24. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2021

Deutsches an der Bismarckstraße und in Neukölln

von Wolfgang Brauer

Bevor die große Hitzewelle die „3. Welle“ ablöste und die City in eine meteorologische Gefahrenzone verwandelte – dennoch wird in Berlin weiter fröhlich „verdichtet“ und unverdrossen ein Baum nach dem anderen abgesäbelt –, öffneten die großen Häuser wieder und lieferten ein vorsommerliches Premierenpaket ab. Die Staatsoper Unter den Linden versuchte sich an einer Rettung von Puccinis „La Fanciulla del West“ (Regie: Lydia Steier) und die Komische Oper verrenkte sich am Versuch, Johann Strauss’ „Der Zigeunerbaron“ eine den aktuellen Ansprüchen der Political correctness genügende Neuinterpretation zu verpassen (Regie: Tobias Kratzer). Kratzer nennt das in jeder Hinsicht ambivalente Stück „Der ‘Zigeuner’baron“. In Anführungszeichen. Damit versucht er, trocken durch den Regen der politisch Gerechten zu kommen. Er hätte sein Produkt „Der ‘Z-Wort’baron“ nennen sollen.

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Die Deutsche Oper Berlin hingegen korrigiert eine pandemiebedingte Misslichkeit. Im Juni vergangenen Jahres wollte im Haus an der Bismarckstraße Stefan Herheim mit „Das Rheingold“ eine Neuinszenierung des kompletten „Rings“ starten. Die legendäre Götz-Friedrich-Inszenierung wurde 2017 abgesetzt. Aus dem furios gedachten Neustart wurde aufgrund des Lockdowns nichts, man begnügte sich mit einer „halbszenischen Spielfassung“, für die sich der Meister wiederum zu schade war. Anstelle Herheims inszenierte Neil Barry Moss auf dem Parkdeck des Hauses einen netten Opernabend, der auch Nicht-Wagnerianern Lust auf den „Ring“ machte. Diese Lust erhielt allerdings im Oktober 2020 einen ersten Dämpfer verpasst, als Herheim statt des „Rheingolds“ den „Ersten Tag“ der Tetralogie, „Die Walküre“, zur Premiere brachte. Jetzt lieferte er den „Vorabend“.

Auf Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ scheint ein Theaterfluch zu liegen. Wagner suchte den Deutschen eine Art neuen National-Mythos zu schneidern und stopfte seine Dichtung derart mit Bedeutung voll, dass die meisten ihm nachfolgenden Regie-Genies das Libretto gleichsam als Gemischtwarenhandelslager betrachteten und betrachten, aus dem man ungestraft die zur jeweils eigenen Interpretation der Weltlage passenden Versatzstücke herausholen darf. Das muss schiefgehen, und das geht meistens schief. Wenn denn die Musik nicht wäre …

Und – das sei gleich gesagt – GMD Sir Donald Runnicles gelingt es, vom tiefen Es-Dur-Akkord des Vorspiels bis hin zum strahlend-verzweifelten Abgang der Rheintöchter am Ende der 4. Szene („Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe: / falsch und feig ist, was dort oben sich freut!“) das Orchester stabil mit einer sehr homogenen artistischen Qualität durch die Wirrnisse der Regie zu führen.

Herheim äußert dazu im Programmheft eine Fülle kluger Gedanken, die philosophische Erstsemester zur Verzweiflung treiben könnten: „Also geht es nicht um eine naive Genügsamkeit, sondern um die Herausforderung, den aktiv fragenden und kreativ gestaltenden Menschen zu reflektieren, bis er die widersprüchlichen Impulse der Liebe heilsam annimmt und nutzt, um Wirklichkeit zu gestalten.“ Das ist hübsch gesagt, trifft nur die Wirklichkeit des „Rheingolds“ nicht.

„Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich […].“ Das ist Marx (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844). Nach dieser Maxime handelt Alberich (Marcus Brück), der Nachtalb, dessen Geilheit die Töchter des Rheins bis zum Kochen aufheizen – gerne verzichtet er auf die Liebe, als er von der Macht des Flussgoldes erfährt: „[…] doch listig erzwäng’ ich mir Lust?“

Die Regie verpasst der 1. Szene die Anmutung einer eigentlich nur peinlichen Swinger-Veranstaltung, in der jede und jeder mit jedem – aber eben nur nicht mit Alberich … Möglicherweise ist es dieses dramaturgische Nirwana, das Brück einigermaßen schwer ins Spiel und zur später großartigen gesanglichen Höhe kommen lässt. Er wird zum eigentlichen Gegenspieler Wotans (Derek Welton). Der Bassbariton bleibt stimmlich erstaunlich blass, auch spielerisch bietet er nur wenig. Da wird er gänzlich von Loge (Thomas Blondelle) untergebuttert, dessen „Mephisto“-Maske à la Gustaf Gründgens in diesem Zusammenhang Sinn macht, aber ansonsten verwundert.

