24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Die Sprache der Einheit und der Osten

von Ulrich Busch

Der Vollzug der deutschen Vereinigung durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik vor 31 Jahren hatte nicht nur die Übernahme der bundesdeutschen Währungs-, Wirtschafts-, Rechts- und Sozialordnung durch die neuen Länder zur Folge, sondern auch die Übertragung der westdeutschen Lebensweise, Sprache und Kultur. Dies bedeutete für die Ostdeutschen, dass ihre Sprache, Terminologie und Kommunikationskultur von heute auf morgen ungültig und die westdeutsche Begrifflichkeit und Sprachkultur dafür verbindlich wurden. Was dabei jedoch oftmals übersehen wird, ist, dass der westdeutsche Sprachgebrauch in Bezug auf „den Osten“ vom Kalten Krieg geprägt war. Nirgends kommt dies so deutlich zum Ausdruck wie bei der Verwendung des Wörtchens „Ost“, indem es pejorativ für alles aus der DDR Überkommene oder direkt als Synonym für „DDR“ gebraucht wird.

Im innerdeutschen Verhältnis gilt seit dem 3. Oktober 1990 das Westdeutsche als „das Normale“, als Norm. Das Ostdeutsche hingegen wird als Abweichung von dieser Norm empfunden, als „das Andere“. Der Begriff „westdeutsche Dominanzkultur“ (Ingrid Miethe) bildet diese Situation adäquat ab. Bis heute gibt es im Altbundesgebiet wenig Interesse an Ostdeutschland. Zudem ist im Zeitverlauf ein spürbarer Rückgang in der medialen Wahrnehmung und Beschäftigung mit ostdeutschen Themen zu beobachten. Was jedoch anhält, im hegemonialen Diskurs, auf parteipolitischem und auf wissenschaftlichem Feld sowie in einflussreichen Massenmedien, ist „eine Kodierung Ostdeutschlands und der Ostdeutschen als ‚besonders‘, ‚zurückgeblieben‘, ‚problematisch‘ oder ‚belastend‘“ (Raj Kollmorgen). Damit einher geht eine Tendenz der Pathologisierung Ostdeutschlands, indem alle Besonderheit und Andersartigkeit, wofür wechselweise die DDR-Vergangenheit, der Umbruch 1989/90 oder die Transformation verantwortlich gemacht werden, als „Defizit“, „Beschädigung“, „Versäumnis“ „Krankheit“ oder „Abweichung von der Norm“ interpretiert werden (Thomas Großbölting).

Einen besonderen Platz nimmt hier das Präfix „Ost“ ein, indem es als Ersatzvokabel für die DDR steht oder der stigmatisierenden Bezeichnung ostdeutscher Menschen, Produkte, Sachverhalte und Spezifika dient. Gebrauchte man einst, zwischen 1949 und 1972, Bezeichnungen wie „Ostzone“, „Pankow“ oder „Zone“ als Ersatzworte für DDR, setzte sie in diffamierende Anführungszeichen oder fügte das Wörtchen „sogenannte“ davor, so geht man heute einer korrekten Benennung aus dem Wege, indem man, statt „in der DDR“ zu sagen, Redewendungen wie „damals im Osten“ oder „zu Ost-Zeiten“ verwendet. Auf diese Weise wird die DDR aus dem alltäglichen Sprachgebrauch und schließlich aus der deutschen Geschichte getilgt. Andere Beispiele mit einer abwertenden Diktion sind „Ost-Schule“, „Ost-Abitur“, „Ost-Platte“, „Ost-Schrippe“, „Ost-Klamotten“, „Ost-Partei“ (für PDS beziehungsweise Die Linke), „Ost-Volk“, „Ost-Länder“, „Ost-Milieu“, „Ost-Kultur“, „Ost-Literatur“, „Ost-Fernsehen“, „Ost-Biografie“, „Ost-Auto“ und „Ostler“ (früher „Zoni“ oder „Ost-Zoni“). Alles wahlweise mit oder ohne Bindestrich. Selbst der böse Ausdruck „Ostgesicht“, als „eine unheimliche Mischung aus verschlagen, verkniffen, listig, feige, geduckt, beflissen“ (Fritz J. Raddatz) findet sich neben „Osthaftigkeit“ und „Ostdeutschsein“ als Häme- und Schmähwort im Vokabular von Publizisten und Literaten, wie aus dem Fremdwörterbuch „Die Sprache der Einheit“ hervorgeht. In der Umgangssprache finden zudem Adjektive wie „ostig“, „osthaft“, „ossifiziert“, „ostalgisch“, „ostzonal“ und „verostet“ Verwendung. Es handelt sich dabei um „nachwendische Schmäh- und Sentimentalworte“ (Thomas Ahbe) für eine ostdeutsche Herkunft, für ostdeutsche Kulturgüter oder ostdeutsche Eigenheiten. Sie sind durchweg negativ konnotiert und stehen für Defizitäres und Überwundenes. Oder sie sind einfach Synonyme für die Adjektive marode, veraltet, überholt, abgelebt, verkeimt und verkommen.

