ein gemeinsames Interesse“ verbunden: „Die politische Karriere des noch amtierenden Außenministers und früheren SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu beenden. Schulz nutzte dies, um sich in der allerletzten Nachtsitzung der Koalitionsverhandlungen selbst das Außenministerium als Trostpflaster für seine gescheiterte Kanzlerkandidatur zu organisieren.“ Doch habe er schließlich auf Druck der Basis zurückstecken müssen – eingeholt von seiner früheren Erklärung, „niemals in ein Kabinett Merkel eintreten zu wollen.“ So hätten Nahles und Scholz schließlich „einen Ersatzkandidaten aus dem Hut“ gezogen, „der als ministrabel durchging, aber schwach genug war, ihre Kreise nicht zu stören: Heiko Maas“.

Alexanders Schlussfolgerung, wir „brauchen eine Debatte darüber, wie Personal für politische Spitzenämter rekrutiert wird“, kann nur zugestimmt werden. Doch diese Debatte müsste auch und vor allem von den Spitzenkadern der politischen Parteien angestoßen und geführt werden, die sich im Zweifelsfalle als für jegliches Amt geeignet wähnen. Ein Circulus vitiosus.

Und auch die Antwort auf die andere Frage, die nach der sicherheitspolitischen Konditionierung, muss schwer zu denken geben. AKKs wesentliche Karrierestationen vor ihrem Sprung an die Spitze des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg), der am 17. Juli 2019 erfolgte, waren: nach dem Studium der Politik- und Rechtswissenschaften Grundsatz- und Planungsreferentin der CDU Saar von 1991 bis 1998, dann persönliche Referentin des Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion. Zwischen 2000 und 2011 Landesministerin in verschiedenen Ressorts und anschließend bis 2018 Ministerpräsidentin des Saarlandes. Seit 7. Dezember 2018 schließlich Generalsekretärin der CDU. Nach Berührungspunkten mit sicherheitspolitischen Grundsatzfragen dürfte man in dieser beruflichen Vita vergebens suchen. Alles, was AKK sich seither dazu angeeignet und von sich gegeben hat (siehe auch Blättchen 25/2020), dürfte dem kollektiven Komment an der Spitze des BMVg geschuldet sein …

*

Barbara Tuchman hatte am Ende ihres ersten Kapitels übrigens erklärt, „fast“ erübrige es sich, „festzustellen, dass die vorliegende Studie durch den Umstand angeregt wurde, dass wir diesem Problem (der „Missregierung“ durch „Torheit“ – S.) heutzutage auf Schritt und Tritt begegnen.“

Das publizierte sie, wie gesagt, 1984. Welchen Eindruck sie wohl von unseren Tagen hätte?

Die Historikerin formulierte allerdings auch einen eigenen Imperativ: „Warum bemühen wir uns nicht […] um einen Modus vivendi mit unserem Gegenspieler – d.h. um eine Form gemeinsamen Lebens und nicht gemeinsamen Sterbens.“

P.S.: Was – im Vergleich zu AKK und ähnlichen Strategen – alternative Ansätze zum Umgang mit Russland jenseits von atomarer Abschreckung und Konfrontation anbetrifft, so muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden, was dazu in diesem Magazin in den vergangenen Jahren bereits unterbreitet worden ist. Das ist abrufbar – unter anderem durch die Eingabe von „Der Westen und Russland – zum Diskurs“ in die Blättchen-Suchmaske.