Natürlich verführt die Grundkonstruktion der Dichtung Wagners zu allerlei slapstickhaften Einfällen: Wotan und Gattin Fricka (großartig: Annika Schlicht) führen sich auf wie ein müde gewordenes Ehepaar. Er kann das Fremdgehen nicht sein lassen, sie versucht ihn durch einen ambitionierten Eigenheimbau an sich zu binden. Beide ignorieren ihre finanziellen Möglichkeiten. Wotan kommt stattdessen auf die Idee, den Bauunternehmern „Fasolt & Fafner“ die schöne Schwägerin Freia zu verhökern … Fricka pfeift den Pantoffelhelden zurück – und schon haben er und die Götter den Salat. Nur: Slapstick muss man durchhalten (und können …) oder man lässt es sein. Stefan Herheim wechselt dagegen immer wieder ins Hochdramatische. Und manches Dramatisch-Anspielungsreiche erntet allenfalls ein müdes Schulterzucken. Mimes (mit Wagner-Barrett: Ya-Chung Huan) Tarnhelm entpuppt sich als Stahlhelm. Die fronenden Nibelungen defilieren am Führer Alberich mit „Deutschem Gruß“ vorbei. Das ist albern. Der Hütten-Großunternehmer Alberich hat das nicht nötig – und die Wirkung der groß gedachten Szene wird demoliert. Herheim sollte hier dringend nacharbeiten. Weniger ist manchmal mehr.

Er hat einen hervorragenden Klangkörper, die Sängerinnen und Sänger gehören zu den Besten, die derzeit in Berlin zu sehen und zu hören sind – und die Idee einer weitgehend entmüllten Bühne lässt Raum für ein immer wieder verblüffend wandelbares Bühnenbild. Die Lichtregie (Ulrich Niepel) ist großartig!

Wieder am 25. und 26.6 sowie am 9. und 16.11., jeweils 19.30 Uhr.

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Deutsches wird auch an der Neuköllner Oper verhandelt. Weniger mythologisch. Thomas Zaufke (Musik) und Peter Lund (Text und Regie) spielen im furiosen Musical „Eine Stimme für Deutschland“ die Frage durch, wie die kommenden Wahlen im Worst Case ausgehen könnten. Formal kochen sie auf kleiner Flamme, es geht „nur“ um Bürgermeisterwahlen einer Provinzstadt. Aber die deutschen Sachen wurden immer in der Provinz entschieden, der Berliner Blick trügt. Auf der Bühne jedenfalls stehen in harter Konkurrenz die Grüne Regula Hartmann-Hagenbeck (Veronika de Vries) und die Kandidatin der Neuen Rechten Alina Deutschmann (Joel Zupan).

Auf dem Schulhof fortgesetzt wird der Wahlkampf von den Töchtern der beiden Wahl-küren Sophie (Maria Joachimstaller) und Gerlind (Mascha Volmershausen). Das Ganze eskaliert durch das Auftauchen Alberts (Soufjan Ibrahim), der nur „ein guter Mensch“ sein will. Von Sophie zum Ersatz-Ausländer erklärt – man hat keine „eigenen“ –, wird ihm allerdings von Gerlinds Freund Adolf „Dolfi“ Obermeyer (Fabian Sedlmeir) handgreiflich bedeutet, dass er sich vom Acker zu scheren habe. Jetzt mischen sich Anuk Gritli Hürlimann (Gwen Johansson), Gespielin und Kampfgefährtin Sophies, und die rechte Strippenzieherin Claudia Zweitens (mit verblüffender Wandelbarkeit Clarissa Gundlach) ein. Letztere bestimmt zunehmend das Spiel, ohne dass die anderen so recht bemerken, was da eigentlich abläuft: „ein bißchen gegen links, ein bißchen deutscher Hass …“ Flankiert werden die mit harmlos scheinenden Melodien untersetzten, teilweise sehr bösartigen Couplets mit fantastischen Tanzszenen (die Zusammenfassung nach der Pause war allerdings recht hilfloses Gehampel). Die Solisten sind übrigens allesamt Studentinnen und Studenten des Studienganges Musical / Show der Berliner Universität der Künste. Die Professur dort hat – ein Glücksfall! – Peter Lund inne.

Der Wahlkampf jedenfalls spitzt sich zu. Wie im wirklichen Leben – Lund ist ein hervorragender Beobachter – werden (fast) alle Register gezogen. Das Ende ist vorhersehbar, auch wenn eine ziemlich konstruierte Familiengeschichte noch für fast unauflösbare Verwirrungen sorgt. Musical darf das. Eine schöne Vision zeichnen die Theatermacher mit der plötzlichen, die „Kinder-Generation“ schüttelnden Erkenntnis „Alles Lüge, jedes Wort, jeder Blick …“, das die in einem eindrucksvollen Rondo reflektiert. Alles geht auf das musical-typische Happy End zu, aber wir sind in der Neuköllner Oper …

Der Schluss hat Gemeinsames mit der Untergangsvision des Wagnerschen „Ringes“. Dessen Alternativlosigkeit fehlt der „Stimme für Deutschland“ allerdings. Aber sie ist ein sehr ernst zu nehmender Warnschrei.

Wieder am 24.–26.6., 1.–3.7., 9.–11.7., 13.–18.7., 21.7. und 23.–25.7., jeweils 20.00 Uhr.