Bezeichnend ist aber auch, dass der Gebrauch des Wörtchens „Ost“ im Zeitverlauf einem Wandel unterliegt: Wurde es anfangs fast nur pejorativ eingesetzt, um alles Ostdeutsche und mit der DDR in Verbindung Stehende herabzusetzen, so wird es später auch positiv-wertend verwendet. Bezeichnenderweise aber nur im Osten, was auf ein gestiegenes Selbstbewusstsein der Ostdeutschen schließen lässt. Beispiele hierfür sind Ost-Brötchen, Ost-Kekse, Ost-Pudding, Ost-Brause, Ost-Abitur, Ost-Rock und Ost-Frauen. Auch kann die überraschende Renaissance einiger DDR-Marken, Filme, Bücher und anderer Kultprodukte als Ausdruck einer besonderen Form von Nostalgie gewertet werden, die unter dem Namen „Ostalgie“ firmiert und die sich nach der Ernüchterung infolge des Vereinigungsschocks überall in den östlichen Bundesländern ausgebreitet hat. Im Gegensatz dazu wird das Präfix „Ost“ im Westen nach wie vor negativ und abwertend gebraucht. Vielfach auch, um dem selbst auferlegten Berührungstabu in Bezug auf die DDR, den Sozialismus („Kommunismus“) und die gemeinsame Vergangenheit bis1945 politisch zu genügen. Beispiele dafür, die eindeutig auf den Kalten Krieg zurückgehen, sind die Verwendung der Termini „Ostblock“ und „Ostmark“ in den Medien. Der Begriff „Ostblock“ erscheint auf den ersten Blick eindeutig. Versucht man jedoch zu erfassen, was damit konkret gemeint ist, so stößt man auf große Unklarheiten: In einigen Quellen wird darunter der „Warschauer Vertrag“ verstanden, also ein Militärbündnis, das bis 1991 bestand und dem außer der UdSSR Bulgarien, die CSSR, die DDR, Polen, Rumänien und Ungarn angehörten. Bis 1967 zudem Albanien. Andere Quellen identifizieren den „Ostblock“ mit dem Wirtschaftsverbund „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW respektive COMECON), in dem neben den oben genannten Staaten auch die Mongolei, Kuba und Vietnam vertreten waren. Mitunter wird „Ostblock“ auch mit „Osteuropa“ gleichgesetzt. Und es gibt als Pendant keinen „Westblock“, was auf den ideologischen Ursprung des Begriffes verweist.

Ein weiterer Begriff aus dem Kalten Krieg ist die Bezeichnung „Ostmark“ für die Währung der DDR. Bezeichnenderweise fehlt auch hier das westliche Pendant, die „Westmark“, und wird bei einem Vergleich korrekt von „D-Mark“ gesprochen. Die Gegenüberstellung von „D-Mark“ einerseits und „Ostmark“ andererseits lässt eindeutig auf eine den Osten abwertende Absicht schließen. Gleiches gilt für die Verwendung des Begriffs „Alu-Chips“ oder für die Gegenüberstellung von „Ostgeld“ und „echtem“ oder „richtigem“ (West-)Geld. Da in einer Markt- und Geldwirtschaft wie der bundesdeutschen der Währung eine exponierte Position zukommt, bedeutet die Herabsetzung einer anderen Währung faktisch eine implizite Aufwertung der eigenen. Sie dient also einem doppelten Zweck: dem Kalten Krieg und der Apologetik des eigenen Systems. Dies wird noch unterstrichen, wenn die D-Mark in der Aufzählung „unserer Werte“ einen zentralen Platz erhält und dadurch zusätzlich eine ethische Bewertung und wirtschaftshistorische Mythisierung erfährt.

Die Beibehaltung der durch den Kalten Krieg bestimmten Sprache bis heute und ihre Übertragung auf die neuen Länder haben nicht zu deren Integration und zur Vollendung der deutschen Einheit beigetragen, sondern eher die innere Spaltung Deutschlands konserviert.